Loe raamatut: «Beethoven», lehekülg 3

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Heute, zwei Jahrhunderte nach Beethoven, sind Größenwahn und die Trompeten-und-Trommel-Prahlerei à la Pizarro weithin im Vormarsch. 1788 schrieb James Madison: »Ich vertraue auf das große republikanische Prinzip, dass die Menschen über Tugend und Intelligenz verfügen, um Männer zu wählen, die Tugend und Weisheit besitzen.« Eine naive Überzeugung, wie es scheint, zumal in einer Zeit ausufernder Propaganda und ebenso unfähiger wie ehrloser Staatsführungen. Wie soll man reagieren, wenn ein gewaltiger Demagoge unter dem Applaus seines Klüngels einen ebenso gewaltigen Turm aus Lügen errichtet?

In der bemerkenswerten Novelle Tonio Kröger beschrieb Thomas Mann seinen Protagonisten als jemanden, den Schillers Don Carlos zutiefst bewegt. Und wie Beethoven beschäftigen auch Kröger vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen rund um den Humanisten Marquis von Posa im vierten Akt: »Es sind Stellen darin, … die so schön sind, dass es einem einen Ruck gibt, dass es gleichsam knallt. … Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist …, aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, dass der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, dass er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …«

Bei Schiller ist der isolierte König selbst ein Gefangener, ein Opfer seines eigenen Systems, was aus seiner erschreckenden Begegnung mit dem Großinquisitor gegen Ende klar hervorgeht. Dabei gab es bei Posas früherer Audienz beim König einen kurzen Augenblick, in dem Letzterer durch politisches Handeln Gutes hätte erreichen können. Posas idealistisches Argument für den politischen Fortschritt – die Befreiung der Niederlande – beruht auf seiner Überzeugung, die Welt würde sich bald zum Besseren wandeln:

Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe

Ein Bürger derer, welche kommen werden.

Eine Einstellung, die dem Tadel des Großinquisitors am König diametral gegenübersteht. Hier herrscht Absolutismus über Veränderung, Tod über das Leben:

Wozu Menschen? Menschen sind

Für Sie nur Zahlen, weiter nichts.

Was für Beethoven zählt, ist Posas Vision einer leuchtenden Zukunft – »Freude … Tochter aus Elysium«, jenes Gedicht von Schiller, das etwa zur selben Zeit entstand. Die originale Version von An die Freude aus dem Jahr 1785 ermöglicht einen kurzen Blick in vollständig gewandelte politische Gefilde: »Bettler werden Fürstenbrüder / wo dein sanfter Flügel weilt« ist unmissverständlicher als die spätere Version, die Beethoven vertonte: »Alle Menschen werden Brüder …« Beethoven ergriff seine Chance, um zu Posas Befreiungsvision zurückzukehren, als er 1810 die Musik zu Goethes Drama Egmont schrieb, das große inhaltliche Affinität zu Schillers Don Carlos aufweist. Die mitreißende Apotheose der Siegessinfonie im Egmont ist ein weiteres Beispiel für den politischen Charakter eines Werkes, dessen Wurzeln weit in Beethovens prägende Jahre in Bonn zurückreichen.

ZWEI DAS ERHABENE UND DAS »UMGEKEHRTE ERHABENE«


Am 2. August 1794, kurz nach dem Fall Robespierres und dem Ende der Schreckensherrschaft in Frankreich, entschlüpften Beethoven ein paar hitzige Kommentare in einem Brief an seinen frankophilen Freund, den Bonner Musikverleger und Hornisten Nikolaus Simrock:

Hier ist es sehr heiß; die Wiener sind bange, sie werden bald kein Gefrornes mehr haben können, da der Winter so wenig kalt war, so ist das Eis rar. Hier hat man verschiedene Leute von Bedeutung eingezogen, man sagt, es hätte eine Revolution ausbrechen sollen – aber ich glaube, so lange der Österreicher noch braunes Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht. Es heißt, die Tore zu den Vorstädten sollen nachts um 10 Uhr gesperrt werden. Die Soldaten haben scharf geladen. Man darf nicht zu laut sprechen hier, sonst gibt die Polizei einem Quartier.

