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Loe raamatut: «Namenlos», lehekülg 28

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XI
Magdalene an Hauptmann Wragge

Vauxhallpromenade den 17. Juli.

Wenn ich nicht irre, war es abgeredet, daß ich Ihnen nach Birmingham schreiben sollte, sobald ich mich ruhig genug fühlte, an die Zukunft denken zu können. Mein Gemüth ist endlich wieder gefaßt, und ich bin nunmehr im Stande, die Dienste anzunehmen, welche Sie mir ohne Rückhalt ungetragen haben.

Ich bitte Sie, mir wegen der Art und Weise zu verzeihen, wie ich Sie bei Ihrer Ankunft in diesem Hause, als Sie die Nachricht von meinem plötzlichen Unwohlsein erhalten hatten, empfangen habe. Ich war völlig außer Stande, mich selbst zu beherrschen, ich litt unter einem Seelenschmerz, welcher mich für jene Zeit des Gebrauchs meiner Sinne beraubte. Es ist nun meine Schuldigkeit, Ihnen zu danken für die große Schonung, mit der Sie mich zu einer Zeit behandelten, wo Schonung für mich eine unendliche Gunst war.

Ich will Ihnen nun so deutlich und so kurz, als ich kann, angeben, welche Dienste mir leisten sollen.

In erster Linie ersuche ich Sie – so geheim als möglich – alle und jede Stücke meines in der dramatischen Unterhaltung gebrauchten Costüms zu veräußern. Ich habe diese Unterhaltung für ewige Zeit aufgegeben und wünsche frei und ledig zu sein aller Dinge, die mich zufällig künftighin daran erinneren könnten. Der Schlüsse! zu meinem Koffer ist diesem Briefe beigegeben.

Den andern Koffer, der meine eigenen Kleider enthält, werden Sie so gut sein mir hierher zu schicken. Ich bitte Sie nicht, mir ihn selbst mitzubringen, da ich Ihnen einen weit wichtigeren Auftrag zu geben habe.

Nach der Mittheilung, die Sie bei Ihrer Abreise für mich hinterließen, schließe ich, daß Sie während dieser Zeit Mr. Noël Vanstone von der Vauxhallpromenade bis zu seinem jetzigen Aufenthaltsorte verfolgt haben. Wenn Sie letzteren entdeckt haben und Sie ganz sicher sind, dabei weder Mrs. Lecounts noch ihres Herrn Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, so wünsche ich, daß Sie mir sofort eine Wohnung in derselben Stadt oder Ortschaft, in der Mr. Noël Vanstone seinen Aufenthalt genommen hat, zugleich für Sie und Mrs. Wragge besorgen. Ich schreibe Dies, wie wohl kaum erst nöthig zu bemerken ist, in der Annahme, daß, wo er auch immer jetzt verweilen mag, er sich einige Zeit daselbst aufhalten werde.

Wenn Sie für mich unter diesen Bedingungen ein kleines meublirtes Haus, das monatlich zu vermiethen ist, ausfindig machen können, so nehmen Sie es zunächst auf einen Monat. Sagen Sie, daß es für Ihre Frau, Ihre Nichte und Sie selbst ist, und bedienen Sie sich, wenn Sie wollen, irgend eines angenommenen Namens, sofern es ein solcher ist, welcher der argwöhnischsten Nachforschungen spotten kann. Ich überlasse dies Ihrer Erfahrung in solchen Dingen. Das Gehimniß, wer wir eigentlich sind, muß so ängstlich bewahrt werden, als hinge davon unser Leben ab.

Alle Auslagen, zu denen Sie bei der Ausführung meiner Wünsche veranlaßt werden könnten, werde ich Ihnen sofort zurückerstatten. Wenn Sie nur ein Haus der Art, wie ich es brauche, finden, dann ist es auch nicht nöthig, nach London zurückzukehren, um uns abzuholen. Wir können zu Ihnen kommen, sobald wir wissen, wohin wir uns wenden sollen. Das Haus muß ganz anständig sein und Mr. Noël Vanstones gegenwärtiger Wohnung, wo sie auch sein möge, wohlweislich so nahe als möglich liegen.

Sie müssen mir schon erlauben, in diesem Briefe über den Plan schweigen zu dürfen, den ich im Sinne habe. Ich möchte eine Erklärung bei Leibe nicht dem Papier anvertrauen. Wenn alle unsere Vorbereitungen fertig sind, sollen Sie aus meinem Munde hören, was Sie für mich thun sollen, und ich erwarte, daß Sie mir offen und frei sagen, ob Sie mir unter den günstigsten Bedingungen, die ich Ihnen gewähren kann, Beistand leisten wollen, wie ich ihn brauche.

Noch ein Wort, ehe ich diesen Brief zusiegele.

