Loe raamatut: «Der Philosoph», lehekülg 3

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Dr. Lenz und ich waren keineswegs gut miteinander bekannt. Es war daher ein Moment nicht ohne Peinlichkeit, als er mir öffnete und mich ohne Begrüßungsfloskeln, beinahe hastig, hineinbat. Die Ruhelosigkeit, mit der er mich durch das weitgehend leere Parterre des Hauses führte, ließ keinen Platz für Höflichkeiten. Er deutete in ein kleines, dunkles Bad, ohne sich zu dessen Verwendung zu äußern, und öffnete am Ende der Diele die Tür zu einer Kammer, deren Fenster in den rückwärtigen Garten wies. Das Zimmer war leer, bis auf eine geblümte, an die Wand gelehnte Matratze, einen fleckigen Eichentisch und einen Stuhl, vermutlich die Hinterlassenschaft des vormaligen Besitzers. Die nachgedunkelten Wände zeigten scharfkantige weiße Flecken. Von wem er die deprimierenden Räumlichkeiten bezogen hatte, hat mir Dr. Lenz nicht verraten. Er schien überhaupt entschlossen, mir möglichst wenig Hinweise auf seine näheren Lebensumstände zu geben. Von dem Haus, das er während der letzten Monate seines Lebens bewohnt hat, habe ich kaum mehr zu Gesicht bekommen als jenes trostlose Verlies, das für mehrere Wochen mein Domizil werden sollte, und den Wohnraum, den wir betraten, kaum dass ich meine Tasche abgestellt hatte.

Fahrig räumte der Doktor zwei Teegedecke auf einen großen, mit Büchern und Papieren übersäten Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, schenkte aus einer gläsernen Kanne ein, setzte sich, stand wieder auf, stapfte in die benachbarte Küche, begann dort lautstark herumzuräumen und kam zurück mit einer Schachtel billiger Kekse, die er wortlos auf den Tisch schob. Dann saßen wir einander gegenüber und nippten an unseren Tassen. Der Tee war lauwarm und schmeckte furchtbar. Im Raum war es dunkel. Vor den beiden Terrassentüren, die in den Garten hinausführten, war eine Wand aus Umzugskisten errichtet. Nur oberhalb dieser Mauer fiel etwas Licht herein. Schweigend blickte ich mich um. Hinten im Zimmer stand ein schwerer Schreibtisch, ein geschmackloses Möbelstück aus schwarz lackiertem Holz mit wuchtigem Schubladenaufsatz, daneben ein Kellerregal mit wenigen, wahllos eingelegten Böden, auf denen sich Bücher stapelten.

»Ich bin dankbar, dass Sie gekommen sind«, sagte Dr. Lenz schließlich und ließ nochmals eine Minute verstreichen. Dank meiner Gesprächsnotizen kann ich den Wortlaut präzise wiedergeben. »Hinrich Giers ist … verändert.« Der Doktor zuckte mit dem Kopf und zog die Schulterblätter nach oben, als ob er den Schrecken darüber zu unterdrücken versuchte, wie gründlich auch sein eigenes Leben infolge dieser Entdeckung verändert war. »Er bedarf der Ruhe«, lautete die Schlussfolgerung des Doktors, ganz so, als ob er selbst bereits entsprechende ärztliche Anordnungen getroffen habe. »Es ist unsere Aufgabe, alles zu tun, um unserem Freund die Souveränität über sein Leben zurückzugeben.« Offenbar war Dr. Lenz dabei, mir eine Art Lagebericht vorzutragen, der mich über die Situation orientieren sollte. »Hinrich Giers möchte die Verfügungsgewalt über sein Werk zurückgewinnen. Es macht den Eindruck, als würde er Atem holen … Atem holen für die letzte große Aufgabe … die große Mission seines Lebens, von der wir wissen, dass er sie … trotz aller Anstrengungen … bisher noch nicht erfüllen konnte«, verkündete Dr. Lenz, offenbar in dem Glauben, von der Warte eines objektiven Beobachters zu sprechen, und skizzierte sogleich seine Hoffnungen. »Es geht um das Werk, mit dem Hinrich Giers seinen Namen verewigen wird, mit dem er vollenden wird, wofür wir damals angetreten sind in der ›Sozialen Gesellschaft‹«.