Zu diesen »verschiedenen Leuten von Bedeutung« zählte auch der Freimaurer Franz Hebenstreit. Der leidenschaftliche Demokrat und Wiener Jakobiner war ein Anhänger der Französischen Revolution, wurde wegen Hochverrats angeklagt und im Januar 1795 öffentlich gehängt. Als Reaktion auf die reaktionärrepressive Kehrtwende der habsburgischen Politik ab 1792 hatte Hebenstreit eine Kriegsmaschine in Form eines Streitwagens entworfen, von der er hoffte, sie würde die Franzosen in ihrem Kampf gegen die österreichische Kavallerie unterstützen. Ironisch schrieb Beethoven in seinem Brief von »Cavalier Sprache« in »unseren demokratischen Zeiten«, was wahrscheinlich auf den ehemaligen Kavalleristen Hebenstreit verweist. Ein Freund Hebenstreits, der ihn einmal als Kommunisten bezeichnet hatte, war der Offizier und Mathematiker Andreas Riedel. Dieser hatte 1791 einen Verfassungsvorschlag ausgearbeitet und die Unterstützung Kaiser Leopolds II. genossen. Riedel stellte sich unmissverständlich gegen den reaktionären Wandel unter Kaiser Franz, was zu seiner Verhaftung und einem jahrelangen Gefängnisaufenthalt führte, aus dem ihn erst Napoleon im Jahr 1809 befreite. Während Beethoven vom scharfen Vorgehen gegen politisch Andersdenkende schrieb, argwöhnte er gleichzeitig mit trockenem Humor, in Österreich würde jegliche Revolte scheitern, solange es – selbst wenn das Speiseeis zur Neige ging – nur genügend »braunes Bier und Würstel« gab. Wie Beethoven sehr gut wusste, stand der Empfänger seines Briefes der Revolution wohlwollend gegenüber: Für Nikolaus Simrock waren die Jahre der französischen Vorherrschaft erfolgreich und finanziell lukrativ.

Ebenso wie Eulogius Schneider fasste auch Franz Hebenstreit seine Sozialutopien und Reformwünsche in Verse. Unter diesen befindet sich das weit verbreitete, im Wiener Dialekt geschriebene Eipeldauerlied, ein Revolutionslied, das unter anderem aus den folgenden drei Strophen besteht:

Was denkts enk denn, dass gar so schreits,

Und alles auf d’Franzosen?

Den Louis haben’s köpft – Ja nun mich freuts

Er war schlecht bis in d’Hosen.

’S is ja das Volk kein Arschpapier

Und darf auf sich wohl denken,

Wer halt nicht lernen will Manier,

Den Lümmel muss man henken.

Drum fort mit ihm zur Guillotine

Denn Blut für Blut muss fließen,

Hätt’ man nur a hier so a Maschin,

Müsst’s mancher Großkopf büßen.

Intuitiv erfasste Beethoven, dass all dies nicht ausreichen würde, um die Bevölkerung auf die Barrikaden und die Monarchie zum Kollabieren zu bringen. Weder Hebenstreit noch Riedel hatten eine revolutionstaugliche Massenbewegung mobilisiert. Ihre Bestrafung folgte auf einen Schauprozess, von dem man hoffte, er würde andere politische Aktivisten entmutigen. Der Kopf Franz Hebenstreits wurde nach seiner öffentlichen Hinrichtung von seinem Körper getrennt und über zweihundert Jahre lang als kurioses Schauobjekt ausgestellt. Erst im Jahr 2012 wurde er aufgrund von Protesten aus dem Wiener Kriminalmuseum entfernt.

Als sich Beethoven 1792 in Wien niederließ, traf er also auf ein angespanntes, reaktionäres politisches Umfeld. Gleichzeitig aber war er sich der Tatsache bewusst, dass die Zustände in anderen Ländern noch weitaus repressiver waren. Ein erst unlängst entdeckter Brief, den er 1795 an seinen Bonner Freund Heinrich von Struve geschrieben hatte, reflektiert Beethovens politische Ansichten. Struve, der im diplomatischen Dienst Russlands stand, war nach einem Aufenthalt in Wien nach Kiew, Moskau und St. Petersburg weitergereist. Beethoven schrieb ihm:

Du bist also jetzt in dem Kalten Lande, wo die Menschheit noch so sehr unter ihrer Würde behandelt wird, ich weiß gewiss, dass Dir da manches begegnen wird, was wider Deine Denkungsart, Dein Herz, und überhaupt wider Dein ganzes Gefühl ist. Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird, wir werden wohl diesen glücklichen Zeitpunkt nur an einigen Orten herannahen sehen, aber allgemein – das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch Jahrhunderte vorübergehen.

