Loe raamatut: «Volles Rohr»

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Wolfgang Breuer

Volles Rohr

Ein Wittgenstein-Krimi


Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang Breuer

Volles Rohr

Ein Wittgenstein-Krimi

Coverfoto: Wolfgang Breuer

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

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eISBN 978-3-96136-037-6

Print-ISBN 978-3-96136-036-9

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Inhalt

Montag, 7. März

Dienstag, 8. März

Mittwoch, 9. März

Donnerstag, 10. März

Freitag, 11. März

Montag, 7. März

„Ich würde Ihnen das alles ja furchtbar gerne glauben, was Sie mir hier erzählen. Aber mir fehlt der Aufhänger dazu. Wer, um alles in der Welt, soll denn der Empfänger dieser Post sein?“

Pattrick Born saß in seinem Büro einer rund 25 Jahre alten Frau gegenüber, die sich krampfhaft an ihrem Rucksack festhielt. Eine sportliche Blondine in schmuddeligem Winter-Wanderoutfit. In früheren Tagen hatte sie sicher häufiger mal eine Dusche oder zumindest eine Waschgelegenheit gesehen. In den letzten zwei, drei Tagen aber mit Sicherheit nicht.

„Die stinkt wie ein Iltis“, hatte Jürgen Winter seinem Kollegen zugeraunt. Der hatte sie nämlich am Berleburger Busbahnhof „abgegriffen“, wie die Polizei einen solchen Zufallsfang nannte. Die Frau war gerade dabei gewesen, Pennälern kleine Beutelchen zu verticken, deren Inhalt verdächtig nach geschrotetem Heu aussah.

Der Kommissar hatte sich in der Vergangenheit schon oft zu den Wartenden an einer der Haltestellen gesellt und Ausschau gehalten, war aber nie so recht fündig geworden. Doch diesmal konnte er recht offene Transaktionen eben dieser Dealerin beobachten. Ein Gramm Haschisch für zehn Euro. Der Zulauf von 14- bis 18-Jährigen war beträchtlich.

Mehrere der Verkäufe hatte er klammheimlich mit seinem Smartphone fotografiert, manche sogar gefilmt. Als sicheren Beweis. Zwar hätte er sich die Schüler sofort vornehmen können, streng gesehen sogar müssen. Aber dann wäre ihm die Dealerin abgehauen. Und genau das wollte er vermeiden. Sein Zielobjekt war sie.

Nach fünf, sechs dokumentierten Deals schlug er zu. Mehr im Vorbeilaufen. Das war eine schon oft erfolgreich geübte Taktik. Nachdem er, immer wieder mal auf die Uhr und sein Smartphone schauend, den Bussteig gewechselt und sich knapp an der Frau vorbeigeschlängelt hatte, griff er sie von seitlich hinten an, drehte ihr blitzartig den rechten Arm auf den Rücken und gab ihr damit keine Chance. „Polizei!“, rief er, „bleiben Sie bitte ganz ruhig. Dann wird Ihnen nicht wehgetan.“

Drei, vier vermeintliche Kunden der Frau stoben davon und drängelten sich eilends durch eine ganze Korona von Schülern, die mit gezückten Fahrscheinen gerade in einen Bus einsteigen wollten. Die Dealerin wäre ebenfalls zu gerne getürmt, kapierte aber beim ersten Versuch blitzartig, dass ihr jede weitere Bewegung nur Schmerzen eingehandelt hätte. Nach vorne gebeugt, ihr Hinterteil zwangsläufig Richtung Winter herausstreckend, ließ sie das Anlegen der Handschellen über sich ergehen.

„Was willst Du, Bulle?“, brachte sie stöhnend heraus. „Willste ‘ne billige Rektal-Nummer schieben, oder was?“

Jürgen wollte auf diese obszöne Ansprache antworten und riss sie zu sich herum. Aber dabei waberte ihm ihr nach altem Schweiß und kaltem Zigarettenrauch müffelnder Körpergeruch entgegen. Unweigerlich drehte er den Kopf außer Riechweite. „Nee, will ich wirklich nicht“, hatte er seine Geruchssinne wieder sortiert. „Aber Sie sind vorübergehend festgenommen.“

Natürlich war die Aktion der große Bringer für die Halbwüchsigen, von denen manche den Bus einfach Bus sein ließen, um der Show beizuwohnen. Einer von ihnen, offenbar der ganz große Zampano, beschimpfte Winter auf das Übelste. „Ey, Du Scheißbulle, lass´ die Frau los! Aber sofort! Die hat Dir nichts getan. Hab´ ich genau gesehen.“