Mit beklagenswerter Vorhersehbarkeit wiederholte der Doktor dann vieles aus jener alten Theorie der »Sozialen Gesellschaft«, die sein Lehrer zuletzt vor dreißig Jahren vorgetragen hatte und deren Einzelheiten ich dir ersparen möchte. Was aus den akademischen Anfängen von Hinrich Giers bestenfalls als blasser Titel einer Zeitschrift übriggeblieben war, dürfte Dr. Lenz bis zum letzten Moment angetrieben haben: die verführerische Idee einer letztgültigen Theorie. Der fundamentale Irrtum, die Selbstbefragung des Menschen zu einem Ende bringen, auf die Frage nach der Selbsterkenntnis eine endgültige Antwort geben zu können. Der Doktor hatte keine Freude an der unerschöpflichen Kraft und Tätigkeit der Vernunft, ihren immer neuen Hervorbringungen. Wie alle Menschen, die im Verborgenen ihre Lebensängste hegen, wünschte er sich feste Resultate. Der Gedanke erschien ihm furchtbar, dass Selbsterkenntnis der bloße Abguss eines Zustands, die Spiegelung eines geistigen Augenblicks sein könnte. Ich war überzeugt, dass er Illusionen nachhing, hier oben, in der selbstgewählten Einöde auf dem Fichtenbuckel. Er war nicht nach Binsenburg gekommen, um sich in eine offene Auseinandersetzung zu begeben, sondern verteidigte hinter selbsterrichteten Kartonwänden seine vermeintlichen Gewissheiten. Meine anfangs verspürte Zuversicht drohte zu verflachen. Unfähig, mich länger zu beherrschen, unterbrach ich den Lagebericht. »Herr Dr. Lenz, wozu bin ich hier?«

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Oft habe ich mich seit unserem Wiedersehen in der Binsenburger Allee gefragt, woher du dir deiner Sache so sicher zu sein geglaubt hast. Woher die Manier, das Leben in einen Plot verwandeln zu wollen, in eine logische Abfolge von Schritten, vollzogen von Menschen, die scheinbar nichts als eine einzige, simple Triebfeder im Inneren haben, geeignet, eine Handlung leicht durchschaubarer Konflikte in Gang zu setzen? Nicht, dass ich nicht erwartet hätte, mich am Ende als grob gezeichnete Nebenfigur in deinem Binsenburger Plot wiederzufinden, als subalterne Randfigur im Umkreis des Professors. Es stimmt auch, dass ich meinen subalternen Dienst gleich nach der ersten Nacht im Haus von Dr. Lenz angetreten habe, ein schlechtes Frühstück inklusive. Auch bezweifle ich nicht, dass der Doktor meine Rolle in der Tat darauf hatte beschränken wollen, als Briefbote zwischen ihm und Hinrich Giers zu fungieren. Ich war jedoch weit davon entfernt, mich in dieses Rollenkonzept zu fügen. Schon als ich zu meinem ersten Botengang antrat (mit einem Packen von Briefen in der Umhängetasche), war ich zuversichtlich, mich bald in einer Position zu befinden, in der weit mehr der Doktor auf mich angewiesen sein würde als ich auf ihn. Zumal er gar nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein schien, mich als Vermittler einzusetzen. Ohne dass er mir Einzelheiten mitgeteilt hätte, musste jemand anderer ihm diese Lösung nahegelegt haben. Ein Umstand, der meine Phantasie an diesem Morgen beflügelte. Jedenfalls war ich entschlossen, die Dinge weit mehr zu meinen Gunsten zu beeinflussen, als Dr. Lenz womöglich recht sein würde.