Beethoven bezeichnete Russland als »Kaltes Land«, da sich die Lage der Bauern unter der Regentschaft Katharinas der Großen verschlechtert hatte. Drei Jahre zuvor hatte Struve seine humanistischen Ansichten in Beethovens Abschieds-Stammbuch bezeugt, indem er den aufgeklärten Philosophen Moses Mendelssohn zitierte: »Wahrheit erkennen, Schönheit lieben. Gutes wollen, das Beste tun.« Im Geiste des »Zehrgarten«-Kreises, zu dem sowohl Struve als auch Beethoven gehört hatten, schrieb Beethoven 1793 in das Stammbuch von Theodora Johanna Vocke, einer Freundin, folgende Zeilen:

Wohltun, wo man kann,

Freiheit über alles lieben,

Wahrheit nie, auch sogar am Throne

nicht verleugnen.

Es ist eine spannungsgeladene Kluft zwischen hehren ethischen Prinzipien und einer rauen politischen Wirklichkeit, die sich an diesen Quellen ablesen lässt. Aus ihnen spricht eine luzide Erkenntnis und Analyse der Realität, die nichts an Kraft eingebüßt hat. Doch wie kann ein Künstler unter diesen Umständen neue Wege abstecken und seine Unabhängigkeit zeigen? Wie können Musik und auch deren Darbietung sozial oder politisch signifikant sein? Man kann in diesem Zusammenhang Beethovens Werke für jenes Instrument in Betracht ziehen, das sein erstes Wiener Jahrzehnt dominierte: das Klavier.

Tasteninstrumente wurden damals von vielen verschiedenen Handwerkern angefertigt. Sie waren leichter konstruiert und individueller hergestellt als die meisten bekannten Instrumente seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Beethovens Stil als Klaviervirtuose war differenziert und energiegeladen. Er verlangte viel von einem Klavier, mit dem er eine rhetorisch nuancierte und dynamische musikalische Sprache zum Ausdruck brachte. Er sprach in Tönen, war, wie er sich selbst gern beschrieb, ein Tondichter, ein Musiker, ganz ergeben dem »Großen und Erhabenen«, wie Fischenich in seinem Brief an Charlotte Schiller 1793 erklärte.

Eine Verbindung zwischen künstlerischen und politischen Bereichen – und ein persönliches Bindeglied zwischen Beethoven und Friedrich Schiller – bestand durch den Stuttgarter Musiker und späteren Instrumentenbauer Andreas Streicher. Streicher und der junge Komponist trafen einander zum ersten Mal im Laufe des Jahres 1787, und zwar möglicherweise in München oder Augsburg, als Beethoven auf der Rückreise von Wien nach Bonn war. Fünf Jahre zuvor war Streicher Schiller zur Seite gestanden, als der junge Dramatiker aus Württemberg fliehen musste. Dort war er nach der spektakulären Mannheimer Uraufführung des kontrovers rezipierten politischen Dramas Die Räuber verhaftet worden. Für kurze Zeit saß er im Gefängnis, von wo Streicher und Schiller als »Doktor Ritter« und »Doktor Wolf« gemeinsam im Schutz der Nacht flohen. Um Schiller in dieser kritischen, ungewissen Zeit helfen zu können, hatte Streicher sein Vorhaben aufgegeben, bei Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg zu studieren. Jahre später ging Streicher mit seiner Frau Nannette nach Wien. Nannette Streicher, die Tochter von Johann Andreas Stein, einem der herausragendsten Klavierbauer seiner Zeit, war selbst eine fähige Instrumentenbauerin, zu deren Wiener Unternehmen auch ein Konzertsaal gehörte. Die Freundschaft mit Andreas und Nannette Streicher zählte zu den beständigsten in Beethovens Leben.

