Loe raamatut: «Wolfsmedizin - eBook»
WOLFS
MEDIZIN
Inhalt
Vorwort
Zum Geleit: Die Kraft der Wildnis
Nordmongolei
Auf der Suche nach dem Ex Oriente Lux
Der Medizinmann und der Schamane
Opferlamm und Hundebiss
Indianerfilme und Pferdeherden
Owoos und Kultstätte
Buddhistisches Heiligtum, zahme Rehe und Gewitter
Ulmen und Eschenahorn in Erdenet
Vom Fleischessen
Pflanzen zum Räuchern
Der lange Schatten des Schlaraffenlandes
Heilquellen
Der magische Vulkan
Das sterbende Schaf
Murmeltier
Gruß der Geier
Mit dem Kräuter-Bold unterwegs
Chaga
Hanf und andere Unkräuter
Gefährdete Umwelt
Schamanen und Lamas
Ein reiches Land
Die spirituelle Blindheit der Titanen
Die Jurte als kosmisches Abbild
Mutterbaum
Sibirien
Auf in die Taiga
Kjachta – der Glanz vergangener Tage
Burjaten, die »Waldmongolen«
Der größte Leninkopf und der größte Buddha
Altgläubige
Fahrt zum Baikalsee
Ein roter Wolf und eine weiße Göttin
Ewenken, ein Volk der Birken und Rentiere
Schmiede und schwarze Schamanen
Seereise
Insel der Robben
Alexej und die Insel der Zauberer
Wo die Götter wohnen
Von Wölfen und Tauben
Der Schamane mit dem gespaltenen Daumen
Dschingis Khan, der schamanische Herrscher
Temudschin, mein Jugendidol
Anhang
Tartaren und Tataren
Drei Seelen
Tenger, der Himmel
Dank
Bibliografie
Register
Vorwort
Im Sommer 2017 waren Wolf-Dieter Storl und ich mit einer kleinen Gruppe in der Mongolei und in Sibirien. Es ging vorrangig um eurasische Pflanzenheilkunde und Schamanismus. Dort in den Steppen ist der Vorhang zur Anderswelt dünn und transparent, sodass das Manifeste und das Feinstoffliche einen viel engeren Kontakt haben als hier in Mitteleuropa. Dies ist keine verbrämte Esoterik von verklärten Spinnern, sondern von jedem mehr oder weniger stark empfindbare Realität. Die Gruppenteilnehmer waren Ethnologen und Therapeuten, Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen. Wie schön war es doch zu sehen, dass die beiden Welten, die ohne scharfe Abgrenzung ineinander übergehen, ohne Grundsatzdiskussionen, ohne Wenn und Aber akzeptiert wurden!
Wolf-Dieter Storl nennt sein Buch Wolfsmedizin. Dieses Tier spielt in der mongolischen Tradition und Schöpfungsgeschichte eine große Rolle. Dschingis Khan hatte den Beinamen »der blaue Wolf«. Die Nomaden verehren und fürchten dieses Tier. Auf der einen Seite ist der Wolf Teil ihrer Ideologie, auf der anderen der Fressfeind ihrer Zuchttiere. Bei einer früheren Mongoleireise hörte ich des nachts mal Wölfe, krabbelte aus dem Zelt und wurde von zähnefletschenden Hunden der Nomaden umringt. Allerdings standen sie so, dass sie nach außen geiferten. Was kurzzeitig wie ein aggressiver Akt mir gegenüber aussah, war genau das Gegenteil: Sie wollten mich in Schutz nehmen vor ihren wilden Verwandten!
Sowohl in der Mongolei als auch in Sibirien ist der Schamanismus lebendig. Er war es immer, selbst als er in Sowjetzeiten als »konterrevolutionär« verfolgt wurde. Der Schamanismus ist dort in den Völkern so tief und fest verankert, dass politische Gegenmaßnahmen nur wenig aus- und anrichten konnten. Der Schamane als Verbinder zwischen den Welten hat einen festen Stellenwert im Alltag dieser ethnischen Gruppen. Milch- und Wodkaopfer vor dem Kühlergrill der Jeeps bei der Weiterfahrt, das Anhalten, Umrunden und Steineopfern bei Owoos als Symbol für das Erbitten einer guten Reise zeigen diese Verbundenheit mit der anderen Dimension. Bei manchen Autos, mit denen wir dort gefahren sind, war dieser Schutz auch bitter nötig!