„Komm Junge, sei bitte vernünftig und stör´ mich nicht bei meiner Arbeit. Mach mal´n bisschen Platz hier.“

Der Knilch, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, Pickelgesicht und Einheitsfrisur „Brötchen“ auf dem Kopf, hatte irgendwie gecheckt, dass ihm der Polizist nichts konnte, solange der die Frau am „Wickel“ hatte. Also drehte er noch ein wenig an der Provokationsschraube: „Ich werde Dich anzeigen, Bulle, wegen Freiheitsberaubung. Hier gibt´s jede Menge Zeugen, die gesehen haben, wie Du mit der Frau umgesprungen bist.“

Die Umherstehenden johlten vor Begeisterung. Da traute sich doch tatsächlich einer der ihren, einem Bullen so richtig die Hörner zu verbiegen. Wie geil war das denn? Winter musste tief Luft holen, um nicht loszubrüllen. Also ließ er sich zwei Sekunden Zeit für seine Antwort.

„Pass´ mal auf, mein Lieber, Du machst einen ziemlich schlecht erzogenen Eindruck. So was mag ich überhaupt nicht. Ich …“

„Ich bin nicht Dein ‚Lieber’, Du Knöllchenschreiber“, unterbrach ihn der aggressive Schüler. „Und was Du magst, ist doch klar. Du willst ja wirklich nur ‘n Nümmerchen schieben mit der Madame hier. Oder warum ziehste sie so hinter Dir her?“

Feixend lief der Maulheld neben Jürgen her, der die Festgenommene mit der linken Hand an deren Handschellen festhielt und mit der Rechten ihre Schulter führte. Doch diese Hand wurde mit einem Schlag überflüssig für die Probandin, schoss rüber zu dem total „geflashten“ Pennäler und packte ihn am Kragen seiner Winterjacke.

Mit einem Ruck riss Jürgen Winter den Rotzbock herum, knallte ihn mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Busses und brüllte ihm, Nase an Nase, ins Gesicht:

„Wenn Du nicht augenblicklich Deine große Klappe hältst, dann schraub´ ich Dir Deinen Piephahn raus, Du Kasper! Gaaaanz langsam, weißt Du. Und außerdem überlege ich mir, ob ich Dich nicht vielleicht anzeigen sollte – wegen Beamtenbeleidigung und Behinderung von Polizeiarbeit.“

Dem anderen blieb die Luft weg. Allerdings nicht unter dem Griff des Beamten, sondern wegen der Gewissheit, dass es gleich eins auf die Schnauze geben könnte.

Doch Winter blieb besonnen und hielt seine beiden Kandidaten mit ruhigem, stahlhartem Griff in jeweils unangenehmer Position.

„So. Und jetzt sieh zu, dass Du nach Hause kommst, Du jämmerliche Pfeife. Und lass´ Dir von Deiner Mama bei Kaba und Marmorkuchen mal erzählen, wie sehr sie Dich dafür bewundert, dass Du die Festnahme einer Rauschgifthändlerin vereiteln wolltest. Viel Spaß dabei!“

Der Angebrüllte wurde weiß wie eine Wand. Seine Knie zitterten gottserbärmlich. Und wieder johlte die Menge. Endlich war das Großmaul aus ihren Reihen mal so richtig zur Sau gemacht worden. Sogar von einem echten Bullen. Wie geil war das denn? So schnell ändern sich die Fronten.

‚Solche Freunde muss man sich erarbeiten’, dachte Jürgen und ließ den total am Boden zerstörten Knilch los. Wie ein geprügelter Hund stieg der jetzt in den Bus und war wohl froh, dass der Busfahrer ein Einsehen hatte und hinter ihm die Türe schloss.

Mit angewidertem Gesichtsausdruck hatte er die arretierte Dealerin an der Kioskmauer kurz gefilzt und, soweit das einem Mann bei einer Frau erlaubt ist, auf Waffen abgesucht. Gesichert durch einen Kollegen, mit dem Winter zusammen auf Stadtstreife unterwegs war. Der hatte sich aber für kurze Zeit verdrücken und einem dringenden Bedürfnis nachgehen müssen. So hatte er den ganzen Zinnober hier nicht mitbekommen. ‚Schade’, dachte Winter, ‚dabei hätte er was lernen können.’

