Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

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IV

Angesichts der seit Niederschrift des Buches radikal veränderten Problemlage erscheint es dem Verfasser angebracht, den philosophischen Ansatz neu zu überdenken, der seiner damaligen Darstellung des Marxschen Naturbegriffs zugrunde lag. Die Dissertation war insofern dem Geist der älteren Frankfurter Schule verpflichtet, als sie (im Gegenzug zu den unvermittelten Objektivismen stalinistischer Ideologie) darauf abzielte, das deutsch-idealistische Erbe in Marx ungeschmälert zur Geltung zu bringen. Der Verfasser war deshalb darauf bedacht, den »praktisch-kritischen« Materialismus der Thesen über Feuerbach und der Deutschen Ideologie47 auch in den – ausdrücklich hinzugezogenen – ökonomischen Werken nachzuweisen. Daher die Tendenz der Schrift, das menschliche Natur- und Weltverhältnis fast durchweg aus der Perspektive des arbeits- und erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schemas zu erörtern.48 Dadurch ist eine – zumal heute hervortretende – Asymmetrie entstanden. Die andere, ebenso berechtigte Seite des Marxschen Verständnisses von Wirklichkeit wird zwar thematisiert49, aber ihr sachliches Gewicht nicht gebührend hervorgehoben. So wahr es bleibt, daß die »sinnliche Welt« kein »unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar ... ein geschichtliches Produkt«50, so wohlbegründet bleibt es, umgekehrt, die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation« als »naturgeschichtlichen Prozeß«51 aufzufassen.

Daß, im Sinn des II. Kapitels, alle »gesellschaftliche Vermittlung der Natur« die »naturhafte Vermittlung der Gesellschaft« voraussetzt, ist vielleicht erst heute im vollen Bewußtsein der Implikationen aussprechbar. Bei »jedem Schritt«, so Engels in der Dialektik der Natur, »werden wir ... daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, ... ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können«52. Deshalb sollten wir uns vor der Illusion hüten, im Sozialismus werde die Menschheit sich souverän über die Natur erheben. Deren noch so große Beherrschung, bemerkt hierzu Max Adler, beseitigt nicht »die Naturabhängigkeit ... der gesellschaftlichen Erscheinungen«53; sie ändert bloß die Form, worin sie sich durchsetzt. Wohl »verschiebt« sich der »Natureinfluß« im Verlauf der Geschichte. »Aber diese Verschiebung bedeutet kein Aufhören, ja nicht einmal eine Verminderung der Abhängigkeit des Menschen von den Naturfaktoren. Im Gegenteil, gerade Marx hat darauf hingewiesen, daß mit der Fortentwicklung der Beherrschung der Naturkräfte gleichsam die Breite der Berührung des Menschen mit der Natur wächst und daß er selbst in der Herrschaft über die Natur um so mehr in Abhängigkeit von ihr gerät.«54

Dennoch hat der Mensch es vermocht, der Erde seinen Stempel aufzudrücken. Marx weiß sich auf der Höhe weltgeschichtlichen Fortschritts, wenn er in der Kritik des Gothaer Programms feststellt, »Quelle von ... Reichtum« werde die Arbeit nur insofern, als sich »der Mensch ... von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und ­gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt«55. Entsprechend figuriert im III. Band des Kapitals die Erde »als das ursprüngliche Beschäftigungsfeld der Arbeit, als das Reich der Naturkräfte, als das vorgefundne Arsenal aller Arbeitsgegenstände.«56. Natur erscheint bei Marx immer schon im Horizont geschichtlich wechselnder Formen ihrer gesellschaftlichen Aneignung.57 Über ihre eigene Beschaffenheit verlautet lediglich, daß sie, als »materielles Substrat« von Gebrauchswerten, »ohne Zutun des Menschen ... vorhanden ist«58. Dieser – im vorliegenden Buch materialistisch interpretierte – Sachverhalt kann jedoch am gleichzeitigen Anthropozentrismus der Marxschen Naturkonzeption nichts ändern, in der sich die Rolle des modernen, die Welt umgestaltenden Subjekts reflektiert.59

In dem Maße, wie der Verfasser die »weltkonstitutive« Funktion der historischen Praxis hervorhob, hoffte er dem Selbstverständnis von Marx gerecht zu werden. Letzteres freilich hat sich unterdessen als wenig konsistent erwiesen. Das gilt zumal für den »praktischen« Wirklichkeits-Bezug des Marxschen Denkens, der sich in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten anders darstellt als in der Kritik des Gothaer Programms, wo er sich verfestigt zum historischen Apriori schrankenloser Aneignung der Natur.