Wenn sich Ihnen, sobald Sie das Haus gemiethet haben und ehe wir uns wiedersehen, eine passende Gelegenheit bietet, mit Mr. Noël Vanstone oder Mrs. Lecount ein paar höfliche Worte zu wechseln, so machen Sie sich Das zu nutze. Es ist für meinen gegenwärtigen Plan von äußerster Wichtigkeit, daß wir mit einander bekannt werden, und Dies als das rein zufällige Ergebniß unserer nahen Nachbarschaft erscheine. Ich möchte, daß Sie wo möglich, noch ehe wir, Mrs. Wragge und ich, zu Ihnen kommen, den Weg zu diesem Endziele anbahnten. Ich bitte Sie auch, keine Gelegenheit zu verabsäumen, insbesondere Mrs. Lecount mit äußerster Aufmerksamkeit zu beobachten. Die Dienste, welche Sie mir von vornherein dadurch leisten können, daß Sie der scharfblickenden Frau eine Binde vor die Augen zu legen wissen, werden die werthvollste Hilfe sein, die Sie mir bis jetzt geleistet haben.

Es ist nicht nöthig, diesen Brief umgehend zu beantworten, vorausgesetzt, daß ich ihn nicht unter einer irrigen Annahme betreffs Dessen, was Sie seit Ihrer Abreise von London ausgerichtet haben, geschrieben habe. Ich habe unsere Wohnung noch für eine Woche länger behalten und kann also hier so lange auf Nachrichten von Ihnen warten, bis Sie mir die erwünschten Mittheilungen machen können. Sie können sich künftig unter allen möglichen Umständen vollständig auf meine Geduld. verlassen. Meine Launen sind zu Ende, und meine heftige Gemüthsart soll Ihre Nachsicht zum letzten Male auf die Probe gestellt haben. Magdalene.

XII
Hauptmann Wragge an Magdalene

Aldborough in Suffolk, Nordstein-Villa,
den 22. Juli.
Mein liebes Kind!

Ihr Brief hat mich entzückt und gerührt. Ihre Entschuldigungen haben den geraden Weg zu meinem Herzen gefunden, Dasselbe gilt von Ihrem Vertrauen auf meine geringen Fähigkeiten. Das Herz des alten Milizsoldaten schlägt stolz bei dem Gedanken an das Vertrauen, das Sie in ihn gesetzt haben, und thut das Gelübde, es auch zu verdienen. Dieser Gefühlsausbruch möge Sie nicht überraschen. Alle begeisterten Naturen müssen gelegentlich sich Luft machen, und meine Form des Ausbruchs sind Worte.

Alles was Sie von mir verlangten, ist geschehen. Das Haus ist gemiethet, der Name gefunden, und ich bin persönlich bekannt mit Mrs. Lecount. Wenn Sie diese allgemeine Uebersicht meiner Leistungen gelesen, werden Sie natürlich neugierig sein, die näheren Umstände in Erfahrung zu bringen. Nachstehend folgen sie, ganz wie Sie wünschen.

Den Tag, nachdem ich Sie in London verlassen hatte, spürte ich Mr. Noël Vanstone bis zu diesem kleinen heimischen Neste an der See nach. Einer von seines Vaters unzähligen Ankäufen, war ein Haus zu Aldborough, einem in Aufnahme kommenden Seebade, sonst hätte Mr. Michael Vanstone keinen Groschen dafür gegeben. In diesem Hause wohnt nun der verächtliche kleine Geizhals, der in London umsonst wohnte, jetzt abermals umsonst au der Küste von Suffolk. Er hat sich in seiner kleinen Wohnung für den Sommer und den Herbst eingerichtet, und Sie und Mrs. Wragge brauchen nur her zu mir zu kommen, um fünf Thüren weit von ihm in dieser feinen Villa zu wohnen. Ich habe das ganze Haus für wöchentlich drei Guineen bekommen, und es steht in unserm Belieben, auch noch den Herbst für denselben Preis darin zu bleiben. An einem Modebadeorte würde eine solche Wohnung sogar für das Doppelte dieser Summe noch wohlfeil sein.

