Loe raamatut: «Mord im Cockpit»

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Mord im Cockpit

von Wolf Heichele

Buchbeschreibung:

Ein Pilot kommt im Sturzflug ums Leben. Es stellt sich heraus, dass jemand nachgeholfen haben muss.

Im 4. Band ermittelt Commissario Montebello auf einem Privatflughafen – und wird dabei von einer neuen Kollegin unterstützt, die unter anderem Erfahrung im Kampfsport mitbringt.

Über den Autor:

Wolf Heichele ist ein deutscher Schriftsteller, der mit dem Kriminalroman "Verrat in Venedig" einen erfolgreicher Schritt in die Welt der Schriftstellerei machte.

Es folgten weitere Bände wie "Mord am Gardasee", "Der da Vinci Killer".

Wolf Heichele's Fans schätzen seinen Schreibstil, der fantasievoll und wortgewandt ist und die LeserInnen in spannende Welten entführt – ohne dabei zu blutig zu werden. Ganz im Stile guter Landhauskrimis.

Mord im Cockpit

Commissario Montebello ermittelt, Band 4

von Wolf Heichele

1. Auflage, 2021

© Alle Rechte vorbehalten.

Kapitel 1

Der Umberto-Nobile gehörte zu den schönsten Flughäfen, die Italien zu bieten hatte. Er lag ein Stück nordöstlich von Venedig und bei guter Fernsicht konnte man vom Tower aus die Südausläufer der Alpen sehen. Ein atemberaubendes Panorama – nicht zuletzt deswegen, weil entlang der Startbahn Pinien wuchsen, die sie wie eine Allee umsäumten. Die PilotInnen mussten bei der Landung präzise vorgehen, um nicht in den Bäumen zu enden. Dennoch liebten sie sie, denn schließlich machten sie den Flughafen zu etwas ganz Besonderem, und keiner wäre je auf die Idee gekommen, ihre Abholzung zu fordern. Eine Landebahn, die einer Baumallee glich, wo gab es das schon? Darüber hinaus ist die Gefahr ein steter Begleiter beim Fliegen. Das muss man wissen, und besonders abergläubische PilotInnen führen aus diesem Grund Maskottchen mit sich, die sie beschützen sollen. Manche von ihnen verlassen sich dabei sogar auf »Kleine Prinzen«. Doch dazu später.

Immer, wenn die Nacht über dem »Umberto-Nobile-Flugplatz« hereinbricht und die Alpen in der Ferne in tiefem Rot glühen, wenn die Begrenzungslichter der Taxiways königsblau erstrahlen und ein leiser Wind durch die Pinien rauscht, dann gibt es nur wenige Orte auf dieser Erde, die einen größeren Zauber verbreiten. Der Umberto Nobile ist übrigens ein Privatflughafen, der einem gewissen Signore Aristo Venti gehört, einem bekannten Geschäftsmann, der in den besten Kreisen verkehrt. Er ist das, was man landläufig einen »Selfmade-Millionär« nennen würde.

Mit einem lauten Ächzen öffnete sich das stählerne Rolltor des Hangars. Die Zugketten krachten, die Elektromotoren stöhnten, und die Schwalben, die hoch oben in der Halle ihre Nester hüteten, flogen aufgeregt umher, beglückt vom einfließenden Gold des Morgens, das in die Halle strömte.

Augusto Manello hielt seinen Daumen fest auf den Schalter des Rolltors gedrückt. Der alte Mechaniker war ein schwerer und klobiger Kerl. Er trug einen dunkelblauen, weit geschnittenen und ölverschmierten Overall, dazu eine weinrote Baseballmütze, die er stets tief ins Gesicht zog, weil er sich dies einst auf einer US-Militärbasis angewöhnt hatte. In Deutschland war das gewesen, vor fast fünfzig Jahren! Dort hatte er eine Mechanikerlehre gemacht und die G.I.s hatten ihre Mützen immer so tief getragen, dass man ihre Gesichter kaum hatte erkennen können. Das hatte dem jungen Augusto so sehr imponiert, dass er es nachahmte, und bis heute, da er sich schon im Rentenalter befand, beibehielt. Allerdings hätte man Augustos Gesicht auch ohne Baseballmütze nur schwer erkennen könnten, denn es war fast immer mit einer Ölschicht bedeckt – eine typische Berufskrankheit vieler Mechaniker –, vor allem aber der Flugzeugmechaniker, denn bei ihnen tropft das Öl in den meisten Fällen von oben.