Wie schon im Postscriptum 1971 ist auch hier an Feuerbach wenigstens zu erinnern, über den Marx und Engels allzu rasch hinweggegangen sind.60 Was sie als Mangel seines »anschauende[n] Materialismus«61 beanstandeten: daß er das Sein der Dinge nicht antastet, wird heute als eine Möglichkeit unverstellten Natur-Zugangs wiederentdeckt. Feuerbach konfrontiert im Wesen des Christentums das neuzeitliche Bewußtsein mit der großartigen Naivität der Griechen, deren Verhältnis zur Welt gleichzeitig theoretisch und ästhetisch ist; »denn die theoretische Anschauung ist ursprünglich die ästhetische, die Ästhetik die prima philosophia«62. Für die Alten ist »der Begriff Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeit selbst«63. Mensch und Welt befinden sich in Harmonie. »Wem die Natur«, so Feuerbach, »ein schönes Objekt ist, dem erscheint sie als Zweck ihrer selbst, für den hat sie den Grund ihres Daseins in sich«; er setzt als »Grund der Natur« eine »in seiner Anschauung sich betätigende Kraft«64. Freien Spielraum gewährt der Mensch dieser Stufe allein seiner Phantasie. »Er läßt hier«, betont Feuerbach, »indem er sich befriedigt, zugleich die Natur in Frieden gewähren und bestehen, indem er seine ... poetischen Kosmogonien nur aus natürlichen Materialien zusammensetzt.«65 Sobald dagegen, wie in der Moderne, der Mensch die Welt vom »praktischen Standpunkt« aus betrachtet, gar diesen zum theoretischen erhebt, »da ist er entzweit mit der Natur, da macht er die Natur zur untertänigsten Dienerin seines selbstischen Interesses, seines praktischen Egoismus«66.

Es ist klar, daß Feuerbachs Rekurs auf das vortechnisch-mythische Weltbild der Griechen kein bloßer Reflex romantischer Sehnsüchte ist. Feuerbach erinnert an die schon zu seiner Zeit vielfach verschüttete Möglichkeit, Natur nicht nur als Objekt der Wissenschaft oder Rohstoff zu erfahren, sondern »ästhetisch« im sinnlich-rezeptiven wie künstlerischen Sinn. Aneignende Praxis soll den Dingen zu Ausdruck und Sprache verhelfen. Dazu aber bedarf es eines philosophischen Ansatzes, der über die mit dem Subjekt-Objekt-Schema des Arbeits­ und Erkenntnisprozesses gesetzte Trennung von Mensch und Natur hinaus ist. Auszugehen wäre vom Naturganzen (und der Naturentsprungenheit des Menschen). Eben darin bestand nach Marx der »aufrichtige Jugendgedanke«67 Schellings. Im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799 wird der Natur »unbedingte Realität« zuerkannt: »Autonomie« und »Autarkie«. Natur, sagt Schelling, ist »ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisirendes Ganzes«68.

Heuristisch brauchbar ist auch Engels’ These von der Natur als »Gesamtzusammenhang«69, als in sich reich gegliedertes System universeller Wechselwirkungen. Innerhalb dieses in originärer Selbstgegebenheit sich darbietenden Systems bildet der durch materielle Produktion vermittelte Austausch von Mensch und Natur nur eine von zahllosen Interaktionen. Dadurch wird der bisherige, an menschlicher Praxis und Geschichte orientierte Denkansatz nicht hinfällig, aber relativiert. Der historisch-dialektische erweitert sich zum »ökologischen Materialismus«.70 Dieser begreift, daß die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen umschlossen und getragen wird von einer elementarischen Dialektik von Erde und Mensch, den ungeschichtlichen Voraussetzungen aller Geschichte. Hierin bewährt sich der Gedanke, daß die Welt eine materielle Einheit bildet. – Viel wäre bereits gewonnen, wenn sich die Menschheit, unter Verzicht auf schrankenloses Wachstum, darauf einrichten könnte, künftig in besserem Einklang mit dem System der Natur zu leben.

