Loe raamatut: «Kulturtheorie», lehekülg 6

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Kritikpunkte und Anmerkungen

 FreudFreud, Sigmund polarisiert zu stark Kultur und NaturNatur. Zugleich operiert seine Kulturtheorie mit einer statischen biologischen Anthropologie.

 FreudsFreud, Sigmund Kulturkonzept ist ethno- bzw. eurozentrischEurozentrismus, eurozentrisch. Es reproduziert deren SelbstbildSelbstbild und Abgrenzungsmechanismen (Kulturmensch vs. primitiver BarbarBarbar, Barbarei, Narrativ des FortschrittsFortschritt).

 FreudsFreud, Sigmund Konzept von Kultur missachtet die DifferenzDifferenz von Kulturen in RaumRaum und ZeitZeit.

 FreudFreud, Sigmund hat keinen analytischen Begriff von den spezifischen Besonderheiten der okzidentalen ModerneModerne, modern, -moderne.

 FreudFreud, Sigmund übersieht den Zusammenhang zwischen SexualitätSexualität und modernemModerne, modern, -moderne Individualismus. Sexualität ist nicht so sehr ein Charakteristikum des sog. Primitiven, sondern des modernen westlichen IndividuumsIndividuum, wie es sich in FilmFilm und Literatur präsentiert.

 FreudsFreud, Sigmund Konzept ist anthropologisch zu fixiert, sein Triebkonzept zu statisch. Es missachtet andere anthropologische Realien (z.B. Hunger, Armut).

 FreudsFreud, Sigmund Konzept reproduziert traditionelle GeschlechtsbilderGeschlecht (Gender), Geschlecht-,.

 FreudsFreud, Sigmund Theorie unterschlägt die Veränderungspotenziale in der Kultur (PsychoanalysePsychoanalyse, KunstKunst, Kunstwerk).

 FreudsFreud, Sigmund Theorie der KunstKunst, Kunstwerk bezieht sich einseitig auf deren traditionelle FunktionenFunktion.

Literatur

Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/Main: Fischer 1994.

Freud, Sigmund Das Unbehagen in der Kultur, Gesammelte Werke, herausgegeben von Anna Freud, Bd. 14, Frankfurt/Main: S. Fischer 1999, S. 419–506.

Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, herausgegeben und kommentiert von Wolfgang Müller-Funk, Wien: Vienna Univ. Press 2016.

de Berg, Henk, Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen und Basel: Francke 2005.

Busch, Hans-Joachim, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2001.

Dahmer, Helmut, Libido und Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982. Drassinower, Abraham, Freud’s Theory of Culture, London: Rowan and Littlefield 2003.

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Glasenapp, Jörn, Sigmund Freud (1856–1939), Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: KulturPoetik, Vol 17(2), Göttingen: V & R 2017, S. 202–301.

Kettner, Matthias, Psychoanalyse als Kulturanalyse, in: Friedrich Jaeger und Jürgen Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart: Metzler 2004, S. 592–602.

Köhler, Thomas, Freuds Schriften zu Kultur, Religion und Gesellschaft. Eine Darstellung und inhaltskritische Bewertung, Gießen: Psychosozialverlag 2006.

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Lüders, Wolfgang, Das Unbehagen in der Psychoanalyse und das Unbehagen an ihrer Kritik, in: Psyche 38, S. 585–597.

Marcuse, Herbert, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Deutsch von Marianne von Eckardt-Jaffe, 16. Auflage, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990.

Müller-Funk, Wolfgang, Theorien des Fremden, Tübingen und Basel: Francke/UTB 2016, S. 73–92.

Schülein, Johann August, Das Gesellschaftsbild der Freudschen Theorie, Frankfurt/Main: Campus 1979.