Schillers dramatische Werke stellten die Habsburger vor einige Herausforderungen. Zwischen 1783 und 1808 war die Aufführung vieler seiner Stücke verboten, Die Räuber wurden von der Zensur als »unmoralisch« und »gefährlich« abgelehnt. Dennoch wuchs Schillers Einfluss, und zwar nicht nur aufgrund von Aufführungen, sondern auch durch diejenigen seiner Werke, die gedruckt erschienen. Kurz nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1787 – etwa jene Zeit, in der Streicher und der junge Komponist erstmals aufeinandertrafen – war Don Carlos in den Kreisen von Beethovens Bonner Freunden geradezu Pflichtlektüre. Auch das frühzeitige Interesse des Komponisten an Schillers An die Freude mag mit Streicher zusammenhängen.

Streicher erkannte die bahnbrechenden Qualitäten in Beethovens Musik. Im Jahr 1803 konstatierte er, »dass Beethoven sicher eben die Revolution in der Musik bewirken wird wie Mozart. Mit großen Schritten eilt er zum Ziele …« Es ist aufschlussreich, Beethovens Werke aus seinem ersten Wiener Jahrzehnt im Licht jener neuen Ideen zu betrachten, die in den Jahren nach der Französischen Revolution zirkulierten. In den 1790er-Jahren, als er seine Arbeit an Theaterstücken für einige Zeit aussetzte, verfasste Schiller eine Reihe von Abhandlungen. Seine Ideen und Vorstellungen passten gut zu Beethovens Musik und unterstrichen Fischenichs Beobachtung, der junge Komponist würde sich dem »Großen und Erhabenen« zuwenden. Nachdem Schiller seine Vorlesungstätigkeit in Jena 1790 aufgenommen hatte, begann er mit der Arbeit an jenen theoretischen Aufsätzen, zu denen unter anderem Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, Über die tragische Kunst, Über das Pathetische und Vom Erhabenen zählten, wobei das Erhabene innerhalb der ästhetischen Theorie einen Ehrenplatz erhielt. Auf diese Essays folgten die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen aus dem Jahr 1795 sowie die Studie Über naive und sentimentalische Dichtung von 1795/96.

Schiller empfahl dem Künstler, sich tragischer Themen anzunehmen, um seinem Publikum eine »moralische Zweckmäßigkeit« anschaulich bewusst zu machen. Wie kann das erreicht werden? Laut Schiller kann Moralbewusstsein mithilfe spannungsreicher Gegensätze vermittelt werden. Dazu zählt etwa der Antagonismus zwischen der schrecklichen Unterdrückung durch einen Despoten und der unerschütterlichen Standhaftigkeit eines unschuldigen Opfers, das jeder Form von Instrumentalisierung widersteht. Die Relevanz dieses Beispiels für Beethovens Fidelio ist offensichtlich. Doch wie lässt sich diese Art von Drama in reine, textfreie Instrumentalmusik einbetten? Wie das Sprechtheater ist auch die Musik eine zeitliche Kunst, zu der eine Reihe von Merkmalen gehört, die zu einem Ganzen geformt werden, das größer ist als die Summe seiner Teile. Auf diese Weise betrachtet eignen sich Schillers Erkenntnisse im Rahmen einer ganzen Palette von Möglichkeiten für den nonverbalen Bereich der Instrumentalmusik.

Schillers theoretische Schrift Über das Pathetische trug wahrscheinlich zur Entstehung von Beethovens gefeierter Klaviersonate Pathétique c-Moll op. 13 bei, die 1799 veröffentlicht wurde. Laut Schiller reduziert sich die Tragödie nicht darauf, Leid darzustellen, sondern bezieht vielmehr den moralischen Widerstand gegen das Leid ein. Mit diesem Widerstand – die Weigerung, tragische Umstände als endgültig zu akzeptieren – postuliert der Künstler eine abweichende Stimme und eröffnet damit im übertragenen Sinn einen künstlerischen Raum. Dieser Raum ist die Projektionsfläche einer dynamischen Alternative, bei der es sich ebenso um utopisches Streben handeln kann wie auch um die »Symbole des Vortrefflichen«. In seinem Essay Über das Erhabene von 1801 beschrieb Schiller, wie das Individuum als moralisch handelnder Mensch sein Wollen und damit sein schöpferisches Potenzial gegen Willkür und Unterdrückung abschirmen sollte. Nachdrücklich fordert er, »ein Verhältnis, welches ihm [dem Menschen, Anm.] so nachteilig ist, ganz und gar aufzuheben und eine Gewalt … dem Begriff nach zu vernichten«. Für Schiller besteht zwischen dem Erhabenen und dem Schönen insofern ein Unterschied, als das Schöne an das Sinnliche gebunden ist. Im Gegensatz zum Schönen reicht das Erhabene über das unmittelbar Sinnliche hinaus und weckt gemischte oder sogar entgegengesetzte Empfindungen – Faszination, Frohsinn, Erstaunen, Furcht, sogar Schrecken. Darüber hinaus bindet das Erhabene eine Manifestation der geistigen Freiheit mit ein. Das Erhabene destabilisiert die vorhersehbare Welt der konventionellen Erwartungen, womit es sogar in der Lage ist, Bedeutungen umzukehren und eine komische oder ironische Dimension zu ermöglichen.