Frankfurt am Main, Anfang April 1993 Alfred Schmidt

Anmerkungen zum Vorwort des Verfassers
zur französischen Ausgabe

1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und ­Hermann Schweppenhäuser, Band I.3, Frankfurt am Main 1980, S. 1232.

 

2 Cf. hierzu Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, München 21985, S. 110.

3 Cf. Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988, S. 32ff.

4 Engels an Marx, Brief vom 15. Dezember 1882, in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 425 (Hervorhebung von Engels).

5 Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, »New York Daily Tribüne«, Nr. 3840 vom 8. August 1853, in: Ausgewählte Schriften, Band I, Berlin 1964, S. 330.

6 Manifest der Kommunistischen Partei, in: ibid., S. 30f.

7 Ibid.

8 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, S. 313.

9 Ibid.

10 Marx, Das Kapital, Band III, Berlin 1953, S. 873.

11 Cf. Fetscher, l.c., S. 120f.

12 Marx, Grundrisse, l.c., S. 387.

13 Ibid.

14 Ibid., S. 387; 388.

15 Cf. ibid., S. 79.

16 Ibid.

17 Ibid.

18 Ibid.

19 Ibid.

20 Ibid., S. 79f.

21 Ibid., S. 231; cf. auch S. 415. – Cf. zur historischen Notwendigkeit des »­Hindurchgangs« der Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise auch Fetscher, l.c., S. 115ff.

22 Marx, Grundrisse, l.c., S. 80.

23 Ibid., S. 231.

24 Marx/Engels, Werke, Band I, Berlin 1957, S. 375.

25 Marx, Das Kapital, Band III, l.c., S. 289.

26 Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 531 (Hervorhebungen vom Verfasser).

27 Marx bezieht sich in diesem Zusammenhang (cf. ibid., S. 532) auf Justus von Liebig, dessen Buch Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie (71862) er dafür lobt, die »negative Seite der modernen Agrikultur ... vom Naturwissenschaftlichen Standpunkt« aus entwickelt zu haben. Cf. dazu auch Fetscher, l.c., S. 137.

28 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 531f. (Hervorhebungen von Marx). – Cf. hierzu auch die Theorien über den Mehrwert, wo es lapidar heißt: »Antizipation der Zukunft – wirkliche Antizipation – findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht es in der kapitalistischen Produktion« (in: Marx/Engels, Werke, Band 26.3, Berlin 1968, S. 303).

29 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 532.

30 Marx/Engels, Werke, Band 26.3, l.c., S. 295.

31 Marx, Brief an Engels vom 25. März 1868, in: Marx/Engels, Werke, Band 32, Berlin 1965, S. 52f. (Hervorhebungen von Marx).

32 Marx, Das Kapital, Band II, Berlin 1955, S. 241. – Marx kommentiert hier Friedrich Kirchhofs Handbuch der landwirtschaftlichen Betriebslehre, Dessau 1852, S. 58.

33 Marx, Das Kapital, Band II, l.c., S. 241.

34 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 275f.

35 Ibid., S. 276.

36 Ibid.

37 Ibid.

38 Ibid., S. 455.

39 Ibid., S. 454.

40 Ibid., S. 452f; cf. hierzu auch S. 455.

41 Ibid., cf. S. 277.

42 Ibid., S. 453.

43 Ibid., S. 454. – Hinsichtlich der von Engels erwogenen Möglichkeit auch die Naturbeherrschung künftig lückenlos zu beherrschen, haben spätere Marxisten wie Max Adler sich mit Recht eher skeptisch geäußert. Adler warnt davor, »in die übliche und gedankenlose Verherrlichung des technischen Fortschritts zu verfallen, wie sie die bürgerliche Welt zu ihrer Berühmung und Rechtfertigung liebt«. Es bleibt zu beachten, »daß eine Möglichkeit sozusagen für den Einbruch der unbeherrschten Natur in das System der geregelten und beabsichtigten Naturwirkungen nicht nur immer bestehen bleibt, sondern, wo er gelingt, gerade infolge der größeren, aber momentan durchbrochenen Naturbeherrschung auch bedeutsam größere, ja manchesmal sogar katastrophale Wirkungen hervorruft« (Natur und Gesellschaft. Soziologie des Marxismus 2, Wien 1964, S. 81; 83).