Kapitel 3 Philosophische Grundlagen der KulturanalyseKulturanalyse: Ernst CassirersCassirer, Ernst Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische

Offenkundig fällt es nicht leicht, den Gegenstand kultureller Forschung zu bestimmen. Ähnliches gilt wohl auch für ihre Methodologie, d.h. für das theoretische Rüstzeug, das Instrumentarium der Analyse und Interpretation kultureller Phänomene. Im Prinzip teilt sie das Schicksal der Literaturwissenschaft, deren Spektrum hermeneutischeHermeneutik, hermeneutisch, strukturalistische und semiotische, diskurstheoretische, dekonstruktivistische und poststrukturalistische Richtungen, Positionen und Ansätze umfasst. Die Situation kompliziert sich indes durch die VielfaltVielfalt und HeterogenitätHeterogenität, heterogen von Themen und disziplinären Zugängen. Zudem lassen sich Kulturwissenschaft bzw. Kulturwissenschaften formal auch dadurch bestimmen, dass sie sich nicht auf das MediumMedium der Schrift beschränken, sondern visuellevisuell, auditive und vor allem synästhetische MedienMedien, Medien-, -medien, medien-, die BildBild, Schrift und Ton miteinander verknüpfen, umfassen. Das gilt für die Wahl der Objekte wie für die Form der Darstellung.

Wenn es also keine einheitlich verbindliche Methodologie gibt, so heißt das nicht unbedingt, dass es nicht erkenntnistheoretische Grundlagen der Kulturwissenschaften geben könnte. Einen solchen bislang einzigartig gebliebenen Versuch hat der deutsche Philosoph Ernst CassirerCassirer, Ernst in seinem kompendialen Werk Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische vorgelegt. CassirersCassirer, Ernst Einfluss auf die heutige kulturwissenschaftliche Forschung ist schwer abzuschätzen: Er ist vielleicht kein Diskursbegründer von vergleichbarer Mächtigkeit wie FreudFreud, Sigmund oder FoucaultFoucault, Michel. Immerhin sind die Verbindungslinien zwischen der Theorie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) und BourdieusBourdieu, Pierre Konzept der sozialen FeldFeld (soziales)er (→ Kap. 9) und LotmansLotman, Jurij SemiotikSemiotik (→ Kap. 16) unübersehbar. Außer Zweifel steht auch der enge theoretische Konnex, der zwischen CassirersCassirer, Ernst und Aby WarburgsWarburg, Aby Erneuerung der Kunstgeschichte besteht,1 wie Letzterer sie in seinem berühmten Mnemosyne-Atlas entfaltet hat.2 CassirerCassirer, Ernst wird nicht selten auch als Vorläufer der linguistischen Wende (linguistic turn) verstanden. An seine erkenntnistheoretische Position lässt sich denn sowohl aus semiotischer wie auch aus hermeneutischer Perspektive anschließen. Sein Beitrag zur Kulturtheorie kann vorab als eine Denkbewegung beschrieben werden, die Kulturwissenschaft aus der Erkenntnistheorie und über sie hinaus systematisch zu denken sucht und die auf verblüffende Weise KantsKant, Immanuel transzendentalen IdealismusIdealismus (philosophisch) mit der kulturellen Wende verbindet und zusammenbringt. Kulturwissenschaft beginnt nämlich nicht erst mit der Analyse kultureller Phänomene, sondern das wissenschaftliche Denken selbst ist bereits eine Form kulturellen Tuns. Oder um CassirersCassirer, Ernst Terminus zu verwenden: eine symbolische Form. CassirersCassirer, Ernst Kulturphilosophie ist nicht denkbar ohne jene Renaissance des Kantischen Denkens, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzt und mit der Marburger SchuleSchule und deren wichtigsten Repräsentanten Paul Natorp und Hermann Cohen3 verbunden ist. Ziel dieser Denkschule war die Neuformulierung der Philosophie KantsKant, Immanuel angesichts der dynamischen Entwicklung der modernenModerne, modern, -moderne Naturwissenschaften. Vor und zum Teil parallel zum Positivismus wird hier der Versuch unternommen, Philosophie noch einmal als eine Meta-Theorie der Wissenschaften zu konzipieren. Die Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) erschien 1928, kurze ZeitZeit vor Sigmund FreudsFreud, Sigmund Unbehagen in der Kultur, gut zehn Jahre nach WittgensteinsWittgenstein, Ludwig Tractatus (1917), fast zeitgleich mit Martin HeideggersHeidegger, Martin Sein und Zeit (1927), und beinahe parallel zu Aby WarburgsWarburg, Aby Theorie der KunstKunst, Kunstwerk.

