Der Trockene Tod

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Der Trockene Tod
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D e r

Trockene Tod

E i n e E r z ä h l u n g

a u s d e n

C h r o n i k e n d e s W i d e r n a t ü r l i c h e n


v o n

A l e x a n d e r K o t h e

Die Welt war voller Wunder.

Die Sonne, der Mond, die Sterne,

der Tag und die Nacht.

Feuer und Regen,

reiche Ernten, Dürren und Hungersnöte.

Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmungen,

leuchtende Meere, sprudelnde Geysire und die Lichter des Nordens.

Neues Leben, Seuchen, Heilung und Tod.

Unerklärlich, übernatürlich, göttlich.

Deshalb glaubten die Menschen.

Geschichten drangen in Ohren,

veränderten sich,

wurden zu Legenden.

Und jede Legende enthält einen Funken Wahrheit.

P r o l o g

9 2 0 n a c h A n b r u c h

d e r N e u e n Z e i t

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1 3 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t

d e r Z e i t d e r S t ü r m e

G e g e n A b e n d

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N e d d i e n


Die letzten Strahlen einer roten Sonne verschwanden gerade hinter dem Horizont, als Andrienna unter dem Eichenbaum auf einem kleinen grasbewachsenen Hügel saß und ihren Gedanken nachhing. Den Großteil des Tages hatte es geregnet, doch der Abend war wunderbar lau und friedlich. Sie kam oft hierher, wenn sie allein sein wollte, um über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken.

Wie herrlich, dass es diesen Platz gibt. Weiches Gras und dann auch noch ein Baum.

Ein kostbares Stück Natur, das seit dem Ende der ‘Alten Zeit’ nur noch selten zu finden war.

Ein seltenes Stück Glück.

Andrienna schloss die Augen und stellte sich vor, wie es früher einmal gewesen sein mochte, in der ‘Alten Zeit’ mit ihren riesigen Wäldern, weiten Grasebenen, duftenden Blumen und blühenden Sträuchern. Aber auch mit ihrem Fortschritt, der Technik und unvorstellbarem Wissen. Nun war vieles vergessen, aber mindestens genauso viel festgehalten in Büchern, die in riesigen Bibliotheken darauf warteten, wiederentdeckt zu werden.

Wie es wohl war, über eine weite grüne Wiese mit Hunderten bunten Blumen in allen erdenklichen Farben zu laufen? Oder einen Computer zu bedienen? Oder in einem Flugzeug über den Wolken zu schweben?

Das Klingeln kleiner Glöckchen durchbrach die Stille des Abends. Andrienna öffnete ihre Augen und sah Vacho, den Ziegenhirten, wie er gemächlich mit seiner kleinen Herde Richtung Heimat trabte.

Jede Ziege, ein Glöckchen. Wie er das nur den ganzen Tag aushält?, dachte Andrienna und verzog ihre Lippen unbewusst zu einem kleinen Lächeln. Sie winkte ihm zu und wünschte einen ruhigen Feierabend.

Das Hüten der Ziegen: wie es wohl damals in der ‘Alten Zeit’ gewesen sein muss?

In der Schule hatte sie gelernt, dass es in der ‘Alten Zeit’ riesige Wanderschafherden gab, die von Ort zu Ort zogen und weite saftige Wiesen abgrasten. Es gab genug Futter für alle möglichen Tiere. Doch als die Natur starb und es fast kein Gras und nur noch wenige Pflanzen zu fressen gab, mussten alle Lebewesen ums Überleben kämpfen. Und Ziegen waren eine der wenigen Säugetierarten, die diesen Kampf gewonnen hatten und nicht ausgestorben waren. Heute gehörten sie zu den wenigen Nutztieren, die die Menschen noch halten konnten. Sie lieferten frische Milch und bei Bedarf auch ihr eigenes Fleisch.

Ein letzter Blick auf die vorbeiziehende kleine Herde und Andrienna versank wieder in ihren Gedanken an eine alte verlorene Welt. Sie merkte nicht, wie die Glöckchen immer leiser wurden und die Stille des Abends wieder die Oberhand gewann.

Plötzlich springt sie erschrocken auf. Ihr Atem geht schnell, ihre Hand liegt unbewusst schützend auf ihrem Brustbein. Die Augen sind weit aufgerissen. Ihre Gedanken zerplatzen wie Detonationen. Sie ist hellwach, konzentriert. Ihr Blick ist fixiert auf den Weg, den Vacho eben noch gegangen ist.