Unser neuer Name ist mit sorgfältiger Beachtung Ihrer Winke ausgesucht worden. Meine Bücher – ich hoffe doch, Sie haben meine Bücher nicht vergessen? – enthalten unter dem Titel

»Menschenhäute zum Anziehen«

ein Verzeichniß von Personen, welche den irdischen Schauplatz ihres Wirkens verlassen haben und mit deren Namen, Familien und näheren Verhältnissen ich ganz vertraut bin. Einige dieser »Menschenhäute« habe ich selbst bei der Ausübung meines Berufes in früheren Perioden meiner Laufbahn »anziehen« müssen. Andere sind noch so gut als neue Anzüge und bleiben zum Gebrauche. Die »Haut«, welche ganz und gar für uns paßt, bekleidete ursprünglich die Leiber einer Familie mit Namen Bygrave. Ich stecke gegenwärtig in Mr. Bygraves Haut, und sie paßt mir wie angegossen. Wenn Sie so gut sein wollen, in Miss Bygrave (Taufname Susanne) zu schlüpfen, und wenn Sie nachher Mrs. Wragge – auf irgend eine Art, mit dem Kopfe vornweg, wenn Sie wollen – in Mrs. Bygrave (Taufname Julie) stecken wollen, so wird die Verwandlung vollständig sein. Erlauben Sie mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich Ihr Onkel von väterlicher Seite bin. Mein würdiger Bruder hatte vor zwanzig Jahren in Belize auf Honduras einen Mahagony- und Campescheholzhandel. Er starb an jenem Orte und liegt auf der Südwestseite des dortigen Kirchhofs unter einem zierlichen Denkmal von dortigem Holz, geschnitzt von einem Naturkünstler, einem Neger, begraben. Neunzehn Monate später starb seine Frau in einer Pension zu Cheltenham an Schlagfluß. Sie galt für die wohlbeleibteste Frau in England und war im Erdgeschoß des Hauses untergebracht in Folge der Schwierigkeit, sie die Treppe hinauf und herunter zu schaffen. Sie sind deren einziges Kind. Sie sind seit dem Trauerfalle zu Cheltenham unter meiner Obhut gewesen; Sie sind den nächsten zweiten August zwanzig Jahre alt und, die Stärke abgerechnet, das leibhaftige Ebenbild Ihrer Mutter. Ich behellige Sie mit diesen Proben meiner vertrauten Kenntniß Ihrer neuen irdischen Familienhülle, um Ihren Geist betreffs künftiger Nachfragen zu beruhigen. Vertrauen Sie mir und meinen Büchern, es ist für jede Nachfrage gesorgt. Zur selbigen Zeit schreiben Sie sich unsern neuen Namen nebst Adresse auf und sehen Sie zu, wie Sie Ihnen zusagen:

Mr. Bygrave, Mrs. Bygrave, Miss Bygrave,
Nordstein-Villa,
Aldborough

Bei meinem Leben, es liest sich merkwürdig gut!

Die letzte Einzelheit, die ich Ihnen zu geben habe, bezieht sich aus meine Bekanntschaft mit Mrs. Lecount.

Wir kamen gestern in dem Kräutergewölbe hier zusammen. Da ich meine Ohren spitzte, hörte ich, daß Mrs. Lecount eine besondere Art Thee haben wollte, welche der Mann nicht hatte und welche, wie er glaubte, erst in Ipswich zu schaffen war. Ich ersah mir augenblicklich diese Gelegenheit, um eine Bekanntschaft anzuknüpfen für die geringfügigen Kosten einer Reise nach jener blühenden Stadt.

– Ich habe heute in Ipswich zu thun, sagte ich, und denke diesen Abend wieder zurück zu sein (wenn ich noch zur rechten Zeit zurück kann). Ich bitte, mir zu erlauben, Ihren Auftrag wegen des Thees zu übernehmen und ihn mit meinem eigenen Gepäck zurückzubringen.

Mrs. Lecount weigerte sich höflich, mir diese Mühe zu verursachen – ich beharrte aber höflich dabei, solche zu übernehmen. Wir kamen ins Gespräch. Es ist nicht nöthig, Sie noch mit unserm Geplauder zu behelligen. Das Ergebniß desselben ist, daß Mrs. Lecounts schwache Seite, wenn sie eine solche überhaupt hat, ihr Geschmack an wissenschaftlichen: Forschungen ist, den ihr verstorbener Gatte, der Professor, ihr beigebracht hatte. Ich denke wohl, hier eine Aussicht vor mir zu haben, wie ich mich bei ihr in Gunst setzen und ihr, wie nothwendig, ein wenig Sand in ihre hübschen schwarzen Augen streuen kann. Auf Grund dieser Annahme kaufte ich mir denn auch, sobald ich den Thee zu Ipswich für die Dame gekauft hatte, für mich jenen berühmten Taschenleitfaden der Wissenschaft »Joyces Wissenschaftliche Gespräche«. Im Besitze eines raschen Gedächtnisses und eines unbegrenzten Selbstvertrauens habe ich nunmehr vor, meine irdische Hülle mit soviel schlagfertiger Wissenschaft anzufüllen, als sie nur fassen kann, und Mr. Bygrave Mrs. Lecount in der Rolle des bestunterrichtetsten Mannes, den sie nach des Professors Tode kennen gelernt, vorzuführen. Die Notwendigkeit, jener Frau eine Binde vor die Augen zu legen (um Ihren vortrefflichen Ausdruck zu gebrauchen), ist mir so klar wie Ihnen. Wenn es auf die von mir beabsichtigte Art und Weise geschehen kann, so beruhigen Sie sich: Wragge, angefüllt mit der Weisheit eines Joyce, ist der Mann dann es zu vollbringen.