Ich genoss den freundlichen Frühlingsvormittag und lief auf menschenleeren Straßen ins Tal hinunter. Es war dabei in Binsenburg offenbar eher unüblich, sich von den höheren Lagen des Ortes zu Fuß in die Stadt hinunterzubegeben. Überhaupt schien man das Grundstück kaum jemals unmotorisiert zu verlassen. Gelegentlich rauschten gewaltige Geländewagen auf der kleinen Straße an mir vorüber, schwarzen Särgen nicht unähnlich. Sofern ich hinter Hecken oder in den noblen Hauseingängen überhaupt jemanden zu Gesicht bekam, schien es mir, als würde ich nicht ohne Misstrauen beobachtet. In der Gewissheit ihres Besitzes waren die Bewohner dieser Stadt offenbar ganz bei sich selbst, als ob jede Form der Öffentlichkeit für sie zu existieren aufgehört hätte und allenfalls ein Fremder diesen Eindruck gelegentlich stören konnte. Eine Form der Selbstverkapselung, die ich nicht weiter verurteilenswert fand, zumal die Daseinsform dieser Stadt offensichtlich dem großen Philosophen zu einer letzten Kraftanstrengung diente.

Nachdem ich die Allee erreicht hatte, hielt ich mich in Richtung der Innenstadt und bog nach kurzer Strecke zur Stadtkirche ab, deren weiße Zuckertürmchen schon aus der Ferne über den Baumkronen zu sehen waren. Wie mich Dr. Lenz hatte wissen lassen, residierte Hinrich Giers auf der anderen Seite des Talkessels, auf jener terrassierten Anhöhe, die Paradies genannt wurde und zu den vornehmsten Wohnlagen der Stadt zählte. Eine aus Granitsteinen gemauerte Stiege führte direkt dort hinauf. Ich nehme an, dass du diesen verborgenen Weg nie kennengelernt hast. Die von Moosflecken durchschossenen Steine werden gesäumt von prachtvollen alten Hecken. Dahinter ragen die erdfarbenen Giebelwände einiger Häuser auf der Halbhöhe empor. Man geht unter Bäumen, nicht ohne Mühe, die steilen Stufen hinauf. In stumpfen Winkeln schmiegen sich die Treppenabschnitte an den Hang. Man läuft durchweg im Schatten, beinahe in Finsternis, ohne Aussicht auf die Stadt, als ob man im Begriff sei, sich Zugang zu einer verborgenen Welt zu verschaffen.

Erst weiter oben quert die Stiege an mehreren Punkten die stillen Straßenterrassen, tritt man plötzlich in die Helligkeit. In den Gärten blühte bereits der Flieder. Die Sonne schien angenehm warm, und es waren deshalb durchaus keine unangenehmen Gefühle, mit denen ich an die überraschenden Neuigkeiten zurückdachte, von denen mir Dr. Lenz berichtet hatte. Erst von ihm habe ich erfahren, dass sich seit einiger Zeit auch Julian Fleig in der Stadt aufhielt und auf dem Paradieshügel sogar ein Haus zu besitzen schien. Der Doktor hatte das mit großem Widerwillen erzählt. Er hegte gegen den Fernsehphilosophen eine tiefe Abneigung. Dabei mochte ein schlechtes Gewissen mitschwingen, seit er mit seinem Votum der Fleig’schen Universitätslaufbahn ein Ende gesetzt hatte, vielleicht auch Neid darüber, dass die Karriere des Fernsehphilosophen nach dem vermeintlichen Ende erst richtig begonnen hatte. Vor allem aber dürfte der Doktor Angst gehabt haben. Denn Julian Fleig, ein hochgefragter Gast auf handverlesenen Podien und in bekannten Fernsehshows, konnte sich kaum zufällig in die Binsenburger Einsiedelei verirrt haben. Man musste in der Tat unterstellen, dass er auf eine Abrechnung mit Hinrich Giers aus war, zumal er schon frühere Auftritte genutzt hatte, um dessen Werk zu kritisieren, ja lächerlich zu machen.