Was für ein unmenschlicher Schrei.

Ohne nachzudenken fängt sie an zu laufen, schnell, voller Angst. Sie springt halb den kleinen Hügel hinunter und läuft, unten am Weg angekommen, noch schneller.

Vacho!

Ihr Geist lässt keinen klaren Gedanken zu. In ihrem Kopf überschlägt sich das Chaos, vermischt mit der Erwartung des Schreckens.

Auf einmal vernimmt sie das leise Klingeln der Glöckchen. Sie rennt. Das Klingeln wird lauter und lauter und erfüllt ihren ganzen Geist.

Noch ein paar Meter … Halt!

Sie stoppt inmitten der Ziegen. Nach Luft ringend steht sie vor dem heruntergekommenen Stall direkt neben dem kleinen Bauernhaus, wo Vacho zusammen mit seinen Ziegen …

… lebte.

Sie ist starr vor Angst. Das Grauen ist so erdrückend, dass es sie lähmt. Einige Sekunden der Leere in ihrem Geist fühlen sich wie Minuten an. Sie hört nur das unaufhörliche Klingeln der kleinen Glöckchen, in ihren Ohren laut wie Donnerschläge.

Eine heiße Woge durchfährt ihren Körper und plötzlich ist sie wieder ganz klar. Am ganzen Körper zitternd, macht sie einen Schritt auf den Leichnam zu. Sie ist angespannt wie ein kriänischer Langbogen. Sie möchte, aber kann den Blick nicht von Vachos Überresten abwenden. Er liegt auf dem schlammigen Boden inmitten der Ziegen. In seinen weit aufgerissenen Augen sieht sie noch die Angst und den Schrecken vor dem unvermeidbaren Schicksal. Sie scheinen noch lebendig, doch sind sie nicht mehr als das Spiegelbild des Todes. Doch was unterhalb des Kopfes folgt, ist noch weitaus schlimmer. Der gesamte Torso wurde vom Rumpf bis zum Halsansatz in zwei Hälften gerissen, in deren Mitte jetzt ein matschiger Haufen aus übel riechenden Eingeweiden und Gedärmen liegt. Die Beine liegen seltsam verkrümmt, als wenn jeder einzelne Knochen zertrümmert worden wäre. Die Arme sind weit abgespreizt vom Körper, wie kurz vor einer innigen Umarmung eines geliebten Menschen.

Ihr Kopf dreht sich hektisch in alle Richtungen. Nach rechts. Nach links. Mit einem blitzschnellen Ruck dreht sie sich um. Doch einen Angreifer, den Mörder, kann sie nirgends ausmachen.

Einige Herzschläge lang lauscht sie konzentriert in die Dunkelheit hinein, aber außer dem unaufhörlichen Klingeln der Glöckchen und den natürlichen Geräuschen der Nacht ist dort nichts.

Ganz vorsichtig schreitet Andrienna um Vacho herum. An seinem Kopf angekommen kniet sie sich hin, legt seinen Kopf vorsichtig in ihren Schoß und streichelt, wie in einem lethargischen Traum, sanft seine blutverschmierten Haare. Sie schließt die Augen und atmet ruhig und lange aus.

Wer hat dir das nur angetan?

Einige Augenblicke später öffnet sie ihre Augen und betrachtet die nahe Umgebung. Vachos Blut ist so weit gespritzt, dass die Ziegen um ihn herum voll sind mit dem roten, zähen Nass. Tränen befeuchten ihre Augen und sie kann nicht anders als lauthals ihren ganzen Schmerz in die Welt hinaus zu schreien.

Plötzlich zuckt der Kopf in ihren Händen. Mit einem Entsetzensschrei springt Andrienna auf, taumelt rückwärts, fort von dem Untoten. Voller Angst sieht sie, wie sich Vachos tote Augenlider öffnen und schließen. Der Mund bewegt sich krampfhaft und versucht Laute von sich zu geben. Die zerrissenen Körperhälften zittern und Vachos linker Arm scheint nach etwas greifen zu wollen. Panik, blanke Todesfurcht leiten sie. Andrienna versucht zu fliehen, doch ihre Beine stoßen hart gegen den Körper einer Ziege. Sie verliert das Gleichgewicht, stolpert, rutscht auf dem vom Regen durchtränkten Boden aus und fällt direkt auf den zappelnden Leichnam zu. Ihr Kopf landet nur wenig Zentimeter neben Vachos untotem Schädel.