Sie haben nun meinen ganzen Neuigkeitenschatz. Bin ich Ihres Vertrauens würdig oder nicht? Ich sage Nichts von der mich verzehrenden Begierde zu wissen, welches Ihre Absichten eigentlich sind; die Begierde wird ja befriedigt werden, sobald wir uns treffen. Noch niemals habe ich, mein theures Kind, so darnach verlangt, eine ergiebige Ausquetschung an einem menschlichen Wesen zu vollbringen. Ich sage Nichts weiter. Verbum sap.13 Verzeihen Sie das Schulmeisterische einer lateinischen Anführung und halten Sie mich für

Ihren

ganz und gar ergebenen

Horatio Wragge.

NS. Ich warte meine Weisungen ab, wie Sie es wünschten. Sie haben nur zu bestimmen, ob ich zu dem Zwecke, Sie hierher zu geleiten, nach London kommen oder Sie hier erwarten und empfangen soll. Das Haus ist vollkommen in Bereitschaft, das Wetter reizend und die See so glatt als Mrs. Lecounts Schürze. Eben ist sie am Fenster vorübergegangen und wir haben uns gegenseitig zugenickt Ein scharfblickendes Weib, liebe Magdalene, aber Joyce und ich zusammen, wir werden wohl um eine Kleinigkeit selbigem überlegen sein.

XIII
Aus dem EAST SUFFOLK ARGUS

Aldborough. Wir erwähnen mit Vergnügen die Ankunft von Gästen in diesem gesunden und berühmten Badeorte, welche in der gegenwärtigen Saison zeitiger erfolgt, als gewöhnlich. Esto perpetua14 ist Alles, was wir zu sagen haben.

Fremdenliste – Angekommen seit der letzten Liste: Nordstein-Villa: Mrs. Bygrave, Miss Bygrave.

Siebentes Buch
Zu Aldborough in Suffolk

Erstes Capitel

Die auffallendste Erscheinung, welche sich dem Fremden an den Küsten von Suffolk darbietet, ist die außerordentliche Schutzlosigkeit des Landes gegen die Verwüstungen der See.

In Aldborough sind die Ueberlieferungen des Orts wie anderwärts an dieser Küste meistentheils solche, welche buchstäblich sich in dunkler Meerestiefe verlieren. Die Lage der alten Stadt, einst ein lebhafter und blühender Hafenplatz, ist fast ganz in der See verschwunden. Die Nordsee hat Straßen, Marktplätze, Dämme und Promenaden hinweggeschwemmt, und die unbarmherzigen Wogen schlossen sich zur Vollendung ihres Zerstörungswerkes vor nicht länger als achtzig Jahren über dem Häuschen des Salzmeisters zu Aldborough, welches jetzt nur noch in der Erinnerung lebt als die Geburtsstätte des Dichters Crabbe.

Jahr für Jahr mehr zurückgedrängt von den vorrückenden Wogen, haben sich die Einwohner im gegenwärtigen Jahrhundert auf das letzte Stück Land zurückgezogen, welches fest genug ist, um angebaut werden zu können, ein Streifen Boden, welcher eingedämmt liegt zwischen einer Marsch auf der einen und dem Meere auf der andern Seite. Hier hat die Bevölkerung von Aldborough die Sicherheit ihrer Zukunft einigen Sandhügeln anvertraut, welche die Laune der Wellen aufgeworfen hat, wie um ihnen Muth zu machen, und kühnlich ihren netten kleinen Badeort errichtet. Das erste Stück ihrer Besitzungen von Land ist ein niedriger, natürlicher Damm von Kieselsteinen, über welchen ein öffentlicher Spaziergang liegt und gleichlaufend mit der See sich erstreckt. Diesen Spaziergang begrenzen in oft unterbrochener und ungleicher Linie die Sommerwohnungen des heutigen Aldborough, romantische kleine Häuser, die meistens in ihren eigenen Gärten stehen und hier und da als Gartenzier starrende Schiffsbilder haben, welche die Stelle von Bildsäulen unter den Blumen vertreten.