Beim Filzen war den beiden Beamten so einiges in die Hände gefallen, was ihre geballte Aufmerksamkeit erregt hatte. In der rechten Seitentasche des Rucksacks, dort wo der Wanderer üblicherweise seine Trinkflasche positioniert, gab´s jede Menge kleiner Tütchen mit Gras. Und in der linken Hosentasche ordentlich was an Geldscheinen. 5er, 10er, 20er.

Das Prinzip war klar. Bei Anfrage konnte rechts schnell die geforderte Anzahl an „Stoff“-Tütchen hervorgeholt werden, während links die entsprechende Summe kassiert und eingesackt wurde.

Neben den Grasportionen hatten die Polizisten noch jede Menge Dope aller möglicher Provenienzen und Zusammensetzungen zutage gefördert. Alle schön säuberlich verpackt und, wie im Warenhaus, mit Preisschildchen versehen. Großabnehmer-Rabatte gab´s offenbar nicht.

Das Aufregendste in dem Rucksack allerdings war ein großes gefüttertes Kuvert. Drinnen eine Marihuana-Platte. Ein Kilo schwer. Marktwert rund 10.000 Euro. Adressiert an einen „Klaf“.

„Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was da in diesem Umschlag steckt“, schwor die Frau, die immer noch nicht bereit war, ihren Namen zu nennen. Seit einer guten Stunde ging das nun so. Und Pattrick Born, der knallharte Vernehmer mit der Nase eines Spürhundes, litt wie ein Tier. Am liebsten hätte er der Frau vor seinem Schreibtisch die Klamotten vom Leibe gerissen und sie in ein Sagrotan-Bad gestopft. Aber nicht etwa, weil er sie so begehrte. Sondern weil sie ihm rein olfaktorisch gegen den Strich ging. Mit anderen Worten: ihm stank ihre ungewaschene Anwesenheit gewaltig.

‚Das muss ich mir nun wirklich nicht geben’, dachte sich Pattrick. Aber wie macht „Mann“ dieser Frau klar, dass es hier unter keinen Umständen weitergeht, bevor sie sich einer intensiven Körper- und Klamottenreinigung unterzogen hat? Das konnte er ihr nicht so einfach vor den Koffer hauen. Denn bei der Polizei hat jeder das Recht auf menschenwürdige Behandlung. ‚Nur’, sinnierte er weiter, ‚ist meine Würde etwa nicht in Mitleidenschaft gezogen, wenn hier die ganze Bude stinkt?’

Aber dann kam ihm die Erleuchtung. Es war ja noch eine Leibesvisitation fällig. Vorhin, als die hatte stattfinden sollen, war keine weibliche Beamte im Revier gewesen. Vielleicht hatte sich das geändert.

Ein kurzer Anruf beim Diensthabenden – und schon war Kommissarin Claudia Siegemund auf dem Weg, um der Probandin im wahrsten Sinne des Wortes an die Wäsche zu gehen.

Ein Double-win-Geschäft für die Frau, wie sich später herausstellte. Claudia war nämlich erfolglos bei der Suche nach weiteren verbotenen Stoffen, Geld und dergleichen mehr geblieben. Und die Namenlose hatte plötzlich Geschmack an einer heißen und ausgiebigen Dusche bekommen. Plus Trainingsanzug der Polizei. Denn ihre Kleider waren schon, während sie sich noch abtrocknete und föhnte, in der Waschmaschine für Einsatzanzüge verschwunden.

Sie roch gut, als sie, mit offenem, wallendem Haar und in „Bullenblau“ wieder auf dem Stuhl vor Pattrick Born Platz nahm. Der hatte natürlich in der Zwischenzeit nicht nur ausreichend gelüftet. Er hatte auch den Rucksack der Blonden Millimeter für Millimeter untersucht. Nichts! Nicht einmal ein Zettelchen, das Auskunft über die Identität seiner Gegenüber hätte geben können.

„Wollen Sie mir jetzt vielleicht Ihre Personalien nennen? Ich nehme an, Sie haben sich ordentlich erfrischen können und sind jetzt vielleicht ein wenig besser drauf.“

„Ich habe nicht die Absicht“, erwiderte sie. „Jetzt nicht und auch nicht später. Vergessen Sie´s einfach.“

Plötzlich war da ein komischer, rhythmisch klingender Brummton zu hören. Die Fremde blickte erschreckt nach unten. Pattrick auch. Es brauchte seine Zeit, bis er kapierte, dass dort einer der Trekkingschuhe der Frau sachte vibrierte. Die Schuhe hatte sie direkt neben ihrem Rucksack am Boden deponiert und bückte sich nun danach.