Vollkommen bewegungslos liegt sie im Matsch. Stille umgibt sie. Nur das Klingeln der kleinen Ziegenglöckchen dringt an ihre Ohren. Doch auch das verschwimmt in weiter Ferne, als Vachos Mund sich öffnet. Sie schließt die Augen und hofft auf ein schnelles Ende.

Röchelnde, nicht verständliche unmenschliche Laute dringen an ihr Ohr. Sie zittert vor Angst. Die Sekunden verstreichen. Die Welt steht still.

Langsam und mühevoll dreht sich Vachos toter Kopf zu ihrem. Der Mund öffnet sich mit den kaum verständlichen Worten:

“Eeees … wa w war … e ei e eiine … Frfr a au … .”

Ein letztes Zucken durchfährt Vachos geschändeten Körper. Dann wird es still. Die Zeit vergeht …

Andrienna liegt im Matsch des vom Regen aufgeweichten Bodens. Starr. Immer noch traut sie sich nicht, sich zu bewegen. Die Ziegen laufen um sie herum, so, als wenn es ein ganz normaler Abend wäre, der die Nacht willkommen heißt. Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann ist sie bereit. Andrienna drückt ihre Handballen tief in den matschigen Boden, drückt mit aller Kraft ihren gelähmten Körper nach oben und richtet sich langsam auf. Sie atmet schwer. Nur mühsam schafft sie es, ein paar Schritte rückwärts zu taumeln, den Blick stets auf den am Boden liegenden Vacho gerichtet. Meter um Meter wächst der Abstand zwischen ihr und dem Grauen.

Dann, wie auf einen für menschliche Ohren nicht wahrnehmbaren Befehl hin, stürzen sich die Ziegen gleich einer Meute hungriger Bestien im Blutrausch auf Vachos Überreste und zerfetzen unter den kreischenden Schmerzensschreien des Untoten, was noch von ihm übrig ist. Ihre Zähne reißen Haut, Fleisch und Muskeln von den Knochen. Der Wahnsinn bricht aus.

Ein Krächzen durchstößt die albtraumhafte, irrationale Szenerie und reißt Andrienna kurz in die Wirklichkeit zurück. Sie richtet ihren Blick nach oben und sieht in dem pechschwarzen Himmel einen großen tiefschwarzen Raben kreisen, dessen Laute wie höhnisches Lachen in ihren Ohren klingen.

 

Andrienna blickt ein letztes Mal zurück zu Vacho. Eine Träne rollt ihre Wange hinab. Sie schließt die Augen. Dann ist nichts mehr.

Sieben Jahre später …

Tag 1


9 2 7 n a c h A n b r u c h

d e r N e u e n Z e i t

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1 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t

d e r Z e i t d e r B l ü t e

F r ü h e r M i t t a g

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I s t e n d a h / M a r k t v i e r t e l


Es war ein warmer, aber regnerischer Tag. Nichts Ungewöhnliches für die beginnende ‘Zeit der Blüte’. Luhni Mahjos saß in einem der zahlreichen Gasthäuser des Marktviertels Istendahs, trank braunen Kertush mit Ziegenmilch und viel Zucker und blickte gebannt durch eines der trüben Fenster nach draußen. Er war erst vor wenigen Stunden in der ‘Stadt der Weisen’, wie Istendah stets von seinem Vater genannt wurde, angekommen. Gereist war er mit einem der modernen Schiffe, die weder Wind noch elektrische Energie benötigten, sondern rein mit Wasserdruck angetrieben wurden.

Eine faszinierende neue Technik, dachte er.

Lu liebte die Ferne, das Abenteuer, aber hasste das Reisen, zumindest die gewöhnliche Art zu Pferd. Genauer gesagt mochte vor allem sein Hintern das Reiten so gar nicht und machte dies durch starke, anhaltende Schmerzen sehr deutlich. Deshalb reiste Lu meist modern mit einem motorisierten Reisemobil oder dem Schiff, wobei Letzteres der schnellere Weg von Talberg nach Istendah gewesen war, weshalb er sich dafür entschieden hatte.