Von dem niederen Standort dieser Villen aus gesehen erscheint das Meer bei gewissen Zuständen der Luft höher als das Land, Küstenschiffe, die da heran segeln, nehmen riesige Verhältnisse an und sehen beunruhigend für die Fenster aus. Mit diesen kostbaren Häusern sind aber auch Gebäude von anderer Gestalt und Geschichte vermischt. Nach der einen Seite zu steht das kleine Rathaus des alten Aldborough, damals der Mittelpunct des verschwundenen Hafens und Fleckens, jetzt gegenüber den modernen Villen hart am Rande des Meeres. An einem andern Puncte erhebt sich ein hölzerner Wachthurm, gekrönt auf seinen Zinnen mit dem Schiffsbilde eines zerschellten russischen Schiffes, hoch über die benachbarten Häuser, und durch sein Gitterfenster kann man ernste Männer in dunkler Tracht im höchsten Stockwerk sitzen sehen, welche beständig Wache halten – die Piloten von Aldborough, welche von ihrem Thurme nach Schiffen spähen, die ihrer Hilfe bedürftig sind. Hinter der so bunt zusammengewürfelten Reihe Häuser läuft die einzige unregelmäßige Straße der Stadt mit ihren festen Lootsenhäusern, ihren baufälligen Schiffsniederlagen und den daran hängenden Verkaufsläden. Nach dem Nordende zu ist die Straße durch die einzige Bodenerhebung begrenzt, die über die ganze Marschlandfläche sichtbar ist, ein niedriger bewaldeter Hügel, auf dem die Kirche erbaut ist. Am entgegengesetzten Ende führt die Straße zu einem öden Martellothurm und zu der verlassenen abgelegenen Vorstadt Slaughden zwischen dem Flusse Alden und dem Meere. Dies sind die Hauptmerkmale dieses interessanten kleinen Vorpostens der Küsten von England, wie er sich in gegenwärtiger Zeit den Blicken darstellt.

An einem heißen und wolkenumzogenen Julinachmittage, als am zweiten Tage, der verflossen war, seit er an Magdalene geschrieben hatte, schlenderte Hauptmann Wragge durch das Thor der Nordstein-Villa,15 um die Ankunft der Kutsche abzuwarten, welche damals Aldborough mit der Ostbahn (Eastern Countries Railway) verband. Er kam gerade an den ersten Gasthof im Orte, als die Kutsche anlangte, und stand an der Thür bereit, um Magdalene und Mrs. Wragge zu empfangen, als sie aus dem Wagen stiegen.

Die Art und Weise, wie Hauptmann Wragge seine Frau empfing, zeichnete sich durchaus nicht aus durch einen unnöthigen Aufwand Von Zeit. Er schaute mißtrauisch nach ihren Schuhen, erhob sich auf die Zehen und setzte ihren Hut mit scharfem Ruck zurecht, sagte ihr in lautem Flüstern: »Halt Deinen Mund!« und nahm während der ganzen Zeit keine Notiz von ihr. Sein Willkommen für Magdalene, welcher mit dem gewöhnlichen Wortschwall anhob, stockte plötzlich mitten in seinem ersten Satze. Hauptmann Wragges Auge war ein scharfblickendes, und er fand sofort in Blick und Wesen seines früheren Pfleglings Etwas heraus, das eine tiefe Veränderung anzeigte.

Es lag eine tiefe Ruhe auf ihrem Gesichte, welche, außer wenn sie sprach, dasselbe so todt und kalt wie Marmor erscheinen ließ. Ihre Stimme war sanfter und gleichmäßiger, ihr Auge ruhiger, ihr Gang langsamer geworden als sonst. Wenn sie lächelte, so kam und ging Dies plötzlich und zeigte ein kleines nervöses Zucken an dem einen Mundwinkel, was vorher nie zu bemerken gewesen war. Sie hatte die größte Geduld mit Mrs. Wragge, sie behandelte den Hauptmann mit einer ihm an ihr ganz neu vorkommenden Artigkeit und Achtung, aber sie war theilnahmslos gegen Alles. Die merkwürdigen kleinen Läden in den hinteren Straßen, die mächtig hereinragende See, das alte Rathaus dicht am Ufer, die Lootsen, die Fischer, die vorübersegelnden Schiffe: all diese Gegenstände betrachtete sie so gleichgültig, als wenn Aldborough ihr von ihrer Kindheit auf vertraut gewesen wäre. Sogar als der Hauptmann das Gartenthor der Nordstein-Villa öffnete und sie mit stolzer Freude in das neue Haus einführte, sah sie es kaum mit einem Auge an. Die erste Frage, die sie that, bezog sich nicht auf ihre Wohnung, sondern auf die Noël Vanstone’s.

– Wie weit wohnt er von uns? fragte sie mit dem einzig wahrnehmbaren Zeichen von Bewegung, das ihr bisher entschlüpft war.