Schon an den Überschriften in diesem Buch konnte ich erkennen, dass es sich um eine Art Tagebuch handelt, denn sie beziehen sich tatsächlich auf Geschehnisse auf dieser Fahrt. Da ich bisher alle Bücher von Wolf-Dieter gelesen habe, freue ich mich besonders, nun eine Reisedokumentation von ihm vorliegen zu haben.
Peter »Pitt« Germann
Dortmund, Mai 2018
Zum Geleit: Die Kraft der Wildnis
Wolfsmedizin. Was hat das zu bedeuten? Was will es sagen? Wölfe sind zu Hause in der Wildnis, am Rande der Menschenwelt. Sie haben die Reinheit und Kraft der wilden, unverdorbenen Natur; sie sind Grenzgänger. Ein wirklicher Heiler ist ebenfalls ein Grenzgänger, einer, der über die Grenzen der gesellschaftlichen Konventionen hinausgeht. Er muss ein solcher sein, denn Krankheit und Wahnsinn, Tod und Fortpflanzungstrieb, sie lassen sich nicht durch die Gebote der Rationalität und Ethik eingrenzen. Heute in unserer entzauberten Welt, in der Sicherheit und Berechenbarkeit oberste Priorität haben, haben wir vergessen, dass die wilden, nicht zähmbaren Kräfte der Natur (und die der tiefen Psyche) auch das Potenzial der Vitalität, Fruchtbarkeit und Heilung in sich tragen. Es ist die Kraft der Wildnis, die immer wieder in die erstarrte, geordnete, zivilisierte Welt hereinzubrechen droht, sie aufwirbelt, energetisiert und dadurch Neues – auch Heilendes – ermöglicht. Naturnahe Völker, wie es auch unsere Vorfahren waren, integrierten diese Energien in Form von periodisch zelebrierten, oft orgiastischen Festen in ihre Kultur, bei denen die Götter und Geister der Berge, Sümpfe und Wälder durch die Dörfer stürmten, die Menschenseelen ergriffen, durch sie hindurch tanzten und dabei die Fruchtbarkeit der Felder und Weiden, der Tiere und der Menschen freisetzten. Die wilde Jagd Wodans, der Zug der Percht, das rasende Treiben im Gefolge des Dionysos, die Lupercalien und Saturnalien der Römer, das keltische Samhain (Halloween) oder das indische Holi-Fest sind Ausdruck dieser participation mystique, die immer wieder eine heilende Katharsis ermöglicht.
Bei den kleineren, ursprünglicher lebenden Jäger- und Sammlervölkern fand die Berührung mit den Geistern der wilden Natur eher auf einer individuellen Ebene statt. Die Schamanen und Schamaninnen, die indianischen Medizinmänner und -frauen, auch die indischen Sadhus und Sadhvis gehen auf Visionssuche in die Einsamkeit. Der Gang auf den hohen, schwer zugänglichen Berg oder – wie bei den irischen Kelten – auf eine kleine sturmumbrauste Insel ist zugleich ein Gang in die dunklen Gründe der eigenen Seele. Dort, wo harte Askese, Fasten und Wachen das Ego dämpft und die Ekstase (griechisch ekstasis, »das Außer-sich-Geraten«) ermöglicht, dort wo sich die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Wildnis und Kulturland verwischen, finden sie das »Loch in der Zeit«; dort begegnen ihnen ihre Hilfsgeister – Adler, Bären, Wölfe, Hirsche, Schlangen – und schenken ihnen die notwendigen heilenden Visionen. Und gerade weil sie außerhalb der Ordnung stehen, können sie die ursprüngliche Ordnung erkennen und damit aufrechterhalten (DUERR 1978:52).
Schamanen, Medizinleute und Kräuterweiber kennen sich in der Wildnis, dem finsteren, schwer zugänglichen Wald, der einsamen Heide und den schroffen Bergen gut aus, ebenso wie in den Tiefen der inneren Seelenlandschaft. Sie vermögen es, die Gegenden jenseits des schützenden Hags, der die kleine Insel unseres domestizierten Daseins einhegt, zu bereisen. Sie haben selbst so etwas wie eine Wolfsnatur. Es gibt mittelalterliche Darstellungen von Hexen (Schamaninnen), die auf Wölfen reiten. Da ist es kein Wunder, dass ein Schamanengott wie Odin/Wodan, der die Heilkräuter und Zaubersprüche kennt, Wölfe als Begleiter hat. Auch eine schamanische Persönlichkeit wie Johnny Appleseed, der im amerikanischen Siedlergrenzland unterwegs war, wurde von einem Wolf begleitet, den er aus einem Fangeisen befreit hatte. Viele indianische und sibirische Schamanen haben Beziehungen zum Geist der Wölfe; bei meinem Freund Bill Tallbull war es ein Steppenwolf, der ihm bei seiner Visionssuche erschien und ihm seine Lebensaufgabe als Medizinmann und Botschafter zum »grünen Volk« (Pflanzen) wies.