Noch etwas erschöpft von den Strapazen der Reise, versuchte Lu durch das schmutzige Fensterglas etwas von dem Leben dort draußen zu erhaschen. Aber der Regen ergoss sich so stark, dass er nichts als vage Umrisse erkennen konnte. Doch was er nicht sehen konnte, das fügte seine Fantasie hinzu.

Was ist das da hinten? Ein Gift-Erjon? … Nein, das kann nicht sein, denn diese Art widernatürlicher Wesen, die eindeutig zu den gefährlichen zählte, gab es nur im hohen Norden Danariens und nicht im Herzen Sdotriens.

Oder dort. Ein ‘Dämonischer Ozúhl’?

Kaum sichtbar. Nur den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar.

Nein.

Es war alles nur seiner Fantasie entsprungen und sonst nichts. Das hoffte er zumindest.

Was für ein Blödsinn, dachte er. Oh ja, er wusste, dass es mehr gab auf dieser Welt als das, was die meisten Menschen sehen konnten - oder wollten. Aber das bedeutete nicht, dass er in jedem Schatten ein widernatürliches Wesen, in jedem eisigen Windhauch einen fliegenden Gorgundol sehen musste. Nein, das war nun wirklich übertrieben und nicht nur das: Es war gefährlich. Verlor er den klaren Blick für das Widernatürliche, das Wahre und Wesentliche und ließ es zu, dass seine Fantasie die Führung übernahm, so würde er nicht mehr lange unter den Lebenden weilen, versagte sein Geist in einer wirklich gefährlichen Situation.

Luhni Mahjos trank einen Schluck seines schon halb erkalteten Kertushs - so mochte er ihn am liebsten -, setzte die Keramik-Tasse ab und starrte auf die sanften Wellen der dunkelbraunen Flüssigkeit. Die seicht wogenden Bewegungen wirkten beruhigend und erinnerten Lu an seine Reise über das Westmeer. Für einen kurzen Moment verlor er sich in Gedanken und träumte von einem tiefen, braun-leuchtenden Ozean, in dem die ganze Welt versank.

Er lächelte.

Wie war das doch gleich mit der Fantasie?

Sein Blick glitt zurück in die Wirklichkeit und damit auf das ihm gegenüberliegende stumpfe Fenster.

Nun ja, die Welt versinkt zwar, aber nicht in braunem Kertush, sondern im Regen.

Je länger er nach draußen in die unwirkliche Welt blickte, desto mehr ergriff ihn ein Gefühl der Unruhe. Das sich in den Millionen und Abermillionen Regentropfen brechende Licht gaukelte ihm unheimliche Bewegungen vor, die die Tropfen zu etwas Lebendigem machten. Seltsame Gestalten entstanden und zerflossen, nur um sich zu noch bizarreren Konturen neu zu formieren, die sich stets, kurz bevor Lu sie wirklich fassen konnte, erneut auflösten.

Dennoch: Etwas ist dort draußen. Etwas Grausames. Etwas Widernatürliches. Etwas Tödliches. SIE. ES.

“Mehr Kertush?”

Die Stimme drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr, so leise, dass er die Frage der Oberin beinahe gar nicht wahrgenommen hätte. Dennoch riss sie ihn aus seinem Bann. Sein Blick ließ vom Fenster ab.

“Mehr Kertush, der Herr?”

Lu blickte in ein junges, freundliches Gesicht, dass ihn fragend ansah. Die Oberin begegnete ihm mit einem Schmunzeln, was ihn im Unklaren darüber ließ, ob sie ihn an- oder für einen Trottel hielt und auslachte.

“Könnt ihr mich verstehen?”

Lu lächelte entschuldigend und fand endgültig zurück ins Hier und Jetzt.

“Tut mir leid. Ja, ich spreche die ‘Sprache der Ostlande’.”

Die ‘Sprache der Ostlande’, die nicht nur in Istendah, sondern auf dem gesamten Ost-Kontinent gesprochen wurde, bestand aus einer Wort-Mischung zahlreicher vergangener Landessprachen aus der ‘Alten Zeit’, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer allgemeingültigen Ausdrucksweise zusammengefügt hatte.

“Eure erste Frage muss ich allerdings verneinen. Keinen Kertush mehr für mich. Vielen Dank. Wie viel Münzen kriegt ihr?”

Bevor die Oberin antworten konnte, schrie eine ältere, tiefe Männerstimme von weiter hinten im Gasthaus.