Ernst CassirerCassirer, Ernst (1874–1945), mit dem Kunstsammler Paul CassirerCassirer, Ernst verwandt, wurde als erster jüdischer Gelehrter zum Professor für Philosophie an die Universität Hamburg (1919) berufen. Später lehrte er in Berlin und Marburg. Berühmtheit erlangte er auch als Kontrahent HeideggersHeidegger, Martin in der berühmten Davoser Debatte (1929).4 1933 ging er ins Exil, sein Spätwerk hat er auf Englisch verfasst.

Er beschäftigte sich zunächst mit Grundfragen der Erkenntnistheorie in den modernenModerne, modern, -moderne Naturwissenschaften, was auch in seinem kulturphilosophischen Hauptwerk sichtbar wird. Er war mit einem anderen Gelehrten gut bekannt, mit dem Philosophen und Soziologen Georg SimmelSimmel, Georg (→ Kap. 5), der heute wegen seiner Philosophie des GeldesGeld und seiner Analyse der ModeMode zu Recht als einer der wichtigsten Diskursbegründer der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen KontextKontext gilt. Theoretisch beeinflusst ist CassirerCassirer, Ernst von KantKant, Immanuel, HusserlHusserl, Edmund und GoetheGoethe, Johann W.. KantKant, Immanuel verdankt CassirerCassirer, Ernst die erkenntnistheoretischen Leitfragen, von GoetheGoethe, Johann W. ist der Terminus der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische entlehnt, sowohl der Symbolbegriff als auch das Konzept einer morphologischen Formenreihe. Beeinflusst ist CassirerCassirer, Ernst, insbesondere im mythentheoretischen Teil seines Werkes, auch von SchellingsSchelling, Friedrich W.J. Philosophie der MythologieMythos, Mythologie, mythisch. Denn es war SchellingSchelling, Friedrich W.J., der dem MythosMythos, Mythologie, mythologisch seine Dignität zurückerstattete, indem er diesen als ein Phänomen sui generis analysiert hat, das sich nicht auf PoesiePoesie, Proto-Philosophie und Protowissenschaft reduzieren lässt:

[…] die MythologieMythos, Mythologie, mythisch war so, wie sie ist, als Wahrheit gemeint; dieses ist aber schon gleich der Behauptung: die MythologieMythos, Mythologie, mythisch ist ursprünglich als Götterlehre und Göttergeschichte gemeint, sie hat ursprünglich religiöseReligion, religiös Bedeutung […].5

In der Sache ganz ähnlich formuliert CassirerCassirer, Ernst ein Dreivierteljahrhundert später:

Die Welt des MythosMythos, Mythologie, mythologisch ist kein bloßes Gebilde der Laune oder des Zufalls, sondern sie hat ihre eigenen Fundamentalgesetze des Bildens, die durch alle ihre besonderen Äußerungen hindurchwirken.6

Diese Autonomie des MythosMythos, Mythologie, mythologisch, seine Unabhängigkeit von anderen Formen der Welterfassung – etwa Philosophie, Wissenschaft und PoesiePoesie – ist eine Grundeinsicht, die sich auch am Eingang von CassirersCassirer, Ernst mehrbändigem Werk findet, das sich immer wieder auf SchellingSchelling, Friedrich W.J. beruft. Die Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische ist – vereinfacht gesprochen – CassirersCassirer, Ernst Hauptwerk. Sie stellt den einzigen geschlossenen Versuch einer idealistischen, am SubjektSubjekt orientierten Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften dar.