Wölfe verkörpern die Urkraft von Freiheit und Abenteuer – sagt der Schweizer Künstler Peter Schneider. Es ist die Freiheit, vor der sich viele Schafsnaturen, die einen Hirten brauchen, fürchten. Eine Begegnung mit dem Wolf steht für Wandlung, für seelische Metamorphose. Psychoanalytiker finden in der Wolfssymbolik die finstere Seite des Unbewussten, den Ort unserer Urängste, den uns ständig folgenden »Schatten« (ZERLING/BAUER 2003:324). Diesen zu konfrontieren, anstatt ihn zu fliehen, bringt Heilung. Die grimmige Initiation der echten Schamanen besteht darin, den inneren Wolf, den Verwandler, die angsterregende Seite des Seins kennenzulernen, sodass sich die göttliche Ganzheit manifestieren kann.
Der Wolf steht auch für sichere Instinkte. Auch die braucht ein Heiler, nicht nur angelesenes Kopfwissen.
Wolfsmedizin. Es gab schon ein Buch mit ähnlichem Titel, geschrieben von einem konventionellen Mediziner namens Lewis Mehl-Madrona. Er wusste zwar, dass seine Großmutter eine Tscherokesen-Indianerin war, eine Kräuterheilerin, aber das war ihm eher peinlich. Als Arzt fühle er sich der modernen positivistischen Wissenschaft verpflichtet. Dennoch wagte er sich, trotz Vorbehalte, an das Heilwissen indianischer Medizinleute heran. Beim Besuch einer Schwitzhütte erlebte er bei einem Schwerkranken, dem die Schulmedizin keine Chance mehr gab, eine spektakuläre Spontanheilung. Er hatte keine Wahl, als einen guten Teil seines erlernten medizinischen Wissens und der entsprechenden Technologien infrage zu stellen oder wenigstens deren monopolistische Deutungshoheit zu hinterfragen. Er versuchte, das indianische schamanische Wissen in seine Praxis zu integrieren. Coyote medicine, also »Steppenwolf-Medizin«, nannte er seine unkonventionelle Angangsweise, die altüberlieferte schamanische Therapien in dem Versuch, Menschen zu heilen, mit einbezieht (MEHL-MADRONA 2011).
Als Peter Germann mich einlud, ihn und seine Freunde auf einer Reise nach Sibirien und in die Mongolei zu begleiten, konnte ich nicht Nein sagen, denn in diesem wenig besiedelten Teil der Erde gibt es noch Wölfe ebenso wie echte Schamanen. Das sibirische und mongolische Schamanentum ist uralt, seine Wurzeln liegen in der jüngeren Altsteinzeit, als die Menschen der nördlichen Halbkugel, zu denen auch unsere europäischen Vorfahren gehören, noch Mammutjäger waren. Auch den Bisons (Wisente), Rentieren, Pferden, Wollnashörnern, Auerochsen und anderen Herdentieren stellten sie nach. Verhaltensforscher vertreten die Ansicht, dass diese Großwildjäger ihre Jagdtaktiken den Wolfsrudeln abgeschaut haben.