“Hey Emmarita, scha … sch … schaff dein w … ww … wunderhübschen Arsch hierher. De … dr Wein is leer!”

Die Oberin verdrehte die Augen, blickte Lu entschuldigend an und wandte sich um, um dem Schreihals seinen Wunsch zu erfüllen. Scheinbar handelte es sich um einen Stammgast, der es gewohnt war, stets sofort bedient zu werden. Und wie Lu an seiner matschigen Aussprache erkannt hatte, war es auch nicht der erste leere Krug Wein, vor dem er an diesem Tag saß.

Als die Oberin zurückkam, verlangte sie zwei dreieckige Builas für den Kertush. Lu beglich die Rechnung und fragte mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen:

“Bekommt der Kerl immer sofort, was er will?”

“Ach, das ist nur Benem. Er kommt jeden Tag, betrinkt sich und geht wieder. Er ist vielleicht ein bisschen grob, aber im Grunde genommen ein guter Kerl. Hat viel durchgemacht, bevor Istendah zu der Stadt wurde, die sie heute ist.”

Lu nickte, um ihr zu bedeuten, dass er verstanden hatte. Es waren harte Zeiten gewesen, bevor der ‘Große Umbruch’ Istendah zu einem besonderen Ort des Wissens, der Technik, der Kultur und auch der Gesellschaft gemacht hatte.

Istendah war speziell, anders, faszinierend, inspirierend. Die Bewohner der Stadt und ihrer Außenbezirke arbeiteten nicht für sich, nicht für Geld, sondern für die Stadt selbst. Jeder übte seinen Beruf aus und bekam dafür einen Anteil an dem Geschaffenen, sei es Essen, Trinken, Kleidung, ein Pferd, Hausrat oder sonstige Güter. Der Besuch öffentlicher Bäder, Ärzte und auch die Bewirtung in Gasthäusern kostete die Einheimischen nicht einen Sen’se. Fremde hingegen mussten für alles bezahlen.

Der Überschuss an den durch die Bewohner Istendahs geschaffenen Gütern wurde exportiert. Es entstand ein florierender Handel, durch den Istendah eine wohlhabende Stadt wurde. Und eben dieser Wohlstand wurde auch in Form von Geld an die Bevölkerung weitergegeben. Jeder Bürger bekam seinen Anteil, von dem er sich bei fremdländischen Händlern Waren kaufen konnte, die es in Istendah selbst nicht gab. Oder man gönnte sich Luxuswaren bei innerstädtischen Kaufleuten wie Schmuck, Waffen oder Alkohol, die auch von Einheimischen bezahlt werden mussten.

Der allgemeine Wohlstand zog viele Menschen und andere intelligente Lebewesen höheren Standes, Gelehrte und Intellektuelle an. Bibliotheken und Universitäten wurden errichtet, ganze Bücherbestände anderer Orte des Wissens, ganze Sammlungen technischer Geräte, Maschinen und Waffen der ‘Alten Zeit’ aufgekauft. Die Stadt wuchs und gedieh und wurde zum Zentrum des Wissens und des Fortschritts der ‘Neuen Zeit’.

Als die Oberin gegangen war, stand Lu auf, nahm seine kurze, schwarze Jacke aus Riesenwildschweinhaut, streifte sie über und trat hinaus in den strömenden Regen Istendahs.

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Luhni Mahjos wurde klitschnass.

Den ganzen Nachmittag war er durch die Straßen Istendhas gestreift, um sich einen Überblick über die Stadt zu verschaffen, die er bislang nur von Geschichten her kannte, die irgendwelche fahrenden Händler oder Kuriere im nächstbesten Wirtshaus preisgaben, gab man ihnen nur genug Wein oder Schwarzbier zu trinken. Aber was seine Augen heute erblickt hatten, hatte ihn vor Staunen den Atem anhalten lassen.

Dass Istendah eine prächtige Stadt war, hatte er erwartet. Aber dieses Maß an Kultur, Kunst, Architektur und Glanz hatte ihn in Ehrfurcht verweilen lassen. Dabei hatte er noch längst nicht alle Wunderwerke dieser Stadt erblickt.