Augusto nahm den Finger vom Schalter. Der Hangar war nun vollständig geöffnet. Er wischte sich die schmutzigen Hände an den Hosenbeinen ab, in der Art, wie es Menschen zu tun pflegen, die es bei der Arbeit mit Schmutz zu tun haben. Dann warf er einen Blick nach draußen. Im gleißenden Licht des Morgens erkannte er ein junges Paar, das auf ihn zukam. Der Mann, ein schlaksiger junger Kerl mit militärisch kurz geschnittenem Haar und lässigem Pilotengang, sowie eine aparte Blondine, fünfundzwanzig, und von graziler Gestalt. Sie war in einen langen figurbetonten, roten Trenchcoat gehüllt und trug einen auffälligen, akkurat gekämmten Seitenscheitel.

»Guten Morgen, Nora und Enzo«, rief Augusto den beiden zu und winkte sie zu sich.

»Ciao, Augusto«, rief Enzo, der junge Mann, zurück und das Paar betrat kurz darauf die weitläufige Halle. Eine Halle von wahrhaft formidablen Ausmaßen. Dreitausendfünfhundert Quadratmeter maß sie – fünfzig in der Breite und siebzig in der Länge. Sie bot Platz für insgesamt sieben Flugzeuge, die allesamt von Augusto Manello gewartet wurden. Darunter befanden sich drei Turboprop-Maschinen, die man für Charter- und Transportflüge benötigte, eine kleine knallgelbe »de Havilland Otter«, die für Kurierflüge eingesetzt wurde, sowie eine imposante, kraftstrotzende »de Havilland Buffalo« mit zwei Motoren, die bei großen Transporten zum Einsatz kam.

Dazu gesellten sich von Zeit zu Zeit verschiedene nostalgische Sammlerflugzeuge, die der Flughafenboss – Aristo Venti – hier restaurieren ließ, um sie anschließend gewinnbringend zu verkaufen. Derzeit befanden sich eine Messerschmitt 109, sowie eine originale englische Spitfire in der Halle. Bei beiden Maschinen handelte es sich um berühmte Jagdflugzeuge aus dem II. Weltkrieg, mit denen der Flughafenboss eine Menge Geld verdienen würde. Die Messerschmitt 109 hatte Augusto, der Mechaniker, nach dreimonatiger Arbeit am heutigen Tage fertiggestellt.

Enzo musterte die Maschine mit großer Neugier.

»Du hast sie tatsächlich hinbekommen, Augusto?«

»Natürlich. Ich mache diesen Job seit fünfzig Jahren, mein Junge«, betonte der Mechaniker, »und mir ist bisher noch keine Maschine abgestürzt.«

»Weiß ich doch, Augusto.« Enzo winkte entschuldigend ab, warf aber gleichzeitig einen prüfenden Blick auf die Werkbank. Dort türmten sich, wie üblich, eine Menge Ramazottiflaschen. Augusto Manello war seit vielen Jahren dem Trinken verfallen und jeder auf dem Flughafen wusste davon. Allerdings wusste auch jeder, was für ein hervorragender Flugzeugmechaniker er war. Und noch nie war ein Pilot wegen ihm in Gefahr geraten, deshalb tolerierte man seine Trinksucht. Enzo fiel allerdings auf, dass sich Augustos Trinkverhalten in den letzten Monaten verschlimmert hatte. Hatte er früher eine Flasche während der Arbeit geleert, so waren es mittlerweile zwei – ja, manchmal drei. Vor einigen Wochen hatte Enzo ihn deshalb zum ersten Mal direkt darauf angesprochen, doch Augusto hatte sehr gereizt reagiert, sodass Enzo die Sache nicht weiterverfolgte.

Jetzt aber wurde er durch den Anblick der vielen Flaschen nochmals nachdrücklich daran erinnert, dass sein Flugzeugmechaniker ein extremer Alkoholiker war. Und dies ausgerechnet an dem Tag, an dem er eine alte Maschine fliegen musste, die Augusto gewartet hatte.

Hätte er seine leeren Flaschen nicht wenigstens wegräumen können?, ärgerte sich Enzo. Ein Pilot muss sich auf seine Mechaniker verlassen können, verdammt! Drei Flaschen Schnaps pro Tag? Ist das noch tolerabel? Der Pilot versuchte, seine negativen Gedanken wieder zu verwerfen und hämmerte sich ein, dass auf Augusto dennoch Verlass wäre – Alkoholsucht hin oder her.