Die programmatische Einleitung beginnt mit einem idealtypischen Abriss der GeschichteGeschichte der Philosophie: Das klassische Thema der Philosophie seit ihren Anfängen ist – so konstatiert CassirerCassirer, Ernst in Einklang mit HeideggerHeidegger, Martin – das Verhältnis des Seins zur Fülle des Seienden. Oder anders gefragt: Was verbürgt die Einheit aller Phänomene dieser Welt? Was ist das Sein, das allem Seienden, der Fülle der Erscheinungen als ein gemeinsames Drittes zugrunde liegt?

Wenn CassirerCassirer, Ernst nun die GeschichteGeschichte der Philosophie Revue passieren lässt, so geht es ihm weniger um diese selbst. Vielmehr will er die kulturelle Wende in der Philosophie, die er mit seinem opus magnum vornimmt, historisch einordnen. Deshalb beansprucht sie auch keinerlei Vollständigkeit. Die Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische erzählt die GeschichteGeschichte der abendländischenAbendland, abendländisch philosophischen episteme mit einem klaren Fokus: Es geht um die GeschichteGeschichte der idealistischen Philosophie als einer Denkbewegung, die über den antiken IdealismusIdealismus (philosophisch) PlatonsPlaton und den transzendentalen IdealismusIdealismus (philosophisch) KantsKant, Immanuel in die transzendentale Kulturphilosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) einmündet.

CassirerCassirer, Ernst greift dabei auf die Anfänge der abendländischenAbendland, abendländisch Philosophie zurück. Die Vorsokratiker, so z.B. die Pythagoräer hätten ein bestimmtes, sichtbares, konkretes Seiendes aus der Fülle des Seienden herausgegriffen und es zum Grund des Seins gemacht. Daraus entstand die Lehre von den Elementen: Wasser, Feuer, Licht, Äther, Erde. Oder man ging, wie bei den frühen Materialisten, davon aus, dass alles Seiende aus kleinsten, unteilbaren Elementen (atomoi, Atome) zusammengesetzt ist. CassirerCassirer, Ernst zufolge geht es hier um einen sehr rudimentären Akt von Abstraktion. Das Sein wird hier mit einem oder auch mehreren elementaren Erscheinungen gleichgesetzt.

Es handelt sich – so CassirerCassirer, Ernst – um Mythen, um „bloße ErzählungenErzählung(en) vom Sein“.7 Ein einzelnes, besonderes und beschränktes Seiendes wird herausgegriffen, um aus ihm alles andere genetisch abzuleiten und zu ‚erklären‘. Der Hinweis, dass es sich dabei um Erzählungen handelt, ist aufschlussreich und verweist auf den mythischen Grundgehalt eines solchen frühen philosophischen Denkens. Wenn man den Schöpfungsbericht in der Bibel aufschlägt oder auch andere kosmogonische mythologischeMythos, Mythologie, mythisch Texte liest, dann beginnen diese Geschichten ebenfalls mit der Erwähnung und Gegenüberstellung von Grundelementen, von Formen des Seienden: Wasser, Licht, Erde usw.; nur dass diese mythologischenMythos, Mythologie, mythisch Texte darauf verzichten, die Fülle der DingeDinge und Erscheinungen dieser Welt logisch und genetisch aus einem Ur-Seienden abzuleiten. Die vorsokratische Philosophie, könnte man sagen, ist selbst mythologisch, nicht philosophisch oder gar wissenschaftlich. Das heißt nicht, dass ihr keine symbolische Bedeutung zukäme. Im Gegenteil. Was sie indes vom MythosMythos, Mythologie, mythologisch unterscheidet, ist, dass sie dessen impliziten gedanklichen Gehalt explizit und rational macht.

Die nächste Stufe in CassirersCassirer, Ernst Schema einer philosophischen Denkentwicklung stellt die idealistische Philosophie PlatonsPlaton dar. In den Augen CassirersCassirer, Ernst markiert PlatonPlaton mit seinem Begriff des Seins als Idee eine dramatische Kehre in der GeschichteGeschichte der Philosophie, eine idealistische Wende. Das Denken

geht jetzt nicht mehr lediglich neben dem Sein einher, es ist kein bloßes Reflektieren ‚über‘ dasselbe, sondern seine eigene innere Form ist es, die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt.8