Das Zentrum Istendahs bildete das fast kreisförmige Marktviertel, um das sich fast alle anderen Stadtviertel fächerförmig ausbreiteten. Im Norden lag das Hafenviertel, die Heimat der Fischer, darüber das sogenannte Geisterviertel, was einsam und verlassen dem Verfall preisgegeben worden war. Östlich des Hafenviertels schloss das Amtsviertel mit den Regierungsgebäuden an. Daneben lagen das Bildungsviertel und nach Süden hin das Industrie- und Handwerkerviertel. Geschlossen wurde der Kreis um das Zentrum Istendahs im Westen durch das Wohnviertel, in dem vor allem die einfachen Arbeiterfamilien ihr Heim hatten.

Im Norden und Westen wurde die Stadt vom Westmeer begrenzt, sodass sie sich nur nach Süden und vor allem Osten hin ausbreiten konnte, wo es im Bauernviertel riesige Gemüsefelder und zahlreiche Gänse-, Ziegen- und Pferdefarmen gab.

Lu war vom Marktviertel ausgehend stundenlang gewandert, vorbei an der berühmten Universität ‘De Robosann’, hin zum ‘Haus des Wissens’ und zur ‘Technischen Fakultät’, die allesamt im Bildungsviertel Istendahs lagen. Er hatte das ‘Museum der Alten Zeit’ und die bronzene, bestimmt über 4 Ellen große Statue von Martin Gansberg, dem Begründer des ‘Großen Umbruchs’, bestaunt, bevor er die im Marktviertel gelegene schwarze Eglesia Pazis, die größte Kirche Istendahs, derzeit dem Gott Hendrax gewidmet, umrundet hatte. Stets war er zügig vorangeschritten, bis ihn sein Weg auf die von Brücken überkreuzte Insula Shvasen geführt hatte, die inmitten des Flusses Sanzea lag, der die Stadt durchfloss. Hier stand er nun und betrachtete voller Staunen diesen Ort des Friedens und der Entschleunigung.

Lu schlenderte gemächlich über sauber angelegte weiße Kieswege, eingebettet in große grüne Grasflächen, die man heutzutage fast nirgendwo mehr fand, und versuchte, all die Ruhe, die dieser Ort fühlbar ausstrahlte, in sich aufzunehmen. Sogar der Himmel klärte sich. Die Wolken brachen auf, der Regen versiegte und warme Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht.

Eine seltene Atempause.

In all der wunderbaren Natur stand ein von großen Gärten umgebener hoher Turm, der Carob Toran, das höchste Gebäude Istendahs, erbaut auf den Überresten eines der ältesten je gefundenen Gebäude der ‘Alten Zeit’. Dieser prachtvolle Turm, dieses Wunder von Menschenhand erschaffen, war das Wahrzeichen der Stadt und der Sitz der Mantrikulu, von manchen als Zauberer oder Magier bezeichnet, von anderen als Wissenschaftler spezieller, teils seltsamer Dinge. Keiner wusste genau um die Arbeit der in sich zurückgezogen lebenden Mantrikulu. Durch ihre Erhebungen und Mithilfe, vor allem in der Erforschung und Entwicklung moderner Medizin, erfuhren sie aber sowohl innerhalb der einheimischen Bevölkerung als auch weit über die Tore der Stadt hinaus große Anerkennung. Nebenher fungierten sie ab und an als Berater des Stadthalters von Istendah, denn sie waren bekannt für ihr reiches Wissen, ihre Umsicht, Voraussicht und ihre Neutralität.

 

Vor allem der riesige Garten faszinierte Lu. So eine Vielfalt an Pflanzen hatte er noch nie zuvor gesehen, denn Pflanzen waren seit dem Ende der ‘Alten Zeit’ ein rares Gut. Er erinnerte sich an einen Text, den er erst kürzlich gelesen hatte und in dem die Entwicklung hin zur ‘Neuen Zeit’ beschrieben wurde.


Die Menschen zerstörten die Welt,

langsam aber unaufhaltsam.

Die Ausbeutung und Verschmutzung der Erde, das Übermaß an Industrien und Abgasen, die Zerstörung der Natur, wie das Abholzen riesiger Waldflächen - all das brachte den Untergang.

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Die Erwärmung der Erde schritt drastisch voran. Das ewige Eis der Pole schmolz und der Meeresspiegel stieg. Landmassen wurden überflutet oder aufgrund der dramatisch gestiegenen Temperaturen für die meisten Lebewesen unbewohnbar.

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Länder zerfielen in kleine autonome Staaten, Regierungen zerbrachen.