Weshalb jedoch hätten solche Feindseligkeiten Veranlassung dazu geben sollen, in Angststarre zu verfallen? Was konnte der Fernsehphilosoph tun, um Hinrich Giers ernstlich zu schaden? Ich wusste damals noch nichts von den Recherchen, die du mit Fleigs Hilfe angestellt hast, hätte folglich nicht ahnen können, dass du bald darauf in Binsenburg erscheinen und abwegige Gerüchte über den Professor in Umlauf bringen würdest. Ich möchte jedoch behaupten, dass ich selbst in Kenntnis deiner Umtriebe damals keinen Grund gesehen hätte, den Fernsehphilosophen als Gefahr zu betrachten. Von Anfang an sah ich eine Chance darin, diesen geltungssüchtigen Menschen mit dem Objekt seiner Minderwertigkeitsgefühle zusammenzubringen. Wer hätte Hinrich Giers schließlich wirkungsvoller aus der Defensive locken können als sein ehrgeiziger und eifersüchtiger Schüler? In dieser Einschätzung, das musst du zugeben, habe ich mich nicht getäuscht.

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Ich weiß nicht, ob du den Eindruck kennst, den das Haus hervorrief, in dem der Professor Zuflucht gesucht hatte. Dieses Gefühl der Überwältigung, sobald hinter der ersten Wegbiegung, zwischen sprießenden Obstbäumen und Rhododendren-Gebirgen die zitronengelbe Fassade und die schiefergrauen Walmdächer des Anwesens sichtbar wurden. Man konnte sich dieser Villa kaum nähern (auf dem herrlichen weißen Kies, im Bogen der weiten Rechtskurve), ohne sich den Besitzer als Freund der Kunst und Literatur, als großen Mäzen, als Fürsten des Guten und Schönen vorzustellen. Eine bedauerliche Täuschung der Einbildungskraft. Selbst bei späteren Besuchen habe ich nicht ohne Missmut daran gedacht, dass hinter den kunstvoll gegliederten Fensterfronten dieses Palastes ein prosaischer Frührentner seinen weitgehend interesselosen Betätigungen nachging.

Robert Schlierer schien ein bedeutender Industrieller gewesen zu sein. Heute, so konnte man nachlesen, redete er freimütig von den alten Tagen seines Wehrdienstes und der Gewohnheit, in den von ihm bereisten Landschaften zuerst nach geeigneten Positionen für die Feldartillerie Ausschau zu halten. Dr. Lenz und ich haben ihn schließlich den Artilleristen genannt. Es entbehrte nicht der Logik, dass er auf der höchstgelegenen Terrasse des Paradieshügels residierte – wie unter dem Vorsatz, die im Tal gelegene Stadt unter Beschuss zu nehmen. Als ich am Eingangsportal, einer dunkelgrün lackierten Tür mit ornamentalen Messingbeschlägen, den Klingelknopf drückte und im Inneren des Gebäudes ein Glockendreiklang vernehmlich wurde, rechnete ich mit einer untergeordneten Person, die mir öffnen, mich steif begrüßen und auf einem einschüchternden Weg tief ins Hausinnere begleiten würde. Umso überraschter war ich, als die Tür mit unzeremoniöser Geschwindigkeit aufsprang und mein Blick zuerst auf zwei nackte, fleischige und braungebrannte Füße fiel. Auch die übrige Erscheinung machte den Eindruck des Braungebrannten, war allerdings ersichtlich älter, als es ihre blondierten schulterlangen Haare, ihr buntes Hemd und die zerschlissene Jeans vermuten ließen. Ich sah einen alten Mann vor mir, der unter eine blonde Perücke geschlüpft zu sein schien, einen welken, freudlosen Geist, der ein Bild entspannter Lebenskunst vorzustellen versuchte.

Es bestand kein Zweifel, dass der Eigentümer des Anwesens selbst vor mir stand, der mich, ohne nach meinem Namen gefragt zu haben, mit seinem freundlichen Bariton willkommen hieß (»Seien Sie willkommen!«), mir unaufdringlich aus der Jacke half (»Bitte legen Sie doch ab«), sie in einem gewaltigen und leeren Garderobenschrank verschwinden ließ (»Nein, lassen Sie mich das nur machen«) und mich bat, ihm zu folgen (»Wollen Sie mir bitte folgen!«). Eigentlich redete er ununterbrochen (»Sie haben das Haus gleich gefunden?«), sparte nicht an seiner Wortmunition, ob im Blickkontakt, zur Seite gewendet, im Vorauslaufen oder mit einem beiläufigen Blick über die Schulter (»Sie hatten eine gute Anreise? Wie gefällt Ihnen Binsenburg? Was möchten Sie trinken?«). Der unpassende Vergleich lag nahe, sich in seiner Anwesenheit unter verbalem Dauerbeschuss zu fühlen. Die Stimme des Artilleristen ertönte von vorn, hallte von den Wänden der weißgetünchten Eingangshalle wider, schien aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig zu kommen, während ich dem seltsamen Mann folgte, den Blick unablässig auf seine braungebrannten Füße gerichtet, mit denen er unbekümmert über die Marmorfliesen stampfte. Wir hielten uns auf der rechten Seite des Entrees und liefen auf eine Flügeltür zu, während zur linken eine großzügige weiße Marmortreppe in den ersten Stock zu einer Galerie hinaufführte.