Das Sein, das alles Seiende durch ein abstraktes Band verbindet, ist nicht länger eine konkrete, sichtbare Erscheinung, nicht länger ein wahrnehmbares, äußeres Etwas, das man ‚fassen‘ kann. Es ist gewissermaßen in ein unsichtbares Jenseits gerückt. Die DingeDinge und Erscheinungen dieser Welt sind ein Abglanz eines Seins, das als eine Art von Ideenhimmel begriffen wird. Entscheidend für CassirerCassirer, Ernst ist jedoch der Abstraktionsgrad, der in PlatonsPlaton Philosophie erreicht wird, und die Hinwendung vom Seienden zum Denken.

In einem Tigersprung von 2000 Jahren verknüpft CassirerCassirer, Ernst PlatonsPlaton Philosophie mit jener KantsKant, Immanuel. Die ‚Revolution der Denkart‘, die KantKant, Immanuel innerhalb der theoretischen Philosophie durchführt, beruht auf dem Grundgedanken, dass das Verhältnis, das bisher zwischen der ErkenntnisErkenntnis und ihrem Gegenstande allgemein angenommen wurde, einer radikalen Umwendung bedürfe. Statt vom Gegenstand als dem Bekannten und Gegebenen auszugehen, müsse vielmehr mit dem Gesetz der Erkenntnis als dem allein wahrhaft Zugänglichen und als dem primär Gesicherten begonnen werden:

Bisher nahm man an, alle unsere ErkenntnisErkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.9

KantsKant, Immanuel Philosophie verabschiedet sich von einer Frage, die die Philosophie jahrhundertelang beschäftigt hat, von der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Denken, von Gegenstand und Begriff, die die Professionalisten des Denkens in Nominalisten und Realisten gespalten hat. Über dieses Verhältnis lässt sich nämlich gar nichts sagen, weil uns das Seiende nur durch unser Denken zugänglich ist. Also liegt es nahe, sich nicht länger mit dem Seienden und seinem Verhältnis zum Denken zu beschäftigen, sondern sich allein Letzterem zuzuwenden. Dies hat KantKant, Immanuel bekanntlich in seiner Kritik der reinen Vernunft unternommen. PlatonPlaton hat – so lässt sich dies im Nachhinein aus der Sicht CassirersCassirer, Ernst erzählen – diese Wende in gewisser Weise vorbereitet, indem er die Welt der Ideen zum ZentrumZentrum der Philosophie gemacht hat. PlatonPlaton selbst hat freilich an der Korrespondenz von Idee und Realität festgehalten, wenn er Letztere – nicht nur im berühmten Höhlengleichnis – als schattenhaftes Abbild einer ‚wahren‘ Ideenwelt begriffen hat. Womit er nicht nur an der Idee der kosmischen Harmonie und Vollkommenheit festhielt, sondern dieser erst zu ihrem philosophischen Prestige verhalf.