Born hatte begriffen. Er ließ seinen Bürostuhl nach hinten rauschen, fiel blitzartig auf die Knie und tauchte unter dem Schreibtisch hindurch zu ihr herüber. Dort riss er ihr die Schuhe aus der Hand und krabbelte wieder zurück.

Es vibrierte noch immer – in der rechten Schuhsohle. Pattrick hatte nach zwei Versuchen den Dreh raus, klappte die Sohle zur Seite weg, griff hinein und beförderte ein Smartphone ans Tageslicht, an dem er sofort das Gespräch annahm.

„Jou“, nuschelte er in die Muschel.

„Hey“, kam´s von der anderen Seite, „wer biss´n Du?“

„Der Pattrick“, nuschelte er zurück, als sei´s das normalste der Welt, an fremde Telefone zu gehen.

Kurze Pause beim Gesprächspartner. „Wo iss´n die Anna?“

„Hä?“

„Wo iss´n die Anna Berg?“

„Hier“, antwortete Born trocken und hätte laut jubeln können. ‚Bingo, hat geklappt, verdammt noch mal!’

„Warum bist Du dann an ihren Apparat gegangen? Wer bist Du denn?“ Der andere wurde unleidlich.

„Sach ich doch“, nuschelte er weiter. Der Pattrick. Aber mal ‘ne Gegenfrage. Wer bist Du denn?“

„Geht Dich nix an. Kann ich sie nun sprechen?“

„Nee.“

„Wie, ‚nee’?“

„Nee. Das ist doch wohl eindeutig.“

„Was soll denn dieser Blödsinn? Warum sagst Du, ich kann Anna nicht sprechen, wenn sie doch in Deiner Nähe ist? “

„Weil ich der Polizist bin, der sie gerade verhört.“

Auf der Anruferseite war es augenblicklich still geworden. Das Display des Smartphones zeigte Gesprächsende an.

Für die vermeintliche Anna war das alles viel zu schnell gegangen. Nicht einen Muckser hatte sie während der ganzen Prozedur von sich gegeben. Nur mit offenem Mund angehört, was Pattrick Born da gesagt hatte.

„Wer war´n das?“

„Weiß ich nicht. Hat er nicht sagen wollen, Frau Anna Berg.“

Poff! Die Angesprochene sackte in sich zusammen. Hatte der Blödmann da ihren Namen verraten. ‚So eine …’ Sie versagte sich, den Gedanken fertig zu denken. ‚Aufgeflogen, verdammt noch mal. Was mach´ ich ‘n jetzt?

„Psssst, Mäuslein, still. Bitte, bitte beruhige Dich.“ Klaus Klaiser wanderte im Kinderzimmer auf und ab und trug ein kleines, süßes Bündel in der rechten Armbeuge. Sein Töchterchen Luisa, gerade einmal drei Wochen alt. Am 15. Februar war das Würmchen geboren. Das Wunschkind der Klaisers. 53 Zentimeter groß, 3.550 Gramm schwer, bildhübsch, meistens hungrig und dann laut.

Letzteres brachte Klaus gerade an den Rand seiner nervlichen Belastbarkeit. Ute war nur kurz unter die Dusche gestiegen und hatte die Kleine seiner Obhut überlassen. Dem extrem stolzen Papa hätte eigentlich nichts Schöneres widerfahren können. Denn er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um mit Luisa zu schmusen und sie ‚auf Händen zu tragen.’ So, wie er es ihr in der Geburtsnacht flüsternd versprochen hatte.

Aber hatte sich was mit dem „auf Händen tragen.“ Die Kleine brüllte wie am Spieß. Von dem kleinen Gesichtlein war nur die Hälfte zu sehen. Der Rest war aufgerissener Schnabel. „Wääääh, wääääh, wääääh!“ Klaus geriet langsam in Panik. Unweigerlich fühlte er sich an Wilhelm Busch erinnert: „Früh belehrt sie die Erfahrung. Sobald sie schrie, bekam sie Nahrung.“

„Was machst Du denn mit ihr?“ Mit fast vorwurfsvoller Stimme nahte Ute, die sich in ihren Morgenrock gewickelt hatte und mit ausgestreckten Armen sofort bereit war, das Brüllkind zu übernehmen. Nur zu gern überließ er ihr Luisa. Und kaum hatte die Süße ihre Mama vernommen, setzte sie ihr Konzert aus und war plötzlich das bravste Kind der Weltgeschichte.