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Die Menschen flohen in die nördlichen Regionen, wo das Klima kühler und das Land weniger dicht besiedelt war. Aber die verbliebene Fläche konnte die Masse an Fliehenden nicht aufnehmen.

Ein blutiger Kampf um die knappen Ressourcen begann und endete in jahrhundertelanger Gewalt und Krieg, der viele Opfer forderte.

Biologische und chemische Waffen wurden entwickelt und eingesetzt.

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Die Hoch-Zeit der Genetiker begann.

Tiere, Pflanzen, aber auch Menschen wurden angepasst, verändert, zu Experimenten der Wissenschaft, in der Hoffnung, den neuen Umweltbedingungen standhalten zu können.

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Vergebens.

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Neue Krankheiten entstanden, mutierten und reduzierten das Leben erneut.

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Die Vergehen der Menschheit forderten nach Hunderten von Jahren schließlich ihren Preis:

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Die Natur starb.

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Zuerst verschwand ein Großteil aller Insekten, dann die meisten Pflanzen und Tiere.

Nur wenige Arten waren so robust und standhaft, dass sie überleben konnten.

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Es begann die ‘Zeit der Leere’.

Die Welt veränderte sich.

Säugetiere hatten jahrtausendelang die Erde beherrscht und wurden nun von Echsen abgelöst, die nach und nach die vorherrschende Spezies bildeten.

Überlebende Tierarten der ‘Alten Zeit’ entwickelten sich weiter.

Das Erscheinungsbild der Erde war fortan geprägt durch Steppen, staubige karge Landschaften, raue Felsen und Ruinen - die verbliebenen Reste einer einst hoch entwickelten Zivilisation.

Aber auch neue Pflanzen, vorwiegend verschiedene Arten von Büschen, Farnen, Sträuchern, Kräutern und Gräsern, schossen hervor - meist vereinzelt, selten auch gebündelt in Busch- oder Strauchwäldern. Bäume fand man nur noch selten, genau wie größere Grasflächen. Blumen waren für immer verloren.

Die Evolution brachte neue intelligente Spezies hervor, die fortan neben den Menschen existierten.

Aus dieser Zeit stammen die ersten Berichte über widernatürliche Wesen.

Woher sie kamen, kann bis heute nur vermutet werden. Vielleicht entstanden sie im Rahmen des natürlichen Entwicklungsprozesses der Welt. Womöglich sind die Wesen aber auch Überbleibsel genetischer Experimente, die in Folge des Zusammenbruchs der Zivilisation in die Freiheit entfliehen konnten, wo sie sich vermehrten und Teil der ‘Neuen Zeit’ wurden.

Eine dritte Theorie besagt, dass es die seltsamen Kreaturen schon immer gab, im Verborgenen, im Schatten, und sie nach dem Untergang der ‘Alten Zeit’ ihre Chance gekommen sahen, endlich auch im Licht zu wandeln.


Während Lu noch in Gedanken an vergangene Zeiten versunken dahin schlenderte, erreichte er unbewusst das nördliche Ende der Insula Shvasen und stoppte. Als er den Fluss Sanzea vor sich sah, drehte er reflexartig den Kopf und blickte mit schwerem Herzen zurück zu dieser grünen, friedlichen Oase. Aber er musste weiter. Der Tag näherte sich bereits dem Abend und er hatte noch nicht alle Teile Istendahs erkundet, die für heute auf seiner Liste standen. Die kurze Zeit der Ruhe war vorbei.

Zügig überquerte er die nächstgelegene der vier weißen Metall-Brücken, die die Insel mit dem Festland verbanden und betrat eine breite steinerne Straße, die parallel zum Fluss verlief.

Lu wandte sich nach Norden und ging raschen Schrittes los.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Hafenviertel der Stadt erreicht hatte. Kurz verschnaufend, lehnte er sich auf das Geländer der hohen steinernen Kaimauer und blickte hinab auf die Sanzea.

Zwar hatte es schon vor einiger Zeit aufgehört, doch lange genug geregnet, dass das Wasser des großen Flusses jetzt wild und unbeherrscht war. Es bewegte sich schnell, viel schneller als normalerweise. Das tiefe Blau wurde an vielen Stellen von weißen schäumenden Kronen unterbrochen, die einen bizarren Tanz auf den Wellen vollführten, der Lu in seinen Bann zog. Dicht unter der Wasseroberfläche meinte er, seltsame Bewegungen auszumachen, nur den Bruchteil eines Augenblicks, bis die reißende Strömung das Bild wieder verschwimmen ließ.