Vermutlich könnte er ohne Alkohol gar nicht arbeiten, beruhigte sich Enzo.

Augusto riss ihn aus seinen Gedanken.

»Die Messerschmitt ist bereit für dich, Junge! Aber bist du auch bereit für sie?«

»Wie? Ach so, ja. Natürlich bin ich das!«

»Bene!«

Augusto strich gefühlvoll mit der Hand über die Heckpartie der 109er, jenem wohl berühmtesten propellergetriebenen Jagdflugzeug, das je gebaut wurde.

»Ihre Mercedes-Benz-Motoren sind achtzig Jahre alt, Enzo, aber sie klingen noch immer wie neu. Als ob sie nie gelaufen wären. Und auch der Rest ist in einem Topp-Zustand. Die Technik, die Mechanik, die Armaturen, alles. Ich habe sie drei Monate lang auf Herz und Nieren geprüft.«

Enzos Bedenken verflogen zunehmend. Dieser Mann wusste genau, wovon er sprach. Niemand liebte Flugzeuge mehr als Augusto. Niemand verstand sie besser. Er war eins mit ihnen, sie waren quasi seine Seelenverwandten, zum Leben erwecktes Stahl. Und selbst in betrunkenem Zustand würde er bessere Arbeit leisten als jeder andere Mechaniker in ganz Norditalien. Enzo beschloss, sich von nun an nicht mehr um Augustos Trinkerei zu kümmern und sich der Maschine voll anzuvertrauen.

»Jetzt bist du an der Reihe«, rief Augusto ihm euphorisch zu, »bring sie heil nach Montenegro. Sie ist ein PS-Monster und nicht ganz leicht zu fliegen. Sie giert gewaltig nach rechts beim Start. Du musst ordentlich gegenhalten.«

»Du kennst mich, Augusto. Es gibt keinen besseren Flieger als mich – genau wie es keinen besseren Mechaniker als dich gibt.«

Die beiden Männer sahen sich für einen kurzen, höchst intensiven Moment fest in die Augen. Ein Moment, der erfüllt von gegenseitigem Respekt war, sodass alles, was zwischen ihnen stand, im Nu ausgeräumt war. Ein Moment, wie es ihn nur zwischen außergewöhnlichen Menschen geben kann.

Jetzt strich Enzo der Messerschmitt ebenfalls liebevoll über den Rumpf.

»Ein Meisterwerk der Ingenieurskunst! Findest du nicht auch, Nora?«

Er wandte sich seiner Frau zu.

»Ja, mein kleiner Prinz«, antwortete die zierliche Nora und gab ihm einen zarten Kuss auf die Wange.

»Sie ist wundervoll, Enzo. Schade nur, dass derartige Maschinen immer eine so dunkle Kriegsvergangenheit haben.«

Augusto intervenierte sofort.

»Papperlapapp! Das gilt ja wohl für fast jede Errungenschaft der Menschheit, denkst du nicht, Nora?«

Der Mechaniker mochte Nora’s Kritik nicht gelten lassen. Sein Weltbild war ein anderes, ein einfaches, geprägt vom Großvater, der ein glühender Verehrer des Duce gewesen war, sowie von seinem Vater, der nicht weniger fanatisch und als überzeugter Faschist durchs Leben gegangen war. Und Augusto selbst war zeit seines Lebens viel zu sehr mit Flugzeugen beschäftigt gewesen, als dass er Zeit gefunden hätte, die italienische Vergangenheit selbstkritisch aufzuarbeiten. Und wenn er doch einmal eine freie Minute gehabt hatte, so hatten seine geliebten Kräuterliköre tiefergehende Gedanken stets ertränkt.

Und so fügte er voller Überzeugung und mit Inbrunst hinzu: »Die größten Dinge wurden in Kriegszeiten entwickelt, Nora. Man darf nicht zimperlich sein. Denk nur an all die Schiffe, die Autos, die Panzer, die im Krieg entwickelt wurden. Not macht erfinderisch. Andernfalls würden wir heute noch zu Fuß gehen. Würdest du das wollen? Eine schöne junge Frau wie du? Sich im Morast die teuren Schuhe kaputt latschen, weil niemand je ein Auto erfunden hat?«

Wurden Autos denn wirklich im Krieg erfunden?, fragte sich Nora insgeheim, winkte dann aber genervt ab. Sie verspürte keine Lust, diese Art von Diskussion zu vertiefen. Augusto war eben Augusto! Zudem war er ihr mit jedem Wort ein Stückchen nähergerückt und seine Alkoholfahne roch schon am frühen Vormittag äußerst unangenehm.