Illustriert wird dieses Spannungsfeld in einer humoristischen französischen Karikatur aus dem Jahr 1930 (Abb. gegenüber). Auf diesem Bild ist es die Sonate Pathétique, die die junge Frau am Klavier ganz in Beschlag genommen hat und in einen Beethoven’schen Sog zieht. Die Bildlegende »Sous L’Œil du Maître« – »Unter dem Auge des Meisters« – bezieht sich auf das Gesicht des Meisters an der Wand, der durch seine von Franz Klein 1812 angefertigte Lebendmaske späht (Abb. unten). Die Maske ist lebendig, Beethovens Blick ironisch, aber mitfühlend, kritisch, aber verständnisvoll. Der Zauber der Musik spiegelt sich in der Haltung der Pianistin wider: nach vorn geneigt, der Klavierhocker gekippt, die Finger zum Anschlag bereit. Der aus dem Instrument wehende Wind erfasst ihr Schultercape. Ihr Gesichtsausdruck – die Augen weit aufgerissen, der Mund weit offen – vermittelt den Bann, den die Musik ausübt.


Franz Klein: Lebendmaske Ludwig van Beethovens. Wien, 1812.

Biblioteca Beethoveniana, Carrino Collection, Muggia (Triest)


Georges Paul Gaston Léonnec: »Sous L’Œil du Maître« (»Unter dem Auge des Meisters«). Karikatur, »La Vie Parisienne«, 1930.

Biblioteca Beethoveniana, Carrino Collection, Muggia (Triest)

Die lebendige Maske und der unheimliche Wind stammen von naturalistisch abgebildeten Objekten. Indem sie die Grenzen des Realistischen und Naturalistischen jedoch durchbrechen, evozieren sie das Erhabene – in diesem Fall mit einem komischen Effekt. Aus unserem Blickwinkel hebt der lebendige Blick mehr als zweihundert Jahre, nachdem Klein seinen Gipsabguss gemacht hat, die Zeit auf. Er ist realistischer als die junge Dame, deren elegante Kleidung und Jugendstil-Ambiente sie als Amateurin ausweist. Eine ironische Ebene entsteht auch dann, wenn man ihre privilegierte Erscheinung der Darstellung von Leid in der Pathétique gegenüberstellt. Um es in Schillers Worten auszudrücken: »Die Vorstellung eines fremden Leidens, verbunden mit Affekt und mit dem Bewusstsein unserer innern moralischen Freiheit, ist pathetischerhaben.«

Das Flair der Revolution, das die Pathétique umgab, versetzte junge Künstler in helle Aufregung. So erging es auch dem Pianisten Ignaz Moscheles, der die Klaviersonate heimlich und gegen die Wünsche seines Lehrers kopierte. Jahre später erinnerte er sich an die Sonate: »Die Neuheit ihres Stiles war für mich so anziehend, und ich fasste eine so enthusiastische Bewunderung zu derselben, dass ich mich selbst so weit vergaß, meinen neuen Erwerb meinem Lehrer gegenüber zu erwähnen. Dieser erinnerte mich an seine Vorschrift und warnte mich davor, exzentrische Produktionen zu spielen oder zu studieren, ehe ich meinen Stil auf Grund soliderer Muster ausgebildet hatte. Ohne jedoch seine Vorschrift zu berücksichtigen, legte ich Beethovens Werke der Reihe nach, wie sie erschienen, auf das Klavier und fand in denselben einen Trost und ein Vergnügen, wie es mir kein anderer Komponist gewährte.«