Hauptmann Wragge antwortete dadurch, daß er auf das fünfte Haus von der Nordstein-Villa auf der Seite Aldboroughs, die nach Slaughden zu lag, zeigte. Magdalene wandte sich sofort von dem Gartenthore ab, als er die Lage angab, und ging vor sich hin weiter vor, um sich das Haus näher anzusehen.

Hauptmann Wragge sah ihr nach und schüttelte bedenklich mit dem Kopfe.

– Der Teufel halte mir den Herrn im Hintergrunde zurück, dachte er bei sich. Sie hat seinen Verlust noch immer nicht verschmerzt.

– Darf ich nun sprechen? fragte eine furchtsame Stimme hinter ihm, welche sich demüthig von zehn Zoll oberhalb des Gipfels seines Strohhutes vernehmen ließ.

Der Hauptmann drehte sich um und stand seiner Frau gegenüber. Die mehr als gewöhnliche Verwirrung in ihrem Gesichte machte es ihm augenblicklich klar, daß Magdalene seine brieflichen Anweisungen nicht ausgeführt hatte und daß Mrs. Wragge in Aldborough angekommen war, ohne vollkommen unterrichtet zu sein von der gänzlichen Umwandlung, welche mit ihrer Person und ihrem Namen vor sich gehen sollte. Die Notwendigkeit, diesen Zweifel zu beseitigen, war zu offenbar, als daß hier zu spaßen war, und Hauptmann Wragge stellte, ohne einen Augenblick zu zögern, das nöthige Verhör an.

– Steh gerade und höre mich an, begann er. Ich habe eine Frage an Dich zu richten; Weißt Du, in wessen Haut Du in diesem Augenblicke, steckst? Weißt Du, daß Du todt und begraben bist in London und daß Du Dich wie ein Phönix aus der Asche der Mrs. Wragge erhoben hast? Nein! Du weißt es augenscheinlich nicht. Das ist äußerst unangenehm. Wie ist Dein Name?

– Mathilde, antwortete Mrs. Wragge in einem Zustande grenzenlosen Erstaunens.

– Weit gefehlt! schrie der Hauptmann grimmig. Wie kannst Du Dich unterstehen, mir zu sagen, daß Dein Name Mathilde ist? Dein Name ist Julie. Wer bin ich? Halte den Korb mit belegten Brödchen gerade, sonst werfe ich ihn ins Meer! Wer bin ich?

– Ich weiß es nicht, sagte Mrs. Wragge, indem sie dies Mal eingeschüchtert die negative Seite der Frage als rettenden Strohhalm aufgriff.

– Setz Dich nieder! sagte ihr Gatte, indem er auf die niedere Gartenmauer der Nordstein-Villa hinwies. Mehr rechts! Noch mehr! So ists recht. Du weißt es also nicht? wiederholte der Hauptmann indem er seine Frau streng ins Auge faßte, sobald er es dahin gebracht, daß sie saß und ihr Gesicht auf eine Höhe mit dem seinigen gesenkt hatte. Laß mich das nicht zum zweiten Male hören. Laß mich nicht ein Weib auf dem Halse haben, das nicht weiß, wer ich bin, und das mich doch morgen früh rasiren soll. Sieh mich an! Mehr links, noch mehr, so ists recht. Wer bin ich? Ich bin Mr. Bygrave – mit dem Vornamen Thomas. Wer bist Du? Du bist Mrs. Bygrave – Vorname Julie Wer ist die junge Dame, die mit Dir von London her reiste? Jene junge Dame ist Miss Bygrave – Vorname: Susanne Ich bin ihr gescheidter Onkel Tom, und Du bist ihre hohlköpfige Tante Julie. Sage es mir den Augenblick noch einmal vor wie den Katechismus! Wie ist Dein Name? – Schone meinen armen Kopf! jammerte Mrs. Wragge. Ach bitte, schone meinen armen Kopf, bis ich den Postwagen überstanden habe.

– Lassen Sie sie in Ruhe, sagte Magdalene, welche in diesem Augenblicke zu ihnen trat. Sie wird es schon mit der Zeit lernen. Kommen Sie ins Haus.

Hauptmann Wragge schüttelte seinen schlauen Kopf noch ein Mal.

– Das ist ein schlechter Anfang, sagte er weniger höflich als sonst. Uns steht dies Mal schon die Dummheit meiner Frau im Wege.