Diese Korrespondenz ist seit KantKant, Immanuel zerbrochen. Der Ideenhimmel befindet sich im Kopf des Menschen und wir sind Alleinunterhalter im Weltall. Der Kosmos und die DingeDinge sprechen nicht.10 Nur wir sprechen und konstruieren das Seiende, das bei KantKant, Immanuel zum Ding an sich zusammenschrumpft, über das sich nichts sagen lässt, weil es von uns immer schon ein Besprochenes und Gedachtes ist. Es war nicht nur die Komplexität des Kantischen Denkens, das Lichtenberg, GoetheGoethe, Johann W. und KleistKleist, Heinrich von zur Verzweiflung brachte, sondern auch die unerbittliche Konsequenz, die in seinem Denken begründet liegt, die dem Werk seine geistesgeschichtliche Bedeutung verleihen: dass es keine ‚Heimat‘ des Menschen jenseits seines rationalen Vermögens gibt, OrdnungOrdnung, ordnungs- zu stiften. KantsKant, Immanuel Werk heißt bekanntlich nicht Die reine Vernunft, sondern Kritik der reinen Vernunft, das heißt, es erörtert die Bedingungen der Möglichkeit (und ihre Grenzen), die Welt in ihrer VielfaltVielfalt denkend zu erfassen. Würden wir anders denken als wir denken, was wohl für uns undenkbar ist, dann würden wir das Seiende anders kategorisieren und denken. Der verzweifelte KantKant, Immanuel-Leser KleistKleist, Heinrich von hatte also recht mit seinem Gläser-Vergleich. Wenn wir grüne oder rote Brillengläser trügen (was uns natürlich nicht bewusst wäre), dann würde sich die Welt auf Grund unserer verschobenen Wahrnehmung ändern. Womit, und das war der Kern von KleistsKleist, Heinrich von Verzweiflung, jede Vorstellung einer Wahrheit unabhängig von unserer SubjektivitätSachregisterSubjektivität, subjektiv und unserem kognitiven, ästhetischen und emotionalen Vermögen denkunmöglich geworden ist. Seit KantKant, Immanuel hat der RelativismusRelativismus, relativ eine gediegene philosophische Plattform. Die Wesen vom anderen Planeten, die in der Science-Fiction-Literatur sehnsüchtig oder abgründig herbeigeschrieben werden (um unsere Spezies von ihrer anscheinend quälenden kosmischen Einsamkeit zu erlösen), könnten also nicht bloß real, sondern auch symbolisch in einer ganz anderen Welt leben und wir könnten uns womöglich mit ihnen – anders, aber doch mit anderen Lebewesen vergleichbar – gar nicht über die Beschaffenheit des Seins und des Seienden verständigen und austauschen. Oder definieren wir das Mensch-Sein von vornherein so, dass es sich dabei um Lebewesen mit prinzipiell gleicher Ausstattung in puncto KognitionKognition, Wahrnehmung und Emotion handelt?

Hans BlumenbergBlumenberg, Hans hat, übrigens zu Recht, die häufig verwendete formelhafte Analogie zwischen der Kopernikanischen und der Kantischen Wende in Abrede gestellt. Denn Erstere hat den Menschen mitsamt seinem lächerlich winzigen peripheren Planeten aus dem Mittelpunkt gerückt, während die Philosophie im Gefolge KantsKant, Immanuel das menschliche Gehirn zum Mittelpunkt des Weltalls machte.

KantKant, Immanuel hat sich bekanntlich vornehmlich auf die Kategorien des Denkens konzentriert und dabei RaumRaum und ZeitZeit als eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit des Denkens gesehen. Aber dieses Denken ist an Formen gebunden, an Zeichen und Symbole. In einem letzten Zwischenschritt kommt CassirerCassirer, Ernst deshalb nun auf die modernenModerne, modern, -moderne Naturwissenschaften seiner Zeit zu sprechen. Diese haben CassirerCassirer, Ernst zufolge, wie schon zuvor ansatzweise bei Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von, gleichfalls die „naive Abbildtheorie der ErkenntnisErkenntnis“ verabschiedet und sind auf die Zeichenhaftigkeit unseres Welterfassens gestoßen. Sie gehen davon aus, dass ihre „Mittel“ keineswegs „Abbilder eines gegebenen Seins, sondern […] selbstgeschaffene Symbole“ seien. CassirerCassirer, Ernst zitiert aus Heinrich HertzHertz, Heinrich‘ Prinzipien der Mechanik (1894), wo es unter anderem heißt:

Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; […] es ist für ihren Zweck nicht nötig, dass sie irgendeine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben.11

Anders als in der Wahrnehmung der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, bezieht sich eine naturwissenschaftliche Disziplin wie die moderneModerne, modern, -moderne, mathematisierte Physik nicht auf eine gegenständliche NaturNatur, sondern konstruiert diese vielmehr als einen mathematisch-symbolischen, zeichenhaften RaumRaum, der mit der realen Welt nicht sehr viel zu tun hat.

Das ist für CassirerCassirer, Ernst aber die entscheidende Pointe. Indem die Erkenntnistheorien KantsKant, Immanuel und der modernenModerne, modern, -moderne Naturwissenschaften traditionelle Abbildtheorien verabschieden, betonen sie fast zwangsläufig die aktive Rolle der ErkenntnisErkenntnis als eines kulturellen und ästhetischen Tuns. Sie konstituieren und ‚erfinden‘ die Realität.