Eine markante Qualität des kraftvollen ersten Satzes der Pathétique ist der darin angelegte Widerstand, ein Charakter, der sich durch die Verwendung kontrastierender Musik in geteilten Tempi zeigt: Grave und Allegro di molto con brio. Die düstere, meditativ-langsame Einleitung scheint an einen Monolog à la Shakespeare zu erinnern – ganz so, als würde Hamlet »Sein oder Nichtsein« probieren, eine Passage, die Beethovens Neffe Karl viele Jahre später zum großen Vergnügen seines Onkels zu meistern versuchte. Bleiern dissonante Akkorde untermauern die nachdenklichen Phrasen des Grave. Die Musik drängt nach oben, kämpft jedoch gegen unheilvoll-dichte Dissonanzen in tieferen Lagen. Die Schlussphrasen des Grave schließlich steigen in eine luftige Höhe auf, wobei die Melodie die höchsten Töne erreicht, die auf Tasteninstrumenten der 1790er-Jahre möglich waren.

Die folgende Anbindung an die tieferen Tonlagen – die irdischen Belange – ist brillant angelegt, und zwar durch einen raschen Lauf, der in die Nähe der ursprünglichen Tonlage (dasselbe tonale C) des Grave-Einleitungsakkords abfällt. Um den Widerstandscharakter zu vermitteln, gestaltete Beethoven dann im Eröffnungsthema des Allegro di molto con brio die ansteigende Linie und die harmonischen Farben um, die sich vom Beginn des Grave an allmählich entfaltet hatten. Der grüblerische Eröffnungsmonolog wird durch eine dramatische Bewegung ersetzt – ein dynamischer Schub aktiven Widerstands. Er enthält die Andeutung von jenem helleren Dur-Modus, der in das aufsteigende Eröffnungsthema des Allegro molto e con brio eingebettet ist und den musikalischen Diskurs über die düsteren Grave-Akzente erhebt. Die folgenden glänzenden Dialogpassagen zeugen weiterhin von dem energiegeladenen Ringen.

Dieser Dualismus aus melancholischer Grübelei und rasant-dramatischer Musik – Kontemplation führt zu Aktion – hat Vorläufer, darunter Haydns langsame Einleitungen zu den schnellen Eröffnungssätzen der Londoner Sinfonien. In psychologischer Hinsicht führt Beethoven die Idee weiter. Im ersten Satz der Pathétique kehrt das Grave am Beginn der Durchführung ebenso zurück wie in der Coda. Immer wieder löst die Suche nach tiefem Sinn ein Handeln aus: In der Durchführung drängt ein düsteres Motiv aus dem Grave in das Allegro und verknüpft diese beiden widerstreitenden Seelenzustände zu einer psychologischen Sequenz. Worüber in der Einleitung nachgedacht wurde, findet in der Durchführung des Allegro seine dramatische Erfüllung. Es ist Erfahrung, auf der der Sinn dieser Musik beruht, und er signalisiert Konfrontations- oder Abwehrhaltung.

Solch empirischer Gehalt wird in Beethovens Musik oft dadurch reflektiert, dass er den Charakter einzelner Tonarten auf bestimmte Weise handhabt – vergleichbar etwa dem Umgang mit literarischen Plots. Die dunkle, von tragischen Konnotationen geprägte Unruhe von c-Moll findet ein Gegengewicht in der lyrischen Erfüllung von As-Dur oder in einer Tonhöhenänderung zu C-Dur, dessen hellere, ungemein strahlende Beschaffenheit eine Konfliktüberwindung signalisieren kann. Die akustische Struktur der Musik ermöglicht ein ganzes Netzwerk klangvoller Beziehungen, was ein emphatisches Narrativ fördert. In der Literatur kann eine Andeutung spätere Ereignisse vorwegnehmen. In der Musik hingegen vermag ein einzelner Akkord später zu einem Tonraum erweitert zu werden, in dem dramatische Kontrastierungen eine ganze Palette vielsagender Bedeutungen zum Vorschein bringen können.