Sie gingen ins Haus. Magdalene war vollkommen zufrieden mit den vom Hauptmann getroffenen Einrichtungen. Sie nahm das für sie in Bereitschaft gehaltene Zimmer an, hatte auch Nichts gegen das Dienstmädchen, das angenommen war, fand sich zur Theestunde den Augenblick, wo sie gerufen wurde, ein; allein sie zeigte nicht die Spur von Theilnahme an dem neuen Aufenthaltsorte um sie her. Bald nachdem die Tafel abgeräumt worden und obschon das Tageslicht noch nicht verschwunden war, kam die gewöhnliche Ermüdung nach Anstrengungen jeder Art über Mrs. Wragge, und sie erhielt den Befehl von ihrem Manne, das Zimmer zu verlassen, wobei er nicht vergaß, ihr einzuschärfen, die Schuhe nicht überzutreten – und sich – aber ganz ausdrücklich in der Rolle von Mrs. Bygrave – zu Bette zu begeben. Sobald sie allein waren, sah der Hauptmann Magdalenen scharf an und wartete darauf, daß sie ihn anredete. Sie sagte Nichts. Er suchte dann die Unterhaltung durch eine höfliche Frage über den Stand ihrer Gesundheit zu eröffnen.

– Sie sehen ermüdet aus, bemerkte er in seinem einschmeichelndsten Tone. Ich fürchte, die Reise ist zu anstrengend für Sie gewesen.

– Nein, versetzte sie und sah mit vollkommener Gleichgültigkeit zum Fenster hinaus, – ich bin nicht mehr erschöpft, als gewöhnlich. Ich sehe immer matt, aus, matt, wenn ich zu Bette gehe, matt, wenn ich aufstehe. Wenn Sie noch heute Abend hören wollen, was ich Ihnen zu sagen habe, so bin ich gern bereit, es Ihnen zu sagen. Können wir nicht ausgehen? Es ist sehr heiß hier, und das Summen jener Menschenstimmen ist nicht zum Aushalten.

Sie zeigte durchs Fenster auf eine Gruppe Bootsleute, welche müßig, wie nur Theerjacken müßig sein können, sich an der Gartenmauer herumtrieb.

– Giebt es keine ruhige Promenade an diesem armseligen Orte? fragte sie ungeduldig. Können wir nicht ein wenig frische Luft schöpfen und der Belästigung durch fremde Gesichter entgehen?

– Es ist vollkommen still, wenn wir eine halbe Stunde weit vom Hause weggehen, erwiderte der immer schlagfertige Hauptmann.

– Sehr gut. Kommen Sie also mit fort.

Mit einem matten Seufzer nahm sie ihren Strohhut und ihren leichten Musselinüberwurf von dem Seitentischchen, auf welches sie dieselben beim Hereintreten geworfen hatte. Hauptmann Wragge folgte ihr zum Gartenthore, blieb aber dann stehen, wie von einem neuen Gedanken ergriffen.

– Entschuldigen Sie, flüsterte er vertraulich. Bei dem gegenwärtigen Zustande der Unwissenheit meiner Frau thun wir wohl nicht gut, sie so ohne Weiteres mit dem neuen Dienstmädchen allein im Hause zu lassen. Ich will sie insgeheim einschließen, für den Falls, daß sie aufwacht, ehe wir zurückkommen »Besser bewahrt, als beklagt«16 – Sie kennen ja den Spruch! Ich werde in einem Augenblicke wieder bei Ihnen sein.

Er eilte ins Haus zurück, und Magdalene setzte sich auf die Gartenmauer, um seine Rückkehr abzuwarten.

Sie hatte kaum diese Stellung angenommen, als zwei mit einander gehende Herren, deren Näherkommen auf der Landstraße sie vorher nicht bemerkt hatte, dicht an ihr vorüberkamen.

Die Tracht des einen der beiden Fremden zeigte an, daß er ein Geistlicher war. Die Lebensstellung seines Gefährten dagegen war für einen gewöhnlichen Beobachter nicht eben leicht zu unterscheiden. Geübte Augen würden wahrscheinlich an seinem Aussehen, seinem Auftreten und seinem Gange zur Genüge erkannt haben, daß er ein Seemann war. Er war ein Mann in der Vollkraft des Lebens, groß gewachsen, mager und muskulös, sein Gesicht zu einem tiefen Braun verbrannt, sein schwarzes Haar eben erst ins Graue spielend, seine Augen dunkel, tief und fest, die Augen eines Mannes von eiserner Entschlossenheit, gewohnt zu befehlen. Von den Beiden war er Magdalenen der Nächste, als er und sein Freund an der Stelle vorübergingen, wo sie saß, und er sah sie auf einmal betroffen über ihre Schönheit mit offener, herzlicher und unverstellter Bewunderung an, die zu aufrichtig war und ersichtlich zu unwillkürlich bei ihm zur Erscheinung kam, als daß man sie hätte für unverschämt halten können, – und doch hielt sie Magdalene in ihrer augenblicklichen Stimmung dafür. Sie fühlte, wie des Mannes entschlossene schwarze Augen plötzlich wie Blitzstrahlen auf sie fielen, warf ihm einen finsteren Blick zu, wandte das Haupt weg und sah nach dem Hause hinter sich.