Augusto warf einen Blick auf die riesige, weiße Bahnhofsuhr, die hoch oben – zwischen zwei Schwalbennestern – ihren Dienst tat. Der rote Sekundenzeiger arbeitete sich emsig voran.

»Du musst dich umziehen gehen, Enzo. Es ist gleich zehn! Und vergiss den Fallschirm nicht!«

»Natürlich nicht.«

Zwanzig Minuten später stand Nora mutterseelenallein am Rand der Startbahn, den Kragen wegen des auffrischenden Windes hochgestellt und den Blick auf die Messerschmitt 109 geheftet, die bereits laut dröhnte. In wenigen Augenblicken würde Enzo die Parkbremse lösen, das Flugzeug würde sich schütteln wie ein Biest und zweitausend PS würden die Kraft von einhundert Elefanten entwickeln und die Maschine wie einen ausgehungerten Raptoren über die Startbahn rasen lassen.

Enzo gab vollen Schub, die Messerschmitt setzte sich zitternd in Bewegung und schon bald hob das Heckrad vom Boden ab, während die Vorderreifen noch Bodenkontakt hielten. Dann – auf halber Höhe der Startbahn – zog Enzo sie ruckartig nach oben und stieg mit ihr empor wie Phoenix aus der Asche. Ein beispielloses Spektakel! Vollkommen surreal! Und doch fand es statt. Direkt vor Nora’s Augen.

Genau dafür war dieses Luder von einem Flugzeug gebaut worden. Es sollte katapultartig steigen können, um Feinden überlegen zu sein. Nora hörte das Brüllen des Motors. Es klang diabolisch, ungezähmt, wie ein Schrei Wotans. Ja, mit solch metaphorischen Worten hatte der Flughafenboss Aristo Venti die Maschine vor einigen Tagen beschrieben, als Nora mit Enzo den Hangar besucht hatte. Ein Schrei Wotans! Treffende Worte, wie Nora angesichts dieser Vorstellung fand.

Enzo flog eine scharfe Rechtskurve und setzte zu einer Platzrunde an. Diese flog er immer, wenn Nora ihm zusah. Allerdings kam das selten vor, denn Nora mochte Flugzeuge eigentlich nicht besonders gern. Sie hatte sogar große Angst vor dem Fliegen und hatte noch nie mit Enzo in einer Maschine gesessen. Enzo liebte seine Frau dennoch über alles, auch wenn sie seine Leidenschaft nicht mit ihm teilen konnte.

»Flieg wohl, mein kleiner Prinz«, flüsterte Nora und presste ihre Lippen nervös aufeinander, als Enzo an ihr vorbeiflog und dann wieder steil nach oben zog.

Sie winkte ihm ein letztes Mal zum Abschied zu und schlenderte dann langsam zu ihrem Wagen zurück, als Enzo außer Sichtweite und kaum noch zu hören war.

Plötzlich aber fuhr Nora wieder herum. Der Motor der Maschine heulte wieder auf!

Doppelt so laut wie vorhin!

Er schrie förmlich!

Enzo hatte kehrtgemacht und flog in einem steilen Sturzflug direkt zurück. Dies geschah in einem solchen Höllentempo, dass das Flugzeug im Erdboden einschlug, noch ehe Nora begriff, was geschah.

Kapitel 2

»Hallo? Signore di Grassi?«

Der Chef vom Morddezernat, Franco di Grassi, lugte mit seinem rundlichen Kahlkopf hinter einem der Aktenstapel hervor, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. »Ja, bitte? Wer verlangt nach mir?«

Dem vielbeschäftigten Polizeipräsidenten stand der Sinn im Moment nicht nach Gesellschaft, doch die Stimme der Person, die an seine angelehnte Bürotüre geklopft hatte, hatte charmant genug geklungen, um sein Interesse zu wecken. Die meisten Stimmen, die di Grassi im Polizeialltag zu hören bekam, klangen langweilig. Es fehlte ihnen an Melodie und Charme, wie er fand. Dabei war die Sprechmelodie doch die Grundlage einer guten Unterhaltung. Das wusste er als ehemaliger Schauspieler nur zu gut, und so pflegte er seinen Kolleginnen und Kollegen gelegentlich die Leviten zu lesen, wenn sie sich allzu mundfaul gaben.