Es spielte keine Rolle, dass ich den Schlierer’schen Ausführungen nicht durchgehend zu folgen vermochte (»… habe mich in Binsenburg gleich wohlgefühlt … ganz reizender Ort …«). Selbst wenn ich abgelenkt gewesen war, fand ich problemlos wieder in die Satzschleifen hinein (»… deshalb dieses Haus … meine erste Wahl … Liebe auf den ersten Blick«). Sollte Robert Schlierer Unaufmerksamkeiten meinerseits registriert haben, ließ er mich das nicht merken (»… Lage von großer Bedeutung … beschäftige mich schon lange damit … vorteilhafte Topographie …«). Vermutlich war ihm die Rezeptionsfähigkeit seiner Umgebung relativ gleichgültig, solange man seine Wortkaskaden mit unveränderter Freundlichkeit absorbierte (»… habe das aus frühen Jahren … nach dem Wehrdienst noch den Feldwebel drangehängt …«). Höflich hielt er die Flügeltür für mich geöffnet. Ich betrat einen großen Saal (»… lange beim Artillerielehrbataillon gewesen … daher das Interesse …«) und blickte nicht ohne Ehrfurcht in den herrschaftlichen Raum (»… ist immer so, wenn ich eine Landschaft noch nicht kenne …«). Erst wenige Minuten war ich hier, in dem gewaltigen Domizil auf dem Paradieshügel (»… überlege sofort, wo die 155-Millimeter-Geschütze stehen müssen …«). Mein Zeitgefühl aber hatte ich bereits verloren.

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Nach den betäubenden Wortschwällen des Artilleristen wirkte der weißgetünchte Saal zunächst ernüchternd auf mich. Ich fühlte meine Spannung zurückkehren, als ginge das lästige Präludium zu Ende, als könnte ich nun endlich, die Umhängetasche mit den Briefen fest umklammert, Hinrich Giers gegenübertreten. Der große Raum wuchs links und rechts in die Breite. Eine hohe Terrassentür lag direkt gegenüber, auf beiden Seiten flankiert von je zweien der kunstvoll gegliederten Fenster. Hinter den Scheiben leuchtete das üppige Grün des Gartens.

Ich schaute mich nochmals um, konnte zunächst aber niemanden entdecken. Eine leise Enttäuschung begann sich bemerklich zu machen. Gerade hörte ich den Artilleristen hinter mir die Tür schließen. »Der Besuch ist gekommen«, sagte er mit seinem freundlichen Bariton. Da sah ich ihn im nächsten Moment schon wieder vor mir sitzen, in einer Sofagruppe aus weißem Leder, vertieft in eine Zeitschrift, das Kinn auf eine Hand gestützt, das Gesicht hinter seiner blonden Mähne verborgen. Vor Schreck ist mir für eine Sekunde tatsächlich kalt geworden. Dabei war die Sache nicht weiter spektakulär. Wie ich später erfahren habe, ist sie in der Stadt als sogenannter »Schlierer-Effekt« sogar zu grotesker Berühmtheit gelangt. Es war eine Frau, die auf dem Sofa den Kopf hob, die blonden Strähnen zur Seite schob und mir freundlich ihr braungebranntes Gesicht zuwandte. Frau Schlierer war von ähnlicher Größe wie ihr Mann, von ähnlich schwer bestimmbarem Alter, von vergleichbar beträchtlichem Umfang, ihre Bluse ähnlich bunt wie sein Hemd, ihre Jeans ähnlich zerschlissen wie die seine, und auch im Verrunzelungsgrad der sonnengebräunten Haut stand keiner dem anderen nach. Die größte Beklommenheit jedoch verursachte mir die Ununterscheidbarkeit ihrer Frisuren. Der blondierte, etwa schulterlange Pony verwandelte sie in Puppengeschwister aus einem Kasperletheater. Nicht ohne Erschaudern tauschte ich mit Frau Schlierer einen Händedruck. Dann schlurfte sie zur Tür und verschwand, ohne ein Wort gesagt zu haben.