„Ich werde ihr was zu essen geben. Hast Du noch so lange Zeit? Oder musst Du zum Dienst?“, fragte Ute über die Schulter hinweg, während sie es sich in dem eigens angeschafften Stillsessel bequem machte und Luisa an die Brust anlegte. Gierig schmatzend begann das Baby seine Mahlzeit. Und Klaus schmolz dahin. Für ihn offenbarte sich das wunderbarste Bild, das er sich vorstellen konnte. Seine beiden Schätze, die er liebte bis zum Umfallen.

„Nein, Süße, ich muss. Ich hab´ dermaßen viel Arbeit auf dem Schreibtisch liegen. Die erlaubt auch keinen Aufschub mehr. Ich muss. Leider. Kommst Du denn wirklich allein zurecht?“

„Aber natürlich. Mach´ Dir um mich keine Gedanken. Schlaf´ mir aber bitte nicht ein während der Fahrt. Die letzten Nächte waren für Dich ja alles andere als erholsam.“

Tatsächlich hatte der Kriminalhauptkommissar in keiner der letzten gut 15 Nächte mehr als vier Stunden geschlafen.

Jeder kleinste Muckser des Babys hatte ihn aufstehen und zum Kinderzimmer rüberrennen lassen. Um dort mit der weinenden Luisa auf dem Arm herumzuwandern, ihr leise Lieder vorzusingen, sie zu Ute ins Schlafzimmer zu bringen oder einfach ihr Einschlafen zu bewachen. Klaus war platt. Und das sah man ihm auch an.

Als er gegen 13 Uhr die Dienststelle betrat, roch es seltsam in den Fluren des Kommissariats. Irgendwie nach Gras. „Hier muss doch jemand gekifft haben!“, rief er laut und marschierte den Flur entlang. Dem dichter werdenden Geruchsbild folgend. „Stimmt!“, rief´s aus einer offenen Tür. „Ich kiffe hier.“ Es war Kriminalhauptmeister Sven Lukas, der aus einem Büro heraus Laut gab. Aus seinem sogenannten „Labor“.

„Ich glaub´, Dir ist´n bisschen zu warm geworden!“, herrschte Klaiser den Kollegen an, der unter einer milchig blauen Rauchwolke an seinem Schreibtisch saß. „Mmmmann, Du kannst doch hier keine Rauschgifthöhle aufmachen. Mitten im Revier. Mensch!“

„Entschuldige Chef, aber das war jetzt leider nötig. Drüben bei Pattrick hockt zur Zeit ‘ne Dealerin, die dieses Zeug pfundweise mit sich rumschleppt. Und ich bin gerade dabei zu testen, wie gut dieser Scheiß ist, mit dem sie Schulkinder en masse betört hat.“

„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ Klaiser wandte sich kopfschüttelnd ab. „Jetzt kifft Ihr hier schon im Dienste der Qualitätskontrolle. Mitten in der Bullerei. Und jeder darf vermutlich mal ziehen an dem Joint. Oder? Ich glaube, wir sollten dringend mal reden.“

Rumms! Die Tür war zu. Und plötzlich wieder offen, mit einem wütenden Klaiser im Rahmen. „Hör jetzt sofort auf mit dem Scheiß, mach´ die Tüte aus und lüfte! Aber dalli! Ist das klar?“

„Ja.“

„Dann ist´s ja gut.“ Rumms! Tür zu.

Sven, der ‚Freak’ für alle elektronischen Fragen und Rauschgiftgeschichten, war total erschüttert rübergeschlichen zu Jürgen Winter und hatte dem von seinem Erlebnis mit Klaus Klaiser berichtet. „Was ist denn mit dem los? Hat der nicht so ‘ne Art Mutterschutz – oder so? Der Chef ist ja total überdreht, Mensch. Guck mal, wie der aussieht.“

Doch auch der Kollege zeigte wenig Verständnis für den „Drogen-Test“.

„Das kannste doch nicht bringen, Sven. Haste Dir mal überlegt, was einer unserer Kunden denkt, wenn er hier im Kommissariat auftaucht und meint, er wär´ in ‘nem holländischen Coffeeshop? Womöglich noch einer, den wir wegen BTM-Vergehen am Arsch haben. Geh´ doch mit dem Scheiß in den Wald, wenn Du meinst, Du müsstest solche Experimente machen.“

„Ja, ja. Und da fallen dann alle Rehe ins Koma und mich fangen die Bullen“, grinste Sven und verdrehte die Augen. Er hatte begriffen, was er da für einen Bolzen gedreht hatte. „Ich glaub´, ich geh´ jetzt lieber mal lüften.“

Bei Pattrick Born gab´s Lachsbrötchen mit Ei, einen grünen Salat mit Joghurt-Dressing und Cola light zum Mittagessen. Aber nur für ihn. Hatte er sich am Morgen daheim selbst zurechtgemacht. Anna Berg musste derweil mit der kargen Zellenkost Vorlieb nehmen. Aber selbst die hatte in Berleburg noch keinen Insassen am Hungertuch nagen lassen.