Den nächsten Augenblick blickte sie sich wieder um, um zu sehen, ob er gegangen wäre. Er war allerdings ein paar Schritte vorwärts gegangen, dann offenbar stehen geblieben und machte nun dieselbe Bewegung wie sie, um sie noch ein Mal anzusehen. Sein Gefährte, der Geistliche, bemerkte, daß Magdalene dem Anscheine nach verletzt war, nahm ihn daher vertraulich beim Arme und zwang ihn halb im Scherz, halb im Ernste mit fortzugehen. Beide verschwanden um die Ecke des nächsten Hauses. Als sie darum bogen, hielt der sonnverbrannte Seemann erst noch zwei Mal seinen Gefährten an und schaute noch zwei Mal zurück.

– Ein Freund von Ihnen? fragte Hauptmann Wragge, der eben zu Magdalenen trat.

– Durchaus nicht, erwiderte sie, ein ganz fremder Mensch. Er sah mich mit der unverschämtesten Art an. Ist er aus dem Orte?

– Ich werde es augenblicklich herausbekommen, sagte der gefällige Hauptmann, machte sich an die Gruppe Bootsleute und richtete seine Fragen rechts und links mit der leichten Vertraulichkeit, die ihm trefflich eigen war.

Er kam in wenig Minuten mit einem ganzen Schatz von Ermittelungen zurück. Der Geistliche war wohlbekannt als der Pfarrer eines wenige Meilen landeinwärts gelegenen Ortes. Der dunkle Mann bei ihm war der Bruder seiner Frau, Capitän eines Handelsschiffes. Er blieb, glaubte man, als Gast nur auf kurze Zeit bei seinen Verwandten, indem er sich auf eine neue Reise vorbereitete. Der Name des Geistlichen war Strickland, und der Capitän hieß Kirke, das war Alles, was die Bootsleute über Beide zu sagen wußten.

– Es ist einerlei, wer sie sind, warf Magdalene hin. Die Ungebildetheit des Mannes verletzte mich einen Augenblick. Wir sind nun fertig mit ihm. Ich habe an etwas Anderes zu denken, und Sie ebenfalls. Wo ist die einsame Promenade, welche Sie eben erwähnten? Welchen Weg schlagen wir ein?

Der Hauptmann zeigte nach Mittag auf Slaughden hin und bot seinen Arm an.

Magdalene zögerte, ehe sie ihn nahm. Ihre Augen wanderten forschend nach Noël Vanstones Hause hin. Er war im Garten draußen und schritt auf dem kleinen Rasenecke hin und her, das Haupt hoch emporgerichtet, und Mrs. Lecount bediente ihn feierlich, mit ihres Herrn grünem Fächer in der Hand. Als Magdalene Dies sah, nahm sie sofort des Hauptmanns rechten Arm, um so recht nahe an den Garten zu kommen, wenn sie aus ihrem Wege daran vorüber gingen.

– Die Augen unserer Nachbarn sind auf uns gerichtet, und das Geringste, das Ihre Nichte thun kann, ist Ihren Arm nehmen, sagte sie mit bitterem Lachen. Kommen Sie! Lassen Sie uns vorwärts gehen!

– Sie sehen her, flüsterte der Hauptmann. Soll ich Sie Mrs. Lecount vorstellen?

– Heute Abend nicht, antwortete sie. Warten Sie und hören Sie erst, was ich Ihnen zunächst zu sagen habe.

Sie kamen an der Gartenmauer Vorüber. Hauptmann Wragge nahm seinen Hut mit einem pfiffigen Schwenken ab und erhielt von Mrs. Lecount eine anmuthige Verbeugung zur Erwiderung. Magdalene sah, wie die Haushälterin ihr Gesicht, ihre Gestalt und ihre Kleidung mit jenem widerwilligen Interesse, jener mißtrauischen Neugier musterte, welche Frauen bei ihrer gegenseitigen Beobachtung zu empfinden pflegen. Als sie über das Haus hinaus gingen, drang die scharfe Stimme von Noël Vanstone durch die Abendstille zu ihnen herüber.

13.Abkürzung für Verbum sapienti, ein Wort für den Gescheidten. Bei uns sagt man statt Dessen sapienti sat, für den Gescheidten genug (gesagt) oder »der Gescheidte kennt Das« (»Freischütz«). W.
14.»So möge es fortgehen« W.
15.Von den erwähnten Ufersteinen und angespülten Kieseln so genannt; im Englischen North Shingles Villa. W.
16.sure bind, sure find.
Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
04 detsember 2019
Objętość:
1102 lk 5 illustratsiooni
Õiguste omanik:
Public Domain

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