Ich ließ mich in der gewaltigen, U-förmigen Leder-Sitzgruppe nieder, legte meine Umhängetasche ab und atmete durch. »Villa Mögen heißt dieses Anwesen«, meldete sich der Artillerist zurück, ließ sich anstelle seiner Frau gegenüber in die Polster plumpsen und wies mit ausgestreckter Hand in den Saal. »Friedrich Mögen … bedeutender Industrieller … Haus um 1890 erbaut … Fan des Palladio … wunderbarer Stil.« Ich nickte und kam der indirekten Aufforderung nach, den weitläufigen Raum noch einmal auf mich wirken zu lassen. Außer einem gläsernen Rundbogen über der Terrassentür erinnerte an Palladio allerdings nichts mehr. Neben unserer Sofainsel war ein würfelförmiger Stahlofen mit quadratischen Fenstern in den Boden eingelassen, einer überdimensionierten Laterne nicht unähnlich. Das Abzugsrohr ragte senkrecht nach oben und verschwand in der weißgetünchten Stuckdecke. An den kurzen Seiten des Saales hingen großformatige Popart-Bilder, Frauenporträts in grellen Farben. Links und rechts neben der Eingangstür prangten weiße Regalwände, die von Bildbänden, weißen Vasen, schwarzen Kuben und anderem Designer-Klimbim bewohnt wurden. Auch der Fernseher fehlte nicht, ein weißgerahmtes, in die Wand eingelassenes Monstrum, flankiert von zwei Lautsprecher-Türmen.

»Villa Mögen … anspielungsreicher Name«, ließ sich der Artillerist von neuem vernehmen. »Im Sinne von Potentia … lateinischer Begriff … Vielfalt der Möglichkeiten … Vielfalt des Könnens … eine Aufforderung … Ermutigung …« Frau Schlierer kam zurückgeschlurft. Auf einem Silbertablett transportierte sie eine Sektflasche und drei bereits gefüllte Gläser. »Mögen … beinahe ein Imperativ … möge es in deinen Kräften stehen … möge es gelingen …« Ich nickte möglichst beifällig zu diesen Ausführungen, während Frau Schlierer auf dem Couchtisch Flasche und Gläser abstellte. Der Artillerist schob mir eines der Gläser zu und produzierte ein aufforderndes Lächeln.

Bevor wir jedoch anstoßen konnten, ertönte hinter dem Ofen ein Geräusch. Es klang wie helles Seufzen. Überrascht lehnte ich mich zurück, um an der Konstruktion vorbeischauen zu können. Hinter dem Ofen stand ein weißlackiertes Ställchen. Frau Schlierer trat davor, beugte sich hinunter und hob ein Kind heraus, einen etwa zwei Jahre alten Jungen, der benommen sein Köpfchen auf ihre Schulter drückte und verhaltene Klagelaute von sich gab. Er hatte einen dunklen, langen Haarschopf und steckte in einem farbig bestickten Frotteeanzug, wie ein Indianer auf dem Kinderfasching. Vermutlich war er von den Ausführungen zum lateinischen Ursprung des Hausnamens in seiner Ruhe gestört worden. Frau Schlierer hielt ihn lächelnd im Arm, schlurfte zur Sofainsel zurück und setzte sich an die Seite ihres Mannes. Dann erhoben die blondierten Alten synchron ihre Gläser, lächelten sich zu, bevor sie, wie Zwillinge aus dem Puppentheater, freundlich auch mir zuprosteten. Ich erwiderte, so gut ich konnte, nahm einen tiefen Schluck und verspürte wachsende Fassungslosigkeit.

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