»Wem gehört diese angenehme Stimme?«, säuselte er deshalb zufrieden.

Alessandra Zarro steckte ihren Kopf in sein Büro und konnte sich ein spontanes Lächeln nicht verkneifen. Der Polizeipräsident wirkte wie ein neugieriger Maulwurf hinter seinen Aktenstapeln.

»Hallo, ich bin Alessandra Zarro«, stellte sich die junge Dame vor und versuchte, ernst zu bleiben.

»Ich sollte mich doch heute bei Ihnen melden.«

»Ah ja, die Neue!«

Di Grassi schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Entschuldigen Sie bitte. Ich habe heute furchtbar viel zu tun. Da hätte ich Ihren Arbeitsbeginn fast vergessen.«

Er musterte sie. Vor ihm stand eine Frau Ende dreißig, athletisch gebaut und von beachtlicher Körpergröße. Ihre Größe musste einem kleinwüchsigen Mann wie ihm umso mehr auffallen, da er selbst kaum eins fünfundfünfzig maß. Genau diese geringe Körpergröße hatte einst seine Karriere als Schauspieler verhindert, weil er nur Nischenrollen bekam. Deshalb hatte er seine Karriere aufgegeben und war zur Polizei gewechselt.

»Sie sind eine große Frau, Alessandra«, ließ er nun recht plump verlauten und schob noch ein Wie groß sind Sie denn genau? hinterher – bevor ihm einfiel, dass sich diese indiskrete Fragerei einer Frau gegenüber nicht gehörte. Aber Alessandra lachte nur. Sie war solche Fragen offenbar gewohnt.

»Ich weiß selbst, dass ich groß bin«, antwortete sie keck. »Und Sie sind bei Weitem nicht der erste Mann, dem dies auffällt.«

Di Grassi schämte sich.

»Es tut mir leid, Signora. Es ist mir so rausgerutscht ...«

»Schon gut, Signore di Grassi. Ich bin einen Meter neunundachtzig, wenn Sie es genau wissen möchten.«

Dann ließ sie eine freche Gegenfrage folgen, die sie immer zu stellen pflegte, wenn sie von Männern nach ihrer Größe gefragt wurde:

»Und wie groß sind Sie denn?«

Wie hätte Alessandra ahnen sollen, in welch prekäre Lage sie ihren neuen Boss damit bringen würde? Wie hätte sie ahnen können, dass er unterdurchschnittlich klein war?

Di Grassi aber nahm es ebenso gelassen wie Alessandra selbst. Er schob zwei Aktenstapel auseinander, sodass sie ihn gut sehen konnte, und stand auf.

»Ich bin keine eins neunundachtzig, wie Sie sehen können!«, lachte er glucksend.

Genau wie Alessandra hatte auch er gelernt, mit seiner ungewöhnlichen Körpergröße umzugehen.

Nun war es Alessandra, die im Erdboden versinken wollte. Zudem handelte es sich um den Mann, der ihrer neuer Vorgesetzter beim Morddezernat sein würde.

Doch di Grassi zwinkerte ihr wohlwollend zu.

»Damit wären die Formalitäten wohl erledigt«, meinte er lächelnd und bot ihr einen Sitzplatz an.

»Danke, Signore di Grassi.«

Alessandra nahm Platz und di Grassi sah sie sich genauer an. Sie gefiel ihm. Ihre Gesichtszüge wirkten energisch, ihr Kinn war kräftig und ihr Blick strahlte Ruhe und Wachsamkeit aus. Ihr dunkles Haar war kurz geschnitten und mit Gel nach hinten gekämmt. Das gab ihr das Antlitz einer Kämpferin, ja, ließ sie fast arrogant wirken. Doch sobald man sie sprechen hörte, verflog dieser Eindruck schnell, denn Alessandra sprach langsam und unaufgeregt, und ihre Stimme klang warm und kraftvoll. Außerdem verfügte sie über eine tadellose Personalakte, wie di Grassi wusste, und ihm lagen zusätzlich zwei Empfehlungsschreiben ihrer früheren Vorgesetzten vor, in denen sie förmlich angepriesen wurde. Es sei an der Zeit, dass dieses Naturtalent zum Morddezernat stoße, hieß es in einem der Schreiben.