44 Marx/Engels, Werke, Band 20, l.c., S. 454.

45 Ibid.

46 Marx, Das Kapital, Band III, l.c., S. 826.

47 Marx/Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 5ff.; 42ff.

48 Cf. hierzu besonders das III. Kapitel, Abschnitt C): Weltkonstitution als historische Praxis. – In seinem Artikel Praxis (1973) hat der Verfasser die »praxeologische« Auffassung der Wirklichkeit näher entwickelt (in: Alfred Schmidt, Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart 1981).

49 Am deutlichsten noch im Abschnitt B) des II. Kapitels, wo der Verfasser den »Stoffwechsel von Mensch und Natur« erörtert und dabei auch auf dessen Zusammenhang mit den komplexen Interaktionen innerhalb des Naturganzen zu sprechen kommt.

50 Marx/Engels, Werke, Band 3, l.c., S. 43.

51 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 8.

52 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 453.

53 Max Adler, Natur und Gesellschaft, l.c., S. 84.

54 Ibid., S. 83 f.

55 Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Band II, Berlin 1964, S. 11 (Hervorhebungen vom Verfasser).

56 Marx, Das Kapital, Band III, l.c., S. 879.

57 Martin Heidegger hat denn auch im Humanismusbrief den Marxschen Materialismus als Ausdruck einer weltgeschichtlichen Erfahrung des modernen Bewußtseins interpretiert und gegen »billige Widerlegungen« verteidigt. »Das Wesen des Materialismus«, betont Heidegger, »besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint. Das neuzeitlich­metaphysische Wesen der Arbeit ist in Hegels Phänomenologie des Geistes vorgedacht als der sich selbst einrichtende Vorgang der unbedingten Herstellung, das ist Vergegenständlichung des Wirklichen durch den als Subjektivität erfahrenen Menschen. Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen der Technik« (Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«, Bern 21954, S. 87f.).

58 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 47; cf. auch S. 186.

59 Cf. Alfred Schmidt, Humanismus als Naturbeherrschung, in: Jörg Zimmermann (Hrsg.), Das Naturbild des Menschen, München 1982, S. 301ff.

60 Cf. Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988, S. 46ff.

61 Marx/Engels, Werke, Band 3, l.c., S. 7.

62 Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Band 5, Berlin 1973, S. 206.

63 Ibid., S. 207.

64 Ibid., S. 206 (Hervorhebungen von Feuerbach).

65 Ibid., S. 207 (Hervorhebungen von Feuerbach).

66 Ibid. (Hervorhebungen von Feuerbach).

67 Marx an Feuerbach, Brief vom 3. Oktober 1843, in: Marx/Engels, Werke, Band 27, Berlin 1963, S. 420.

68 Schellings Werke, hrsg. von Manfred Schröter, Zweiter Hauptband, München 1927, S. 17.

69 Marx/Engels, Werke, Band 20, l.c., S. 307.

70 Diesen Begriff hat Carl Amerys Buch Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1976, in die wissenschaftliche und politische Debatte eingeführt (cf. S. 17ff.). – Der marxistische Materialismus, erklärt Amery, sei darin inkonsequent gewesen, daß er sich an »Leitvorstellungen aus der politischen Ökonomie« orientiert habe, die es nunmehr »theoretisch und praktisch« den »Leitvorstellungen der Ökologie« unterzuordnen gelte (S. 184). Habe der Materialismus sich bisher damit begnügt, »die Welt zu verändern«, so komme es jetzt »darauf an, sie zu erhalten« (S. 185). – Hieraus folgt, daß Amery hinsichtlich der utopischen Hoffnungen des traditionellen Marxismus erhebliche Abstriche empfiehlt. Die »Perspektive des konsequenten Materialismus« formuliert Amery folgendermaßen: »Versöhnung mit der Erde: das ist die Notwendigkeit, aus der konsequenter Materialismus erwächst und handelt. Nicht Ende der Entfremdung, nicht Fülle der Güter für den Menschen kann sein Ziel sein, sondern zunächst und vor allem eine Zukunftsordnung, die sich aus dem Respekt vor jeder Materie, auch nichtmenschlicher, ergibt. Gewiß, noch immer und stets gilt der Marxsche Satz, daß Natur dem Menschen vermittelt wird und auch die Einwirkung des Menschen auf die Natur (der bekannte ›Stoffwechsel‹) gesellschaftlich erfolgt. Aber dies sagt noch nichts über die Aufgaben aus, die sich die Gesellschaft als Vermittlerin stellt« (S. 166).