Dem frischgebackenen Kriminalkommissar gegenüber saß Klaus Klaiser und ließ sich über die aktuellen Ereignisse informieren. Kauend und gelegentlich Krümel spuckend gab Pattrick bereitwillig Auskunft.

„Kleindealer? Das glaub´ ich nicht. So, wie der Jürgen Winter das beobachtet und auch per Bild dokumentiert hat, mag man das vielleicht auf Anhieb glauben. Sie verschacherte Tütchen an Schüler. Ist ja ohnehin schon schlimm genug. Aber ich fress´ ‘nen Besen, wenn die Frau nicht auch als gut bestallter Drogenkurier unterwegs ist. Oder hast Du schon mal erlebt, dass so´n kleiner Shit-Lieferant mit ‘nem Smartphone in der Schuhsohle durch die Gegend tigert?“

„Wie bitte? Smartphone in der Schuhsohle?“

„Ja“, sagte Born und zeigte den sichergestellten Schuh samt Handy-Versteck vor. „Richtig professionell gemacht.“

„Das ist ja mal abgefahren.“ Fast sprach Bewunderung aus den Worten des Kripo-Chefs, der die Sohle immer wieder hin- und herklappte. „Ich glaube, Du hast recht. Das ist keine Nebenverdienerin. Die Frau hat ordentlich Kasse gemacht. Sonst wäre sie nicht so ausgerüstet. Wo ist´n das Handy?“

„Das hat der ‚Freak’ in Arbeit. Er liest gerade die Daten aus. Wir werden wohl nicht drum herumkommen, dem einen oder anderen Provider ein wenig auf die Füße zu steigen, um an Anschluss-Infos zu kommen.“

„Ach, der ‚Freak’ macht auch richtige Ermittlerarbeiten, neben seinen Selbsterfahrungstrips?“ Klaus mochte den Kollegen nicht bloßstellen. Daher beließ er es bei dieser sibyllinischen Anmerkung. Aber der Kollege hatte schon begriffen.

„Du meinst seine Kifferei?“ Klaus nickte.

„Dreh´ ihm da bitte keinen Strick draus. Das ist mehr oder weniger meine Idee gewesen. Ich dachte bloß nicht, dass er das hier im Haus macht. Hab´s auch eben erst gerochen.“ Klaiser fuhr aus seinem Stuhl hoch. „Sag´ mal, geht´s noch? Du kannst doch Sven nicht damit beauftragen, Joints zu rauchen. Das ist ja Anleitung zu einer Straftat.“

„Mooooment, Chef. Du kennst selbst sehr genau die aktuelle Rechtsprechung: ‚Straffreier Eigenkonsum kommt (nur) infrage, wenn der oder die Konsumierende keine Verfügungsgewalt über das Betäubungsmittel hat. Das liegt z.B. vor, wenn das Betäubungsmittel in verbrauchsgerechter Menge zum sofortigen Verbrauch an Ort und Stelle hingegeben wird’.

Und so war das ja auch. Ich hab´s ihm gegeben.

„Jaaaa, jaaaa, ist ja schon gut. Kenne ich, kenne ich. Aber so was kann man doch nicht im Polizeidienst bringen.“

„Da kannst Du recht haben. Aber wo steht das?“

„Och Mensch, weißt Du was? Ihr könnt mich alle mal kreuzweise.“ Klaiser war jetzt richtig geladen. „Wenn das so ist, dann lassen wir demnächst mal einen von unseren Kollegen erst ‘ne Flasche Wacholder saufen und dann mit dem Auto durch die Stadt fahren. Vielleicht wird er eine alte Frau über den Haufen fahren. Womit der Beweis erbracht wäre, dass auch ein besoffener Angeklagter angesichts seines Zustands keine andere Chance gehabt hätte. Ihr habt ‘se doch nicht mehr alle.“

Born sprang auf und wollte noch etwas sagen. Aber da war der Chef schon draußen. ‚Mist, das ist ja super gelaufen’, ärgerte er sich. Dabei hätte er doch ganz zufrieden sein können mit dem bisherigen Verlauf des Tages. Immerhin hatte man nicht alle Tage einen Fang mit mehr als einem Kilo Rauschgift, das jetzt in der Asservatenkammer lagerte. Allerdings würde es jetzt langsam Zeit, dass Anna Berg mal ein paar Infos zum Empfänger des Marihuanas rüberwachsen ließe. „Klaf“, was war das eigentlich für ein Name? Tscheche? Vielleicht.