Di Grassi orderte zwei Tassen Kaffee bei seiner Sekretärin und begann mit dem Einführungsgespräch. Hierbei setzte er Alessandra unter anderem darüber in Kenntnis, dass sie von einem gewissen Commissario Montebello eingearbeitet werden würde, der zu den besten seines Faches gehören würde.

»Ich habe schon von ihm gehört«, antwortete Alessandra.

Kapitel 3

Das Gespräch zwischen Alessandra und di Grassi war abrupt unterbrochen worden, als die Meldung über einen tödlichen Flugzeugabsturz eingegangen war. Da es sich um einen erfahrenen Piloten gehandelt hatte, sei ein Mord nicht auszuschließen, hatte es geheißen, und so befand sich Alessandra kaum zwanzig Minuten nach ihrem offiziellen Dienstbeginn auf dem Weg zu ihrem ersten Mordfall – neben Commissario Montebello sitzend, der seine feuerrote Alfa Giulietta mit Vollgas in Richtung Tatort steuerte.

Montebellos Laune war allerdings nicht die beste an diesem Vormittag. Er war es gewohnt, alleine zu arbeiten, und das Einarbeiten neuer KollegInnen gehörte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen – nicht zuletzt deswegen, weil ihn dies jedes Mal an einen früheren Fall erinnerte, in dem sich ein neuer Mitarbeiter als Triebtäter herausgestellt hatte. Montebello dachte nicht gern an diese Episode zurück, die er gern als »Verrat in Venedig« bezeichnete.

Dennoch versuchte er, ein erstes Kennenlerngespräch mit seiner neuen Kollegin zu führen. Immerhin würde sie ihn die nächsten drei Monate begleiten, und sie wirkte interessant und außergewöhnlich genug, um ihn neugierig zu machen.

»Sie heißen Alessandra, richtig?«, begann er.

»Das ist korrekt, Commissario. Alessandra Zarro.«

»Ihre Akte liest sich beeindruckend. Ich konnte gestern einen Blick darauf werfen. Sie haben die letzten zehn Jahre für die Sitte gearbeitet, verfügen über eine Nahkampfausbildung und haben sogar Martial-Arts-Kämpfe bestritten. Das allein klingt schon äußerst spannend. Was ich aber am Interessantesten fand, war die Bemerkung Ihres früheren Vorgesetzten, dass Sie eine begabte Profilerin sein sollen. Dies ist der Punkt, der mir besonders gut gefällt, denn eine solche Begabung findet man nicht oft. Woher rührt diese Fähigkeit? Sie scheinen eine Art Superwoman zu sein, wenn man den Vorschusslorbeeren ihrer früheren Bosse Glauben schenken kann.«

Alessandra grinste. So viel Humor hatte sie Montebello nicht zugetraut. Nicht, nachdem er sie während der ersten fünf Minuten seit Fahrtbeginn nur stoisch angeschwiegen hatte. Offenbar hatte er ein paar Minuten gebraucht, um richtig wach zu werden.

»Nein, Superwoman bin ich sicherlich nicht«, antwortete sie, »ich denke, dass es an meiner harten Jugend liegt. Ich wuchs in einem Vorort von Rom auf, verbrachte viel Zeit in Gangs, trieb mich in einschlägigen Vierteln herum – das hat mich geprägt. Deshalb kann ich mich wohl gut in die Denkweise von Kriminellen hineinversetzen.«

»Hm, klingt logisch. Aber sagen Sie, wie kamen Sie aus diesem Milieu denn wieder heraus? Das gelingt nicht vielen.«

»Zufall! Meine Eltern mussten umziehen, weil mein Dad einen neuen Job in Norditalien bekam, und so kam ich schlagartig in ein völlig neues Umfeld – und damit in wesentlich ruhigeres Fahrwasser. Und mit siebzehn Jahren hatte sich alles um einhundertachtzig Grad gedreht. Plötzlich fasste ich sogar den Entschluss, Polizistin werden zu wollen. Nicht zuletzt, um meine Vergangenheit endgültig hinter mir zu lassen – respektive, sie sinnvoll zu nutzen. Meine Mutter freute sich damals unendlich darüber, denn eine Zeit lang hatte es in Rom wirklich danach ausgesehen, als würde ich den Absprung nicht mehr schaffen.«

»Hatten Sie denn auch mit Drogen zu tun, wenn Sie mir diese indiskrete Frage erlauben?«

»Nun, ich will ehrlich sein, Commissario. Haschisch habe ich mal ausprobiert, ließ aber sofort wieder die Finger davon. Das war nichts für mich. Ich verlor die Kontrolle, das gefiel mir nicht. Ich habe gern die Kontrolle über mich und meine Umwelt.«

Montebello nickte anerkennend.