Diese paläolithischen Nomaden lebten im Winter in sogenannten Grubenhütten, die teilweise in den Erdboden eingelassen waren und deren Dächer mit Tierfellen bedeckt waren; das gab Schutz gegen Wind und Kälte. Im Sommer lebten sie in Stangenzelten (Tipis), die schnell aufgebaut und abgebaut werden konnten. Stangenzeltartige Wohnhütten fand man noch lange in der sibirischen Taiga. Die Jurte der Steppenbewohner ist aus dem Stangenzelt ihrer steinzeitlichen Vorfahren hervorgegangen. Viele der paläolithischen Heilmethoden, wie die Schamanenreise in die Geisterwelt, um Krankheitsursachen zu erkunden, die therapeutischen Rituale, Überhitzungstherapien und die Heilpflanzenkunde haben sich in Eurasien und bei den nordamerikanischen Ureinwohnern bis heute erhalten. Ethnobotaniker konnten feststellen, dass die meisten der damals, vor rund fünfzehntausend Jahren angewendeten Heilkräuter noch immer in diesen Regionen und in derselben Art und Weise Anwendung finden. Auch unsere Volksmedizin wurzelt in diesem altsteinzeitlichen Urgrund, auch wenn sie von Elementen anderer Kulturkreise aus Altägypten, Sumer und Arabien teilweise überlagert wurde.
Eine echte Feldforschung bedeutet, dass der Forscher die Sprache des indigenen Volkes, bei dem er sich aufhält, beherrscht und mindestens einen ganzen Jahreszyklus hindurch mit ihnen verbringt. Eine Reise ist also keine Feldforschung, sondern eher ein Erkundungsausflug, eine allgemeine Ortung.
»Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende«, schrieb der große Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss im ersten Satz seines Buches Traurige Tropen (Lévi-Strauss 1982), in dem er seine Reise in die Urwälder des Amazonas beschrieb. Darin kommt die Enttäuschung zum Ausdruck, die ihn erkennen ließ, was der Kontakt der Reisenden mit den indigenen Völkern anstellt. An sich aber war Lévi-Strauss überzeugt, dass auch Reisen interessante frische Eindrücke und Erkenntnisse vermitteln können, solange sie nicht Projektionsflächen für die eigenen Vorurteile werden. Bei einer Reise kommt es weniger darauf an, wie weit oder wie lange man unterwegs ist, sondern wie tief sie geht.
Es ist nicht meine Absicht, hier noch ein weiteres ethnografisches Werk hervorzubringen, sondern einen Blick auf die Heilpflanzenkunde und die schamanischen Heilmethoden der Sibirier und Mongolen zu werfen, denn diese gewähren Einsichten in die zirkumpolare1 Heilkunde der Großwildjäger der jüngeren Altsteinzeit. Warum ist das interessant? Zu einem, weil das auch unsere ältesten therapeutischen Wurzeln sind, wie auch die der nach Amerika gewanderten Paläosibirier, aus denen die Indianer hervorgegangen sind.
1 Zirkumpolar: die Gebiete rund um den Nordpol (Grönland, Kanada, Sibirien, Nordeuropa).
Auf der Suche nach dem Ex Oriente Lux
Peter »Pitt« Germann, der geniale Leiter der Dortmunder Heilpflanzenschule Phytaro, lud mich ein, mit einigen seiner Freunde eine »Safarireise« durch die Mongolei und in die Republik Burjatien im östlichen Sibirien zu machen. Das klang höchst interessant, da ich mich als Ethnologe viel mit den mongolischen Steppenvölkern, den am Baikalsee lebenden Burjaten und den ebenfalls dort lebenden Rentierhirten, den Ewenken (Tungusen), befasst hatte. Den Ewenken verdanken wir übrigens das Wort »Schamane« – šaman, »jemand, der bewegt und abgehoben ist«. Es bezeichnet jene Meister der Ekstase und der Trance, deren Aufgabe es ist, gute Beziehungen zu den Geistern und Göttern herzustellen. Nicht nur, was die Kultur der Nomaden und Taigabewohner betraf, auch ethnobotanisch würde die Reise hoch interessant sein.