Am Bahnhof in Aue, oder an dem, was von dem Bahnhof aus einstigen Blütezeiten übrig geblieben war, hockte ein klapperdürrer Hecht, eingepackt in einen Ami-Parker, Thermohose und eine Art Filzstiefel. Er schien auf jemanden zu warten. Der Mann mit eingefallenem Gesicht und schulterlanger Zottelhecke erinnerte ein wenig an Mick Jagger. Ständig schaute er auf die Uhr am Bahnsteig. Und die durchaus noch winterlichen Temperaturen im Wittgensteiner Land ließen ihn heftig frösteln.

„Scheint sich ziemlich verspätet zu haben, seine Verabredung“, meinte Claudia Siegemund, während sie sich einen Becher Tee aus der Thermoskanne einschenkte. Gemeinsam mit Kommissar Rüdiger Mertz saß sie in einem Zivilstreifenwagen auf einem Platz hinter dem kleinen Supermarkt. In direkter Nachbarschaft zum Bahngelände. Wenn der Mann auf dem Bahnsteig mal genauer herüberschauen würde, müsste er sie sogar fast sehen können.

Aber der hatte offensichtlich ganz andere Interessen. Und die machten ihm schwer zu schaffen. Das sah man. Selbst auf diese Entfernung. Zum gefühlt zehnten Mal griff er gerade wieder in seine Parkatasche und holte Tabak und Papierchen hervor. Mit steifen Fingern drehte er sich eine Kippe, zündete sie an und sog gierig den Rauch ein.

„Das ist nicht die Erleichterung, die er jetzt verspüren würde, hätte er seinen Stoff in den Tabak bröseln können. Aber der scheint ihm ausgegangen zu sein.“ Rüdiger Mertz ließ schon fast Mitleid erkennen, mit dem polizeibekannten Kiffer. Seit einer halben Ewigkeit hatten sie ihn schon auf der „Liste“ im Berleburger Revier.

Harald Pröger, Ex-Jurist und Gelegenheitsmusiker, war kein schlechter oder gar bösartiger Mensch. Im Gegenteil. Er war eher einer, der sich für die Belange seiner Mitmenschen einsetzte und deren Rechte dort einforderte, wo die Betroffenen es selbst nicht vermochten. Eisenhart und gerecht. Im Rathaus hatte man Respekt vor ihm. Genauso wie im Landratsamt und bei anderen Behörden. „Der hat richtig was auf dem Kasten“, sagten die Leute anerkennend.

Nur vom Kiffen kam Pröger nicht los. Und das hatte ihn letztlich seine Karriere in einer Anwaltskanzlei gekostet. „Bewusstseinserweiternd“ sei die eine oder andere Tüte am Tag, hatte er zur Begründung angegeben. Ein Argument, das fast jeder Konsument vorträgt. Und dafür hatte er schließlich in Kauf genommen, dass ihn der Chef der Kanzlei feuert. „Mit blutendem Herzen“, hatte der noch angemerkt. Denn Harald Pröger habe das Zeug zu einem ganz Großen in der Juristerei.

„Bin echt mal gespannt, auf wen der wartet.“ Mertz, der mit der Kollegin zusammen nicht etwa den Altfixer observieren, sondern mehr das Geschehen am Bahnhof beobachten sollte, machte sich gerade Notizen in sein Oktavheft. Das hatte er immer griffbereit in irgendeiner Jacken- oder Gesäßtasche. Für Gedächtnisstützen. Um beim Tagesbericht nicht immer hirnen zu müssen.

Hier hatte es in der jüngeren Vergangenheit öfter mal richtig Senge gegeben – unter rivalisierenden Jugendgruppen. Die einen kamen mit dem Bus aus Berleburg, die anderen per Zug aus Erndtebrück. Pennäler, die sich offenbar gegenseitig nicht ausstehen und es gar nicht erwarten konnten, sich mal wieder gegenseitig das Fell zu gerben. Um anschließend dann noch eine oder zwei Schaufensterscheiben beim Supermarkt nebenan zu zerballern.