»Es freut mich, dass Sie die Kurve gekriegt haben.«

Er legte seine anfängliche Zurückhaltung Alessandra gegenüber zunehmend ab. Sie schien in Ordnung zu sein. Sie hatte nicht vergessen, woher sie kam, verfügte über ein hohes Maß an Selbstdisziplin und wirkte ehrlich. Alles in allem ein positiver erster Eindruck, fand Montebello.

»Ab heute sind Sie in der Königsdisziplin, Alessandra. Beim Morddezernat. Hier werden neue Herausforderungen auf Sie warten.«

Montebello bog mit quietschenden Reifen nach rechts ab.

»Ich weiß, Commissario. Umso mehr freut es mich, von einem Profi wie Ihnen eingearbeitet zu werden. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«

Montebello gab sich bescheiden.

»Ach, ich kenne einige der Geschichten, die über mich erzählt werden. Die Leute übertreiben gern. Geben Sie nicht allzu viel darauf. Folgen Sie lieber Ihren eigenen Instinkten. Diese sind elementar in unserem Beruf. Versuchen Sie immer, frei und unvoreingenommen zu urteilen, damit werden Sie die größten Erfolge erzielen. Auf diese Weise kann Ihnen kein Zeuge oder Verdächtiger so leicht etwas vormachen.«

»Ist das schon meine erste Lektion, Boss?«, antwortete Alessandra lächelnd.

»Wenn Sie so wollen, ja. Übrigens: Sie müssen mich nicht Boss nennen. Ich bin Mauro. Und Sie können mich gern duzen.«

»Oh, das freut mich. Ich bin Alessandra.«

Alessandra strahlte. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten hatte sich ihr Kennenlerngespräch doch positiv entwickelt, und sie reichte Montebello zufrieden die Hand.

»Es freut mich wirklich sehr.«

»Mich ebenfalls, Alessandra.«

Als die beiden knapp zehn Kilometer vom Flughafen entfernt waren, konnten sie eine senkrecht aufsteigende, pechschwarze Rauchsäule am Himmel erkennen, die so starr und regungslos wirkte, als wäre sie von einem Maler in den Himmel gezeichnet worden. Der Einschlag der Maschine musste fürchterlich gewesen sein.

»Du meine Güte!« Alessandra konnte kaum glauben, was sie sah. »Um was für ein Flugzeugmodell handelte es sich bitte? Um einen Jumbo-Jet?«

»Ich weiß es nicht, Alessandra. Allerdings kenne ich den Umberto Nobile Flughafen aus früheren Tagen. Es ist ein Privatflughafen. Hier landen normalerweise kleine bis mittelgroße Maschinen. Für große Jets ist die Landebahn zu kurz. Sie ist nur für Propellerflugzeuge gedacht.«

»Oh, Sie kennen sich mit Flugzeugen aus?«

»Du!«, korrigierte Mauro.

»Sorry. DU kennst dich mit Flugzeugen aus?«

»Ja, ein wenig«, erklärte Mauro, »doch das Einzige, das ich selbst fliegen kann, ist ein Flugdrachen. Dies kam mir bei einem Fall in der Vergangenheit übrigens mal zugute. Es ging um einen Mord am Gardasee.«

»Wirklich? Das klingt spannend. Das musst Du mir unbedingt einmal erzählen. An den Legenden über dich scheint also doch etwas dran zu sein?«

»Nun ja, den einen oder anderen Fall hab ich schon gelöst, das will ich ja gar nicht bestreiten. Manchmal auch mit unorthodoxen Mitteln, wenn man so will. Ich werde dir die Geschichte vom Gardasee erzählen, sobald wir Zeit dafür finden. Ich konnte den Täter damals aus der Luft überwältigen.«

»Wow! Klingt nach James Bond!«

»Na ja, letztlich habe ich meinen Job gemacht. Du musst mir im Gegenzug erzählen, was es mit deinen Martial-Arts-Fähigkeiten auf sich hat. Angesichts des Milieus, in dem du ermittelt hast, kamen diese beizeiten sicher zum Einsatz?«

Alessandra drehte ihren Kopf zum Seitenfenster.