Die neun Teilnehmer, die sich alle für traditionelle nicht-westliche und schamanische Methoden der Heilkunde interessierten, trafen sich am Frankfurter Flughafen für den Aeroflot-Flug über Moskau nach Ulan Bator. Da an dem vielbeschäftigten Flughafen lange keine Startbahn für unseren Flug frei wurde, schafften wir den Anschlussflug in die Mongolei nicht, die nächste Verbindung würde erst am nächsten Tag möglich sein. Also saßen wir im Schermetjewo International Airport fest. Glücklicherweise waren wir nicht gezwungen, mit unseren Köfferchen auf den Bänken in der Transitwartehalle zu sitzen. Die russische Fluggesellschaft zeigte sich äußerst großzügig, wir bekamen Zimmer zum Schlafen und einen Haufen Gutscheine für Speis und Trank, sodass wir, wie der liebe Gott in Frankreich, ungeniert die Speisekarte rauf und runter schlemmen konnten. Lauter Gerichte, die wir kaum kannten: salzig-saure Rassolnik (Fleischsuppe), Borschtsch, Wildpfanne, Piroggen (Teigtaschen), gefüllte Bliny (Pfannkuchen), Bœuf-Stroganoff und andere Leckerbissen. Jutta, eine Teilnehmerin, konnte zum Glück Russisch und übersetzte die Namen der mysteriösen Speisen. Mit Kompott (Obstgetränk), Sbiten (Gewürz-Honig-Tee), Waldbeerentee, Moosbeerensaft, Kwass und gutem Moskowskaja-Bier löschten wir unseren Durst; auch das berühmte »Wässerchen« (Wodka) probierten wir. Es war ein Fest. Die tolle Stimmung schmiedete die Gruppe fest zusammen. Wir dachten an Edward Snowden, den mutigen Whistleblower, der die geheimen Pläne eines globalen Überwachungsprogramms des US-Geheimdienstes enthüllte, nach Russland floh und vierzig Tage in derselben Transitzone ausharren musste, bis ihm schließlich Asyl gewährt wurde.
Am nächsten Tag waren wir wieder auf dem Weg. Wegen der Unterbrechung verpassten wir einen Termin mit einem bekannten Schamanen und den geplanten Ausflug in den Hustai-Nationalpark, wo es Przewalski-Pferde in freier Wildbahn gibt.
Beim Anflug auf Ulan Bator schwebten wir über eine hellbraune, hügelige, von zahlreichen Autopisten zerfurchte Landschaft. Pferdeherden waren zu sehen und an den Rändern der Metropole Jurten und kleine Häuschen mit bunten Dächern. 1,5 Millionen Menschen, die Hälfte der Bevölkerung der Mongolei, lebt in der aus allen Nähten platzenden Stadt.
Abfertigung, Passkontrolle und Gepäckaufnahme im Chinggis Khaan International Airport gingen schnell. Die mongolischen Gastgeberinnen, die uns begleiten und führen würden, und die Fahrer der Geländewagen wollten ohne Verzögerung aufbrechen. Aber eine Schwierigkeit gab es dann doch: Die Passkontrolle ließ Lutz nicht durch. Als Luxemburger brauche er ein Visum, sagte der Beamte. Sicherlich ein Versehen, denn die anderen Mitreisenden mit deutschen, schweizerischen und französischen Pässen und auch ich mit einem amerikanischen Pass bekamen ohne Umstände den Stempel zur visafreien Einreise. Vielleicht war dem Beamten das Land Luxemburg unbekannt? Das war sicherlich nur eine kleine Formalität. Ein Anruf beim Luxemburger Konsulat, dann würde alles okay sein. Wir warteten geduldig am Ausgang. Die Zeit zog sich in die Länge.
Vielleicht, meinte ich, sollten wir Ganesha, den Elefantengott, den mächtigen Sohn Shivas, den Herrn der Widerstände und der Überwindung von Widerständen, anrufen. Wenn Ganesha gnädig gestimmt wird – so heißt es in der südasiatischen Tradition –, dann macht er den Weg frei. Denn nichts kann den mächtigen Dickhäuter aufhalten, und wenn er dennoch in ein Fangnetz gerät, dann wird sein Reittier, eine kleine Ratte, das Netz mit ihren Nagezähnen durchnagen. Für den westlichen Rationalisten mag diese Vorstellung völliger Unsinn sein, für mich jedoch ist es ein Bild, eine Imagination, die auf verborgene Wirklichkeiten weist, auf spirituelle Wesenheiten, mit denen man in Resonanz gehen kann und die tatsächlich den Menschen beistehen und helfen können. Ein christlicher Heiliger, etwa der Christophorus, hätte es auch getan. Aber ich kannte leider keine Christophorus-Lieder. Nun, dann würden wir eben ein Ganesha-Mantra singen!
Ganesha, der Elefantengott, Herr der Überwindung von Widerständen.
Glücklicherweise hatte sich Nadine, eine junge Frau, orange gekleidet und mit langen Filzlocken auf dem Kopf, zu uns gesellt. Sie kam gerade von einem Schamanentreffen im Altaigebirge und würde uns auf unserer Reise durch die Mongolei begleiten. Als Schülerin des nepalesischen Schamanen Mohan Rai, einem glühenden Verehrer Shivas, würde sie sicherlich ein geeignetes Mantra kennen, das dem armen Lutz aus der Klemme helfen könne.