Diese erkenntnistheoretische Wende, die KantKant, Immanuel eingeleitet hat, zieht drei zentrale Konsequenzen nach sich:

 eine semiotische Wende: Das Hauptaugenmerk der Philosophie muss sich auf die Beschaffenheit eben jener „Bilder“, „Symbole“ und „Zeichen“ konzentrieren und deren besondere Formgebungen analysieren. Sie gewinnt damit zwangsläufig eine ästhetische bzw. – wie wir heute sagen würden – eine medientheoretische Dimension. Wie wir noch sehen werden, findet sich in CassirersCassirer, Ernst Werk bereits in nuce die Idee, Kulturtheorie als SemiotikSemiotik zu begreifen;

 eine epistemologischeepistemologisch Wende: die (NaturNatur-)Wissenschaft muss ihren Anspruch eines unmittelbaren Zugangs zum „Wirklichen“ aufgeben;

 eine pluralistischePluralismus, pluralistisch Wende: Wenn Wissenschaft und Philosophie Zeichen und Bilder zur Voraussetzung haben und wenn sie umgekehrt eine symbolische Form ausbilden, dann liegt es nahe, die Wissenschaft als eine symbolische Sonderform neben anderen zu begreifen und deren Verhältnis zu anderen Formen zu bestimmen und zu analysieren.

Die Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische überschreitet den Gegenstandsbereich des klassischen philosophischen Denkens, das sich im Wesentlichen auf den Bereich wissenschaftlicher Weltinterpretation konzentriert hat. Programmatisch schließt es jede andere, und dabei gerade die nicht-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Weltbeständen ein. Solche Auseinandersetzungen und Zugangsweisen sind nicht von- bzw. auseinander ableitbar, sondern haben ein je eigenes formales Gefüge. Kultur lässt sich demnach als die VielfaltVielfalt dieser verschiedenen, zum Teil auch miteinander rivalisierenden Weltbezüge verstehen. Durch die Gleichstellung und Berücksichtigung der anderen Weltbezüge wird zugleich manifest, dass auch das Denken nicht reine Betrachtung, sondern eine Tätigkeit, ein Handeln, ein Tun ist. „Die Kritik der Vernunft transformiert sich zur Kritik der Kultur“. Auf die Philosophie bezogen heißt dies, dass Philosophie nur mehr als Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) zu begreifen ist. An die Stelle der ‚Welt‘ als Referenzpunkt tritt die Kultur.12

CassirerCassirer, Ernst selbst hebt hervor, dass das „rein wissenschaftliche, exakte Weltbegreifen“ bereits in der Philosophie seit KantKant, Immanuel vielfach reflektiert worden ist. Die Pluralisierung meint daher, sich jenen symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische zuzuwenden, die bislang – weil epistemisch13 als eher ‚minderwertig‘ angesehen – vernachlässigt worden sind. Die Abwendung von einem rein szientistischen, d.h. auf Wissenschaftlichkeit beruhenden Weltverständnis und der PluralismusPluralismus, pluralistisch der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) provozieren den Vergleich zwischen diesen, die sich prinzipiell des gleichen symbolischen Materials bedienen.

Insofern markiert allein diese Pluralisierung eine pragmatische, kulturwissenschaftliche Wende: Wenn Wissenschaft als eine KonstruktionKonstrukt, Konstruktion von Wirklichkeit angesehen wird, dann liegt es nahe – hier gibt es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ansonsten philosophisch ganz anders ausgerichteten amerikanischen Pragmatismus –, Philosophie und ErkenntnisErkenntnis als ein „Tun“, als einen Akt, eine HandlungHandlung zu begreifen. Was CassirerCassirer, Ernst hier – vorsichtig, aber doch einigermaßen konsequent – verabschiedet, ist die Vorstellung des philosophischen Denkens als reiner Betrachtung. Das wissenschaftliche Denken organisiert und konstituiert, anders und doch vergleichbar mit ReligionReligion, religiös, MythosMythos, Mythologie, mythologisch, SpracheSprache und KunstKunst, Kunstwerk, die „Wirklichkeit“, es bildet sie nicht ab, sondern gestaltet sie als soziale und kulturelle Welt.