Beethovens Verwendung solcher Transformationsmuster hat starke Wurzeln in seinen Bonner Jahren. Ein frühes Beispiel ist die Sonate in f-Moll, die zweite der drei Kurfürsten-Sonaten, die er 1783 im Alter von erst zwölf Jahren komponiert hatte. Das Stück beginnt mit einem langsamen Larghetto-maestoso-Auszug (Abb. S. 44 oben). Der erste Taktschlag ist ein beeindruckender f-Moll-Akkord, der mit einer punktierten rhythmischen Phrase als Teil eines Forte verbunden ist. Der zweite Takt bietet eine ausgleichende Fortsetzung aus durchgehenden Achtelnoten über einem lang ausgehaltenen, piano gespielten F in der Basslage. Es ist bemerkenswert, wie der schnellere Satzhauptteil – Allegro assai – die Ausgangsmusik hörbar transformiert (Abb. S. 44 unten). Der Fall einer ganzen, vom F ausgehenden Oktave im Larghetto maestoso wird im Allegro assai zu einem energiegeladenen, absteigenden Skalenlauf, der nun die Lücke mit lebhafter Bewegung füllt. Die tiefere Hälfte dieser absteigenden Geste wird durch die linke Hand verstärkt, worauf hin sich das gehaltene F der Basslinie zu einem monoton pulsierenden Rhythmus wandelt. Die steigenden Terzen vom Beginn des zweiten Taktes des Larghetto maestoso werden in einem nach oben strebenden Gefüge durchgeführt, das an das ansteigende Thema erinnert, das bei der Einführung des Allegro di molto con brio in der Pathétique über einem Orgelpunkt zu hören ist.

Ludwig van Beethoven: »Kurfürsten«-Sonate f-Moll, WoO 47, Nr. 2; Beginn

Ludwig van Beethoven: »Kurfürsten«-Sonate f-Moll, WoO 47, Nr. 2; Allegro assai

Dieser transformative Prozess lässt sich durch einen feinfühligen Vortrag vermitteln. Die Bedeutsamkeit dieses Vorgangs unterstrich Beethoven, indem er das Larghetto maestoso in der zweiten Satzhälfte nochmals rekapituliert. Diese vom heranwachsenden Beethoven komponierte Sonate zeigt bereits, wie sehr ihn Tempokontraste, die durch einen psychologischen Prozess überbrückt werden, faszinierten. Was von Moscheles als »Trost und Vergnügen« beschrieben und von zahllosen Zuhörern in der Pathétique und in anderen Beethoven-Werken erkannt wurde, rührt zum Teil aus einer impulsiv-dynamischen Qualität, die nicht bloß exzentrisch ist und sich jenseits der Regeln bewegt. Die Anklänge an diese Methode, die sich in einigen Stücken aus Beethovens Jugendzeit finden, trugen in Werken seiner Wiener Jahre reiche Früchte.

Was die Pathétique betrifft, so besteht die Gefahr, dass jede Sensibilität abgestumpft wird, weil das Werk so populär ist, und damit auch die Gesamtgestaltung des Werks leicht übersehen wird. Man muss die drei Sätze in Beziehung zueinander auffassen, da aussagekräftige motivische Zusammenhänge zu einem ausgedehnteren Narrativ führen – des Meisters Blick und ein kosmischer Wind bemächtigen sich der Musik. Bewusst schließt Beethoven lyrische Wärme aus dem ersten Satz aus, um dieses Charakteristikum im langsamen mittleren Satz, dem Adagio cantabile, zu konzentrieren. Das mittlere C, das die melodische Tonhöhe im Grave und im Allegro des ersten Satzes vorgibt, geht im Anfangsakkord des Adagio cantabile in einem As-Dur-Klang auf – ein Tonartwechsel, der innig empfundene Subjektivität birgt. Dieses lyrische Adagio erinnert an utopisches Streben, während die zweite kontrastierende Episode in der Form dieses Satzes – mit dunkleren Harmonien und rhythmischer Unruhe – die Spannungen der Ecksätze erkennen lässt. Im Finalsatz nimmt Beethoven ein Motiv – einen ansteigenden Vier-Noten-Auftakt – aus dem Eröffnungs-Al-legro wieder auf. Diese Phrase hinterlässt ihre Spuren in den dramatischen Dialogsequenzen des Allegro di molto e con brio. Der Zuhörer wird ihre Reprise am Beginn des abschließenden Rondos wiedererkennen.

Dieses Hauptthema des Finales entfaltet sich großzügig als ein gut abgerundetes Rondo-Thema. Vor diesem Hintergrund ist eine vielfarbige Sammlung untergeordneter Einfälle aufgereiht, die in einer glänzenden pianistischen Geste kulminieren: ein greller, vom hohen F – dem 1798 höchstmöglichen Klavierton – über die ganze Tastatur nach unten verlaufender Klangstrom. Dieser rhetorische Wegweiser leitet die Wiederholungen des Rondo-Themas ein, nicht jedoch seine letzte Reprise.