Sie sang OM Gam Ganapataye Namo Namah und allmählich stimmten wir mit in das Lied ein. Ja, und dann erschien Lutz in der Gepäckabgabe. Wir atmeten auf. Aber er war nur da, um seine Koffer zu identifizieren. Dann verschwand er wieder. Er wurde umstandslos in den nächsten Flug zurück nach Moskau gesteckt und abgeschoben. Weder Bitten, Betteln noch Bakschisch, auch nicht das Luxemburger Konsulat konnten da was machen. Der göttliche Elefant ließ sich diesmal nicht umstimmen.
Der Medizinmann und der Schamane
Eine der beiden Frauen, die uns als Reiseführerinnen begleiteten, wandte sich mir zu und sagte: »Ich bin Orgilmaa. Wir kennen uns ja. Wir sind uns schon mal begegnet. Kennst du mich noch?« Ich kratzte mich am Kopf. Woher sollte ich sie kennen?
»Erinnerst du dich nicht? Es war vor siebzehn Jahren, da war ich mit bei dem Schamanentreffen in Garmisch. Ich war die Übersetzerin und Assistentin des großen mongolischen Schamanen Zeren Baawae. Du und ich, wir haben damals das Gespräch zwischen dem Cheyenne-Medizinmann Elkshoulder und Zeren Baawae übersetzt.«
Da kam es mir wieder in den Sinn. Was für eine Überraschung! Da fliegt man um die halbe Welt und trifft jemanden, den man kennt! Es war damals, Ende Oktober im Jahr 2000, bei der internationalen Schamanenkonferenz Wanderer zwischen den Welten im Kurhaus von Garmisch-Partenkirchen, wo wir uns begegnet waren. An der Schwelle eines neuen Jahrtausends trafen sich damals um die zweitausendfünfhundert New-Age-Begeisterte. Sie versammelten sich, um mithilfe traditioneller Schamanen, Medizinmänner und Heiler aus verschiedenen Kulturen den Planeten auf eine höhere spirituelle Schwingungsebene zu bringen (Gottschalk-Batschkus 2000). Eine groß aufgezogene Monsterveranstaltung war das, mit gewichtigen Sponsoren.2 Man hatte mehrere Ethnologen gebeten, »ihre« Schamanen zu diesem Event einzuladen. Auch ich wurde gefragt und lud daraufhin den Medizinmann George Elkshoulder, den Hüter der Überlieferungen der Cheyenne, ein, teilzunehmen. Der alte Medizinmann kam; ich glaube nicht, dass er wirklich die lange Flugreise machen wollte, aber bei den Cheyenne herrscht der Brauch, dass man die Bitte eines Freundes nicht abschlägt.
»Es ist lange her«, sagte Orgilmaa nachdenklich, »die beiden Alten (sie meinte Elkshoulder und Baawae) sind inzwischen auch schon gestorben.«
Orgilmaa sprach ein ausgezeichnetes Deutsch, da sie, wie viele andere Mongolen, in DDR-Zeiten in Leipzig studiert hatte. Die Volksrepublik Mongolei galt damals als sozialistischer Bruderstaat, mit dem reger Handel und kultureller Austausch betrieben wurde. Die DDR errichtete dort ein Fleischkombinat, eine Streichholz- und eine Teppichfabrik und beteiligte sich am Bergbau. Die Sozialistische Mongolische Volksrepublik und der ostdeutsche Arbeiter-und-Bauernstaat sind schon längst Geschichte, aber noch immer bestehen die Beziehungen. Beim ASEM (Asien-Europa-Gipfel) 2016 reiste sogar Bundeskanzlerin Merkel, an alten Handelsbeziehungen anknüpfend, nach Ulan Bator. Und es heißt, bis zu vierzigtausend Mongolen können sich noch immer auf Deutsch verständigen.