Zusätzliche Literatur

Adler, Max: Natur und Gesellschaft. Soziologie des Marxismus 2, Wien 1964 (aus dem Nachlaß).

 

Amery, Carl: Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1976.

Fetscher, Iring: Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten? München 21985.

Fraas, Carl: Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, ein Beitrag zur Geschichte beider, Landshut 1847.

Harich, Wolfgang: Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ›Club of Rome‹, Hamburg 1975.

Holz, Hans Heinz: Grundsätzliches zu Naturverhältnis und ökologischer Krise, in: »... einen großen Hebel der Geschichte«. Zum 100. Todestag von Karl Marx: Aktualität und Wirkung seines Werks, hrsg. vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt am Main 1983.

Ders.: Historischer Materialismus und ökologische Krise, in: Dialektik 9, Ökologie – Naturaneignung und Naturtheorie, Köln 1984.

Leiss, William: The Domination of Nature, New York 1972.

Liebknecht, Karl: Studien über die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, hrsg. von Ossip K. Flechtheim, Hamburg 1974 (Originalausgabe: München 1922).

Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, in: Schriften, Band 8, Frankfurt am Main 1984.

Ders.: Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973.

Materialismus und Subjektivität. Aspekte ihres Verhältnisses in der gegenwärtigen Diskussion. Ein Gespräch zwischen Alfred Schmidt und Bernard Görling, in: Bernard Görling/ Alfred Lorenzer/Alfred Schmidt, Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus­Kritik, Frankfurt am Main 1980.

Parsons, Howard L. (ed.): Marx and Engels on Ecology, Westport, Conn. 1977.

Schmidt, Alfred: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988.

Schmidt, Alfred: Humanismus als Naturbeherrschung, in: Jörg Zimmermann (Hrsg.), Das Naturbild des Menschen, München 1982.

Schmidt, Alfred: Praxis, in: Ders., Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart 1981.

Woltmann, Ludwig: Der historische Materialismus, Düsseldorf 1900.

Die Menschheit wird Herr in der Natur, aber der Mensch wird Sklave des Menschen oder Sklave seiner eigenen Niedertracht. Sogar das reine Licht der Wissenschaft kann, so scheint es, nur vor dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit strahlen. Das Resultat aller unserer Erfindungen und unseres Fortschritts scheint zu sein, daß materielle Kräfte mit geistigem Leben ausgestattet werden und die menschliche Existenz zu einer materiellen Kraft verdummt. Karl Marx

(Nach einem von D. Rjazanow entdeckten Manuskript. In: »Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär«. Wien – Berlin 1928, S. 42)

Einleitung

Die Arbeit ist ein Beitrag zur philosophischen Marxinterpretation. Ihr Interesse gilt einem Begriff, dem im Marxschen Denken eine bloß peripherische Bedeutung zuzukommen scheint, dem Begriff der Natur. Marx kommt in seinen Schriften auf die Natur »an sich« nur äußerst selten zu sprechen. Das ist jedoch kein Kriterium für ihre geringe Bedeutung in der Theorie der Gesellschaft, sondern ergibt sich aus deren besonderer Blickrichtung.

Als Kritik der politischen Ökonomie stellt die Theorie der Gesellschaft den Produktionsprozeß der materiellen Güter als eine »Einheit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß«1 dar, wobei sie, im Anschluß an die Ricardosche Ökonomie, ihr Hauptaugenmerk auf den Tauschwert der Ware richtet, der als Vergegenständlichung abstrakt-menschlicher Arbeit, ausgedrückt in gesellschaftlich notwendigen Zeitmengen, jeder Naturbestimmtheit bar ist.

Die Naturalform der Ware, das, was Marx ihren Gebrauchswert nennt, tritt in der Analyse des Wertbildungsprozesses nur auf, sofern sie »materielles Substrat, Träger des Tauschwerts«2 ist. Demgegenüber soll hier, wo es primär um das Philosophische an der Marxschen Theorie geht, der Produktionsprozeß vor allem als Gebrauchswerte hervorbringender Arbeitsprozeß in seiner geschichtlichen Bewegung betrachtet werden.