In zwei wesentlichen Passagen seines Finales rekapituliert Beethoven das Adagio cantabile. Das zentrale Couplet kommt nochmals auf As-Dur zurück und auf jene Noten in der Mitte der Tastatur, die man mit dem schönen lyrischen Thema verbindet. Kontrapunktische Variationen dieser musikalischen Idee steigen in der Tonhöhe, werden rhythmisch lebendig, womit der reflexive Charakter nach und nach in turbulente Aufregung umschlägt. Mit der Entfaltung dieses Vorgangs wird der Wendepunkt erreicht: Die As-Dur-Tonlage kippt auf die c-Moll-Dominante, gelangt damit an die glänzende, abwärts verlaufende Skala und zur neuerlichen Reprise des obsessiven Rondo-Themas. Diese musikalische Entwicklung deutet einen psychologischen Übergang vom Nachdenken zum Handeln, von der Meditation zum entschlossenen Widerstand an.

Am provokativsten jedoch ist Beethovens Integration dieser Seelenzustände in die Coda des Finales. Die letzte Reprise des Rondos leitet in eine von synkopierten rhythmischen Spannungszuständen erschütterte Passage über, die einem Kulminationspunkt zustrebt. In diesem kritischen Augenblick – in der Biografie dieses Kunstwerks eine Minute vor Mitternacht – rüttelt Beethoven den Zuhörer mit einer unvermittelten Modulation wach, wenn die Geste der abwärts verlaufenden Skala neuerlich erklingt und nun einen abrupten Tonartwechsel auf die Dominante von As-Dur mit sich bringt. Was kann in diesem weit fortgeschrittenen Tondrama noch folgen – jetzt, da der Vorhang bereits am Fallen ist?

Beethoven entfernt den Drei-Noten-Auftakt vom Rondo-Thema und enthüllt eine beschaulich-ruhige Variante desselben in As-Dur, eine Geste, die deutlich an die Eröffnung des sanften Adagio cantabile erinnert. Es ist eine durch den Schleier des Rondo-Themas erkennbare Vision des langsamen Satzes. Das Thema des Rondos – selbst ja abgeleitet von den kühnen Dialogpassagen des ersten Satzes – wird neu geformt, um die im ersten Satz dargestellte subjektive Innerlichkeit aufzunehmen. Dieser Moment aktiver Neuinterpretation führt zu zwei kurzen fragenden Phrasen, die eine letzte Überraschung für den Zuhörer bereithalten. In der Pathétique steht die leuchtende Sphäre von As-Dur in einer von c-Moll abhängigen Konstellation – wie menschliches Streben, oft unerfüllbar und eingeengt von den Bedingungen der Realität. Beethovens finaler Schachzug bekräftigt nochmals den Skalen-Sturzflug, der zuvor vom Rondo-Thema ausgelassen worden war. Doch diese letzte Rückkehr hat endlich Vergeltung im Gepäck: Hier, zum ersten Mal, wird die absteigende Tonleiter in den Tonika-Akkord von c-Moll gerammt und bringt damit die entscheidende Lösung.

Auf diese Weise bettet Beethoven das Schiller’sche Verständnis tragischer Darstellung in Klänge: Entschlossener Widerstand vermag die Kluft zwischen menschlichen Zielen, deren Verwirklichung und den Barrieren, die es zu überwinden gilt, symbolisch zu überbrücken. So schwebt eine spannungsreiche Schlichtheit über der inhaltlichen Bedeutung der Pathétique. Durch die nach unten führenden Tonkaskaden erkennt man in den Ecksätzen Widerstand, der in ein zyklisch wiederkehrendes Muster eingesperrt ist. Die zarte Lyrik des Adagio cantabile liegt weit davon und von jedem Handeln entfernt. Ein flüchtiger Blick in die Erhabenheit dieses empirischen Dilemmas findet sich im letzten Satz, wenn sich die Utopie der Realität entgegenstellt.

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Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
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Ilmumiskuupäev Litres'is:
22 detsember 2023
Objętość:
365 lk 60 illustratsiooni
ISBN:
9783990405642
Kustija:
Õiguste omanik:
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