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als einen Bruch mit dem kontemplativen Selbstverständnis der Philosophie. Theorie ist nicht länger ein Gegenstück zur PraxisPraxis, sondern wie im amerikanischen Pragmatismus eine ganz spezifische Form von kulturell durchaus relevantem Handlungsvollzug. Wie alle Praxis gibt es in ihr ein Moment von Entscheidung und vor allem Verantwortlichkeit für das eigene Tun. Kulturtheoretisch gewendet, könnte man behaupten, dass die Erforschung, Analyse und Beschreibung von Kultur niemals wertneutral und unpraktisch ist, sondern diese Kultur immer selbst verändert. Das ist ein Moment von ReflexionReflexion, das den Einzelwissenschaften oftmals entgeht. Der MarxismusMarxismus, marxistisch als Gesellschaftstheorie oder die PsychoanalysePsychoanalyse – als Therapieform wie als Anthropologie und Kulturtheorie – haben die GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, auf die sie sich bezogen, nachhaltig verändert. In Umkehrung der berühmten These zu Feuerbach, lässt sich gegen MarxMarx, Karl behaupten, dass die Interpretation der Welt selbst eine Veränderung, also ein Handeln, darstellt.

Neue Theorien und Disziplinen bringen stets neue Blickwinkel hervor. Im Fall von CassirerCassirer, Ernst ist es die Hinwendung zur ‚Form‘, aber auch die Betonung des Funktionalen. Das Grundprinzip des kritischen Denkens, des Vorrangs der FunktionFunktion gegenüber dem Gegenstand (und damit auch das Primat des Prozesses gegenüber dem Produkt), wird über Philosophie und Wissenschaft hinaus auf Kultur und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich ausgeweitet:

Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die FunktionFunktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösenReligion, religiös Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, dass daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektivenobjektiv, Objektiv- Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.14

Das eine Sein lässt sich nicht mehr statisch festhalten, sondern manifestiert sich in der „unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und der Wissensgegenstände“. Der PluralismusPluralismus, pluralistisch, die Vielheit der Weltzugänge, wird hier in einem schwerwiegenden Sinn verstanden. Denn unter dem Pluralismus zerfällt das eine Sein, auf das hin sich das westlich-abendländischeAbendland, abendländisch Denken stets ausgerichtet hat. Oder um bei obigem Beispiel mit den Menschen vom anderen Planeten zu bleiben: In gewisser Weise gibt es – gegen die HegelHegel, Georg W.F.’sche DialektikDialektik, die ReligionReligion, religiös und KunstKunst, Kunstwerk als Vorformen des reinen Wissens (miss-)versteht – diese Inkompatibilität auch ohne die phantasierten kosmischen Fremdlinge. Denn der jeweilige Weltzugang des mythischen Menschen, des modernenModerne, modern, -moderne Künstlers und des Atomphysikers sind nicht zur Deckung zu bringen, obschon ihre kognitive, ästhetische und affektive Ausstattung wenigstens potenziell dieselbe ist. Es mag Überschneidungen und auch Rivalitäten geben, schon deshalb, weil sie sich desselben semiotischen Materials bedienen. Aber sie leben, jedenfalls solange sie beten, komponieren oder vor dem Elektronenmikroskop sitzen, in völlig verschiedenen Welten, die keinen gemeinsamen Nenner haben. In der Vielheit zu leben, bedeutet – schon in einer Binnenkultur – auf Einheit zu verzichten, jedenfalls auf eine Einheit die ontologisch verbürgt wäre. So sind intra- und interkulturelleInterkulturalität, interkulturell Phänomene in einer oftmals als homogenHomogenität, homogen gedachten Kultur unter den Bedingungen von Modernität unvermeidlich.