»Hin und wieder«, murmelte sie.

»Bescheidenheit ist eine lobenswerte Tugend«, sagte Montebello und lächelte anerkennend.

Er bog auf eine lange, zwei Kilometer lange Gerade ab, die direkt zum Flughafen führte. Die Straße war ausschließlich für den Flughafen gebaut worden und wirkte wie ein verlassener Highway in den endlosen Weiten Nordamerikas. Auf halber Strecke kamen die beiden Ermittler an einer großen, bronzefarbenen Erdkugel vorbei, die fünf Meter im Durchmesser maß und auf einem quadratischen Betonsockel ruhte. Ein wahrlich gigantisches Symbol. Der Globus war umringt von einem roten Banner, auf dem in goldener Schrift »Welcome to Umberto Nobile Airfield« geschrieben stand.

»Recht beeindruckend«, fand Alessandra. »Da scheint jemand mächtig stolz auf seinen Flughafen zu sein.«

Mauro nickte.

»Ja, definitiv.«

Der Flughafen konnte von jeder Person frei befahren werden. Es gab kein Tor und auch keine Schranke. Montebello erklärte Alessandra, was es damit auf sich hatte.

»Hier werden nicht nur Charter- und Transportflüge angeboten, sondern auch Rundflüge für Privatpersonen. Darüber hinaus gibt es eine kleine Flughafenkantine, die von den Leuten besucht wird, die sich Starts und Landungen ansehen wollen oder sich nach ihren Rundflügen eine Tasse Kaffee gönnen möchten. Ich war selbst ein paar Mal mit meiner Familie dort.«

»Du hast eine Familie? Wie schön.«

Alessandras grüne Augen begannen zu leuchten.

»Ja, meine Frau Micaela und einen gemeinsamen Sohn, Jarno. Er ist neun Jahre alt, feiert aber morgen seinen zehnten Geburtstag.«

»Wie schön! Familie ist etwas Wunderbares. Ich hoffe, dass du morgen etwas Zeit für ihn an seinem Ehrentag finden wirst.«

»Das hoffe ich auch.«

Die junge Ermittlerin war für einen Moment ins Schwärmen geraten, wurde aber schnell wieder ernst: »Ich selber habe es bis heute nicht einmal geschafft, eine halbwegs stabile Beziehung aufzubauen – geschweige denn, an Nachwuchs zu denken. Tja, das liegt wohl am Beruf. Umso erstaunlicher, dass es bei dir klappt. Wie hast du das hinbekommen? Was ist der Trick?«

»Ich hatte Glück, würde ich sagen. Das große Glück, in Micaela jemanden gefunden zu haben, der seelisch stark genug war, dem Stress zu trotzen und genug Vertrauen in mich zu setzen, dass ich Tag für Tag heil zurückkehren würde. Anders wäre es nicht gegangen. Allerdings darf ich dir sagen, dass in mir mittlerweile der Gedanke reift, in den Innendienst zu wechseln, seitdem unser Sohn auf der Welt ist. Unser Boss, di Grassi, würde mich dort übrigens gern sehen. Er möchte längst in Rente gehen und sucht verzweifelt nach einem würdigen Nachfolger.«

»Di Grassi will in Rente gehen? Oh, das wäre schade. Er ist so ein sympathischer Mann. Und irgendwie lustig. Allerdings würde ich dir den Job natürlich auch gönnen. Aber erst, nachdem du mich eingearbeitet hast, abgemacht?«

Montebello lachte.

»Abgemacht!«

Die beiden erreichten den Flughafen und die Rauchsäule wirkte aus der Nähe noch deutlich bedrohlicher. Montebello parkte seinen Wagen direkt am Tower.

Ein gut gekleideter Mann in einem dunkelgrauen Maßanzug mit modischem weißem Schal und blondem Haar, das er zu einem Zopf zusammengebunden hatte, erwartete sie dort.

»Ich bin Aristo Venti«, stellte er sich vor, »der Inhaber dieses Flughafens.«

Montebello und Alessandra stellten sich ebenfalls vor und zeigten ihre Dienstausweise.

»Was ist passiert?«, fragte Montebello.

»Ich saß oben im Tower, wo ich die meiste Zeit verbringe. Von dort aus konnte ich den Absturz live mitverfolgen.«

Tasuta katkend on lõppenud.

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