Was den Marxschen Naturbegriff im Ansatz von anderen Naturkonzeptionen unterscheidet, ist sein gesellschaftlich-geschichtlicher Charakter. Marx geht von der Natur aus als »der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände«3, das heißt, er sieht sie von vornherein relativ auf menschliche Tätigkeit. Alle sonstigen Aussagen über Natur, seien sie spekulativer, erkenntnistheoretischer oder naturwissenschaftlicher Art, setzen die Gesamtheit der technologisch-ökonomischen Aneignungsweisen der Menschen, gesellschaftliche Praxis, jeweils schon voraus.

Wie die erscheinende Natur und alles Naturbewußtsein im Laufe der Geschichte immer mehr zu einer Funktion objektiver Prozesse der Gesellschaft herabgesetzt werden, so erweist sich umgekehrt für Marx die Gesellschaft ebensosehr als ein Naturzusammenhang. Nicht nur in dem unmittelbar kritisch gemeinten Sinne, daß die Menschen ihrer eigenen produktiven Kräfte gegenüber der Natur noch immer nicht Herr sind, daß ihnen diese Kräfte als die organisierte, feste Form einer undurchschauten Gesellschaft gegenübertreten, als »zweite Natur«, die ihren Schöpfern ein eigenes Wesen entgegensetzt, sondern darüber hinaus in dem »metaphysischen« Sinne einer Theorie des Weltganzen.

Auch der begriffene und beherrschte Lebensprozeß der Menschen bleibt ein Naturzusammenhang. Unter allen Formen der Produktion ist die menschliche Arbeitskraft »nur die Äußerung einer Naturkraft«4. In der Arbeit tritt der Mensch »dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber«5. »Indem er ... auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.«6 Die Dialektik von Subjekt und Objekt ist für Marx eine Dialektik von Bestandteilen der Natur.

Thesenhaft ließe der Inhalt der vorliegenden Schrift sich bezeichnen als ein Versuch, die wechselseitige Durchdringung von Natur und Gesellschaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassenden Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen. Als Quellentexte legt sie das gesamte zugängliche Werk von Marx zugrunde. Sie zieht die Engelsschen Schriften zur Verdeutlichung der Marxschen Position hinzu, soweit sie nicht, gemessen an dieser Position, der Kritik verfallen. Das gilt insbesondere für die Engelssche Fassung des Begriffs der Naturdialektik.

Wo auf die Marxschen Frühschriften eingegangen wird, ist es dem Verfasser mehr darum zu tun, den genetischen Zusammenhang zu bestimmten Motiven des mittleren und reifen Marx herzustellen als um den heute so verbreiteten wie verfehlten Versuch, das eigentlich philosophische Denken von Marx auf das in diesen Texten Gesagte, namentlich auf die Anthropologie der Pariser Manuskripte zu reduzieren. Aus der Überlegung heraus, daß Marx keineswegs da am philosophischsten ist, wo er sich der traditionellen Schulsprache der Philosophen bedient, werden hier in weit höherem Maße, als es sonst bei philosophischen Marxinterpretationen üblich ist, die politisch­ökonomischen Schriften des mittleren und reifen Marx zu Rate gezogen, vor allem der für das Verständnis der Beziehung von Hegel und Marx äußerst wichtige »Rohentwurf« des »Kapitals«, der seither so gut wie unausgewertet geblieben ist.

Ganz abgesehen vom Umfang der zu berücksichtigenden Marxliteratur stellen sich einem Versuch, den Naturbegriff des dialektischen Materialismus darzustellen, erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Bei Marx liegt eine systematische Theorie der Natur, die sich aller spekulativer Implikationen bewußt wäre, nicht vor. Es kam daher darauf an, aus den Hauptphasen der Entwicklung des Marxschen Denkens die oft entlegenen Motive zum Thema zusammenzutragen. Bei der außerordentlichen Verflochtenheit dieser Motive ließen sich gelegentliche Wiederholungen, Überschneidungen, auch Rückverweise nicht ganz vermeiden, so daß die in den einzelnen Kapiteln bzw. Abschnitten behandelten Sachverhalte sich nicht immer völlig mit dem in den Überschriften Angekündigten decken.

1 Das Kapital, Bd. I., S. 195.

2 A. a. O., S. 194.

3 Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels, Ausgew. Schriften, Band II, Berlin 1956, S. 11.

4 A. a. O.

5 Das Kapital, Bd. I., S. 185.

6 A. a. O.