Und dann zogen deren Eltern richtig über die Polizei her. „Weil die einfach nie dort ist, wo sie gebraucht wird. Man weiß doch, wo die sozialen Brennpunkte sind.“ Dass sie selbst es unterlassen hatten, ihre Sprösslinge zu Menschen ohne solche Aggressionen zu erziehen, kam ihnen dabei nicht einmal im Ansatz in den Sinn.

„Haben wir denn eigentlich eine Info, dass es heute wieder rund geht?“ Claudia Siegemund war noch nicht so lange in Berleburg und hatte jetzt etwas Schiss, dass sie als eine von zwei Polizeibeamten womöglich in einen Riesenschlamassel hereingezogen werden könnte.

„Nichts dergleichen. Wäre ja auch reiner Selbstmord, wenn wir hier ‚allein gegen die Mafia’ spielen wollten.“ Rüdiger Mertz erklärte der Kollegin noch einmal Sinn und Zweck ihrer Beobachtungen, die rein prophylaktischer Natur seien. „Weißt Du, wenn wir in der Lage sind, die wirklich heftigen Aggressoren zu …“ Er unterbrach sich. „Was macht der denn da?“

Mertz zeigte rüber zu Pröger, der sich in einer Art panischem Anfall in die hinterste Ecke des Wartehäuschens zurückgezogen hatte. Nebenan spratzte ein Teil der Außenwand weg.

„Das gibt´s doch gar nicht. Da schießt einer auf den Mann. Mertz riss die Tür auf, sprang heraus und zog seine Waffe aus dem Holster.

„Ptschuuu“ machte es, „ptschuuu.“ Kleine Staubwölkchen schossen aus der Wand des Wartehäuschens heraus. „Runter, Herr Pröger! Runter auf den Boden!“, schrie Rüdiger Mertz und rannte gebückt in Richtung des Beschossenen. Der tat wie ihm geheißen und verbarg seinen Kopf unter den Händen. Weitere Geschosse schlugen ein. Mertz versuchte, aus der Deckung eines alten Schneehaufens heraus zu sehen, woher die Schüsse kamen. Ziemlich sicher von jenseits der Bahn. Aber es war nichts zu sehen.

„Wieland 14/01 von Wieland 14/27 kommen.“ Claudia Siegemund hing am Funk. „Wieland 14/01 hört.“ „Feuerüberfall am Bahnhof Aue. Eine Person wird massiv von einem Unbekannten beschossen. Brauchen dringend Unterstützung.“

Als sie ihren Notruf abgesetzt hatte, rannte die junge Beamtin, die gezückte und durchgeladene Walther P99 in der Rechten, um den Supermarkt herum und sah zwei ältere Damen, die vor dem Eingang einen Plausch hielten.

„Gehen Sie bitte gleich wieder in den Markt. Hier wird scharf geschossen.“ Die Frauen grinsten nur und quatschten einfach weiter.

„Hören Sie, ich bin von der Polizei und bitte Sie inständig: Gehen Sie wieder hinein. Hier draußen ist es lebensgefährlich. Umständlich pulte sie ihren Dienstausweis hervor und hielt ihn der einen Frau vor die Nase. „Gehen Sie jetzt. Bitte!“

Um die Ecke herum hörte man zwei Einschläge und erst kurz danach die Schussgeräusche. ‚Muss gut 100 bis 120 Meter entfernt sein, der Schütze’, dachte sie, als direkt vor ihr an der Supermarktecke ein Geschoss einschlug, das sich als jammernder Querschläger in Richtung Kapplerstein davonmachte.

Instinktiv sprang die Kommissarin zurück und klebte an der Glasfront des angrenzenden Bäckerladens.

„Verdammtes Schwein, wo bist Du?“ Rüdiger Mertz kniete noch immer mit gezückter Waffe hinter dem Schneehaufen, der dort von einem Räumeinsatz übrig geblieben war. Er traute sich einfach nicht aufzustehen. Weil er kein zusätzliches Ziel abgeben wollte. Harald Pröger lag nach wie vor flach auf dem Boden. Und dann setzte der Beschuss plötzlich aus.

Zehn, zwölf Sekunden wartete Mertz, bis er schließlich aufsprang und rüberhetzte zu dem Mann am Boden. „Kommen Sie!“, rief er Pröger schon beim Herannahen zu, „kommen Sie, ich nehme Sie mit. Rüber zum Markt. Bleiben Sie immer dicht vor mir.“

€6,49

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
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371 lk 3 illustratsiooni
ISBN:
9783961360376
Õiguste omanik:
Bookwire
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