Das Schamanentreffen in den bayrischen Bergen stand ganz im Zeichen der zeitgenössischen One-World-Vision. In diesem neuen Jahrtausend, mit dem Aufbruch ins Wassermann-Zeitalter, sollten die Menschen endlich begreifen, dass wir alle Kinder Gaias sind. Universelle Liebe, Gewaltlosigkeit, die Erkenntnis der Einheit von Mensch und Natur, ja, nichts weniger als die Rettung der Erde, waren die hehren Ziele der Veranstaltung. Die Schamanen, mit ihrer Einsicht in die tieferen spirituellen Dimensionen des Seins – und nicht etwa die Vertreter der ausbeuterischen, dogmatischen Weltanschauungen und der etablierten Religionen, die es ja waren, die den Karren in den Dreck gefahren hatten – sollten uns den Weg dahin weisen. Die Konferenz sollte den Schamanen, die aus der ganzen Welt angereist waren, eine Plattform zum Dialog und zur Vernetzung bieten. Das war der Wunsch, dafür war das esoterisch bewegte Publikum auch bereit, einen eher saftigen Eintrittspreis zu zahlen.
Die Vernetzung und der Dialog funktionierten allerdings lediglich bei jenen der anwesenden »Neoschamanen«, denen die New-Age-Philosophie ihr Leibgericht war, die von einem Schamanentreffen zum anderen jetteten und das Bild des kleinen blauen, vom Weltall aus fotografierten Globus als Ikone verinnerlicht hatten. Diese Neoschamanen hatten Teil an dem zeitgemäß »korrekten« Weltbild, teilten dessen Vokabular und Symbolik. Sie konnten gut und schöngeistig miteinander Gedanken austauschen.
Bei Vertretern wirklicher traditioneller Stammesvölker, wie etwa Elkshoulder und Baawae, ging das nicht so einfach. Sie kamen sich eher wie Fremde in einer fremden Welt vor. Ein Stammesschamane aus dem mittelamerikanischen Urwald, der von seinem Ethnologen auf der Bühne wie ein exotisches Tier vorgeführt wurde, weinte, nachdem er genötigt wurde, einen »schamanischen« Tanz aufzuführen.
Die Vertreter der indigenen Völker zeigten einander höflichen Respekt, aber – das war mein Eindruck – die inneren spirituellen Welten waren absolut nicht die gleichen. Ebenso wie die verschiedenen Sprachen ihren jeweils eigenen Wortschatz, ihren spezifischen Satzbau (Syntax), ihre Phonetik (Lautlehre) und Grammatik aufweisen, so ist es auch mit den metaphysischen Strukturen: Sie weisen in jeder kulturellen Überlieferung ihre eigene »Grammatik« auf. Die Fülle der Symbole und Imaginationen sowie die spirituellen Techniken (Rituale, Askese, Fasten, Gebrauch von Entheogenen3), die das »Jenseitige« greifbar machen, haben sich über lange Zeiträume hinweg und unter bestimmten natürlichen Umweltbedingungen herausgeformt. Sie lassen sich nicht vereinheitlichen und über einen Kamm scheren. Einem südamerikanischen Schamanen werden zum Beispiel kein Eisbär und keine Robbe als Tierhelfer erscheinen; seine Seele wird nicht durch das Rauchloch eines Tipis zum Nordstern fliegen. Das soll aber nicht heißen, dass die Visionen und Abenteuer der Seele nichts weiter sind als subjektive Halluzinationen, Einbildungen oder Projektionen. Die Götter und Geistwesen, welche die Natur beseelen, kleiden sich in bildhafte Erscheinungen ein, die im jeweiligen kulturellen Kontext Sinn machen.
Für einen traditionellen Medizinmann wie Elkshoulder machte das New-Age-Weltbild wenig Sinn. Allein das Bild der Erde als kleiner blauer Globus, der in einem unendlichen schwarzen All einen Stern umkreist, war ihm fremd. Für ihn war die Welt dreiteilig: oben der Himmel, unten die Erde und wir, Menschen, Tiere, Pflanzen, in der Mitte. Er blieb bei den sichtbaren Phänomenen: Die Sonne wandert, wie eine Spinne auf unsichtbaren Fäden, über den Himmel und durchquert nachts die Unterwelt.