Doch bevor seine Fantasie wieder mit ihm durchgehen konnte, durchbrach ein lautes Krächzen den Bann und ließ ihn Aufschrecken. Er schaute nach oben und sah einen großen tiefschwarzen Raben, wie er von Dach zu Dach flog und wohl nach Beute Ausschau hielt. Und Beute gab es in einer Stadt wie Istendah zuhauf. Allein die Abfälle des großen Marktes am Gansberger Platz mussten ausreichen, um ganze Vogelschwärme sattzukriegen.

Lu blickte dem Raben nach, wie er auf dem Dach eines kleinen hölzernen Schuppens direkt am Uferkai landete, keine fünfzig Schritte von ihm entfernt.

Der Schuppen bestand, soweit es Lu von seiner Position aus sehen konnte, fast nur aus lose hängenden hölzernen Brettern, die von zu wenigen Nägeln mehr schlecht als recht zusammengehalten wurden. Vielleicht war es ein Lager der hier im Hafenviertel ansässigen Fischer, vielleicht auch etwas anderes. Lu war es egal.

Sein Blick wanderte zurück zum Dach und damit zu dem Raben, der in diesem Moment seine ungewöhnlich großen Schwingen ausbreitete und steil gen Himmel flog.

Lu beobachtete ihn noch einen kurzen Moment. In der Ferne vernahm er das Läuten der Glocken der Eglesia Pazis. Es war schon spät. Höchste Zeit, sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.

Ein letzter Blick auf die Sanzea und Lu dreht sich herum. Er will gerade in Richtung der nahe gelegenen Hafenmeisterei gehen, wo er am Morgen sein Gepäck deponiert hat, da vernimmt er aufgeregte Schreie, die von Richtung des schäbigen hölzernen Schuppens an sein Ohr dringen - verzweifelte Schreie des Schreckens.

Lu reagiert blitzschnell. Er rennt entlang des Flusses auf den Ursprung der Schreie zu. Direkt hinter dem hölzernen Schuppen stoppt er abrupt und sieht einige Schnapper, segelfähige Echsen mit einer Flughaut zwischen Vorder- und Hinterbeinen, wütend aufsteigen, vertrieben von ihrer Beute durch einen Mann und eine Frau, die mit wild fuchtelnden Armen über einem leblosen Körper stehen.

Lu nähert sich langsam. Der Mann bemerkt ihn. Er stoppt und hebt beruhigend die Arme, um zu Signalisieren, das von ihm keine Gefahr ausgeht. Sein Blick schwankt zwischen den beiden aufgebrachten Menschen und der Leiche.

Ein toter Mann, der zwischen einem Stapel Metallkisten und der hölzernen Baracke fast versteckt liegt.

Die Frau wimmert, zittert vor Angst. Der Mann versucht sie zu beruhigen, fasst sie an der Schulter. Sie aber reißt sich los und rennt einige Schritte weit weg von dem Grauen, der Mann hinterher. Er packt sie sanft, aber bestimmt, bevor sie die Panik endgültig überwältigt und sie in seinen Armen zusammenbricht.

Jetzt!

Lu läuft zu der Leiche und geht in die Knie. Der Tote liegt inmitten seiner Gedärme auf dem Bauch, sodass Lu sein Gesicht nicht sehen kann. Er ist stämmig, nicht sehr groß, schon älter und eher ungepflegt. Obwohl kein Herzmuskel mehr schlägt, ist der Körper noch warm, wenn auch ungewöhnlich bleich, fast wie Elfenbein.

Noch nicht lange tot …

Lu blickt zu dem Mann hinüber, der die Frau noch immer in seinen Armen hält. Sie ist verstummt. Selbst aus der Entfernung kann er in ihre Augen sehen. Sie sind offen, aber leer. Noch immer ist in ihnen eine vage Ahnung des Schreckens zu erkennen, doch sie blicken längst nicht mehr in diese Welt, sondern versinken in dem endlosen schwarzen Abgrund, aus dem die traumatisierte Seele nur schwer zurückfinden wird.

Lu empfindet Mitleid. Er weiß, dass der Mörder heute nicht nur ein Leben für immer zerstört hat.