Auch sonst befand sich der alte Indianer kaum im Einklang mit der neuen globalen Spiritualität. Fremd war ihm der shamanism light, der sich bei den indigenen Naturvölkern wie in einem Supermarkt bedient und die Elemente oberflächlich und nach Belieben neu zusammengesetzt hatte. Seine Sichtweise war irritierend politisch unkorrekt. Auch ich war schockiert, als er fragte: »Was hat der Schwarze hier zu suchen?«, nachdem er Peter Costello, einen Stammesältesten der australischen Aborigines, zum ersten Mal sah. Aber ehe man den alten Indianer moralisch an den Pranger stellt, sollte man den Kontext der Aussage verstehen. Seit Kolonialzeiten wurden in den Vereinigten Staaten die Menschen nach ihren genetischen Merkmalen eingeordnet und bewertet (Isenberg 2017:178f). Ganz oben in der Wertskala befinden sich die WASPs4 und unten, am »Bodensatz«, konkurrieren Schwarze, Mexikaner und Indianer um die letzten Plätze. Als die Afroamerikaner im Zuge der staatlich geförderten Bürgerrechtsbewegung in den Genuss bevorzugter Behandlung (affirmative action) kamen, fühlten sich viele Indianer düpiert. Aber vielleicht war es nicht einmal das, was ihn dazu bewegte, das sprachliche Tabu zu verletzen, vielleicht war es einfach nur Ausdruck der Überraschung, denn im Land der Cowboys im Schatten der Rocky Mountains sah man praktisch nie Schwarze.
Dann fragte er mich: »Where are the Germans?« (Wo sind die Deutschen?)
Ich verstand die Frage nicht. Was sollte das bedeuten?
»Ja, hier. Das sind die Leute hier«, versicherte ich ihm.
»Das sind keine richtigen Germans«, antwortete er, »ich meine die, die so tapfer im Krieg gekämpft haben.« Dann erfuhr ich, dass er im Zweiten Weltkrieg als amerikanischer GI an der Front gewesen war. Damals stand ihm ein ganz anderer Menschentypus gegenüber. Die sanften, empfindsamen New-Ager, die sich auch ihrer Tränen nicht schämen und ihre Gefühle offen zeigen, sind da was ganz anderes. Der alte Indianer kam aus einer Kultur, in der kriegerische Tugenden gefragt sind, einer Kultur, die härteste Askese übt, um die Aufmerksamkeit der Götter zu erlangen, einer Kultur, wo durch Fasten in der einsamen Wildnis Visionen gesucht werden, einer Kultur, in der sich die Männer beim Sonnentanz Pflöcke durch Brust und Schulter bohren, die mit langen Lederriemen am heiligen Sonnenpfahl befestigt werden; sie umtanzen den Pfeiler, bis sie in Trance fallen und die Pflöcke aus ihrem Fleisch losreißen, wobei sich ihre Seele vom Leib löst und wie ein Adler in den Himmel fliegt – eine archaische schamanische Technik übrigens, die den außerleiblichen Astralflug bewirkt. Es war diese Mentalität der harten Selbstbeherrschung, die es den Cheyenne ermöglicht hatte, länger gegen die europäische Invasion zu kämpfen als jeder andere Stamm in Nordamerika mit Ausnahme der Apachen. Der Völkerkundler Karl Schlesier, der diese Indianer gut kennt, schreibt: »Durch die übernatürlichen Mächte zum Hüter eingesetzt über Pflanze, Tier und Wasserlauf, zum Verteidiger der alten Ordnung berufen, (…) kämpften die Cheyenne mit Stoßlanze und gefiedertem Pfeil gegen moderne Armeen nicht nur um die eigene Selbstbehauptung, sondern für die ganze Welt des Graslandes. (…) Die Cheyenne im Bildersaal amerikanischer Erinnerungen: Das sind rasende, präzise zuschlagende Reiter, die sich spukhaft vom Gegner lösen und wie Rauch verschwinden. Das sind verwegene Krieger, Adlerfedern und Bärenkrallen, Schilde aus Büffelleder und mit Zeichen bemalte Pferde. Das sind Frauen, die furchtlos die Kugeln auf sich ziehen, um andere zu schützen. Das sind Häuptlinge und Bewahrer heiliger Bündel von uralter, gelassener Nobilität. Das ist ein klagendes Lied über einer Ebene, die mit dem Himmel verwächst, und ein einzelner Mann, der, von Feinden umringt, klaglos einen harten Tod auf sich nimmt« (Schlesier 1985:9).
Es war dieser Geist – ein Geist, der übrigens auch den mongolischen Nomaden nicht fremd ist –, der in dem alten Medizinmann wie ein heiliges Feuer glühte. Kein Wunder, dass er sich unter den lieben Leuten, die ihm wie Weicheier und Alles-ist-Licht-und-Liebe-Mimosen vorkamen, nicht wohlfühlte.