Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

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Steht für den Materialismus der bürgerlichen Aufklärung des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Materie in ihrer physikalischen oder physiologischen Bestimmtheit im Mittelpunkt, so muß sie bei einer Gestalt des Materialismus, dessen wesentlicher Inhalt in der Kritik der politischen Ökonomie besteht, im weitesten Sinne als gesellschaftliche Kategorie auftreten. Die metaphysischen und naturwissenschaftlichen Sätze, namentlich die der Mechanik, auf denen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der gesamte vormarxsche Materialismus fußt, beruhen gar nicht auf ursprünglichen Fragestellungen, sondern sind etwas durchaus Abgeleitetes. Schon in seinem philosophiehistorischen Exkurs in der »Heiligen Familie« zeigt Marx, wie sehr der physikalische Materialismus in der Richtung seines Interesses wie in seinen dogmatischen Aussagen über die Wirklichkeit an historisch begrenzte Probleme der gesellschaftlichen Emanzipation des Bürgertums gebunden ist. Dementsprechend treten bei Marx die traditionellen Gegenstände des Materialismus in dem Maße zurück, in dem er sie in ihrer gesellschaftlichen Funktion wie Genesis begreift. Was zu den ABC-Thesen eines jeden Materialismus gehört, hat auch bei ihm seinen Ort, freilich nicht als isolierte Behauptung, sondern wesentlich als etwas in der dialektischen Theorie der Gesellschaft Aufgehobenes und erst von ihr aus ganz zu Verstehendes. Das »Kapital« kritisiert am seitherigen Materialismus ausdrücklich den Umstand, daß ihm die Beziehung seiner Formulierungen zum geschichtlichen Prozeß entgeht: »Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß ausschließt, ersieht man schon aus den abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.«47

In geradezu klassischer Weise zeigt die Marxsche Polemik gegen Feuerbach in der »Deutschen Ideologie«, wie die Naturwissenschaften, eine Hauptquelle materialistischer Aussagen, gar kein unmittelbares Bewußtsein der natürlichen Wirklichkeit liefern, weil das menschliche Verhältnis zu dieser nicht primär ein theoretisches, sondern ein praktisch­umgestaltendes ist. Ihrem Blickfeld, ihrer Methodik, ja, dem Inhalt dessen nach, was jeweils Materie heißt, sind die Naturwissenschaften gesellschaftlich determiniert. Die erwähnte Polemik gegen Feuerbach, die im Zusammenhang mit den zur gleichen Zeit verfaßten »Thesen« verstanden werden muß, steht ganz im Zeichen des bereits behandelten Marxschen Übergangs vom »anschauenden« zum »neuen«, das heißt dialektischen Materialismus. Marx zeigt, daß die Feuerbachschen Aussagen über Natur keine letzten Befunde darstellen, sondern so hochgradig vermittelt sind wie die Natur selbst: »Feuerbach spricht namentlich von der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? ... Selbst die Gegenstände der einfachsten sinnlichen Gewißheit« sind ihm nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben ... Selbst diese ›reine‹ Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheuere Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine eigne Existenz sehr bald vermissen würde.«48

Zwar ist für Marx die sinnliche Welt nicht »ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes«49, aber diese gesellschaftlich vermittelte Welt bleibt zugleich eine natürliche, die geschichtlich jeder menschlichen Gesellschaft vorausliegt. Bei aller Anerkennung des gesellschaftlichen Moments »bleibt ... die Priorität der äußeren Natur bestehen und allerdings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen, durch generatio aequivoca erzeugten Menschen; aber diese Unterscheidung (von vorgesellschaftlicher und gesellschaftlich vermittelter Natur, A. S.) hat nur insofern Sinn, als man den Menschen als von der Natur unterschieden betrachtet. Übrigens ist diese der menschlichen Geschichte vorhergehende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach nicht existiert.«50 Daß hier Marx gegenüber dem gesellschaftlichen Vermittlungsfaktor die Priorität der äußeren Natur und damit ihrer Gesetze festhält, ist erkenntnistheoretisch sehr wichtig und an späterer Stelle ausführlich zu diskutieren.

Nicht nur weil die arbeitenden Subjekte das Naturmaterial mit sich vermitteln, läßt sich von diesem nicht als von einem obersten Seinsprinzip sprechen. Die Menschen haben es ja nie mit Materie »als solcher« bei ihrer Produktion zu tun, sondern stets nur mit ihren konkreten, quantitativ und qualitativ bestimmten Daseinsweisen. Ihr Allgemeines, die Unabhängigkeit vom Bewußtsein, existiert nur im Besonderen. Es gibt keine Urmaterie, keinen Urgrund des Seienden. Nicht nur wegen ihrer Relativität auf Menschen, in ihrem »Sein für anderes«, sondern ebensowenig in ihrem »Sein an sich« taugt die materielle Wirklichkeit zu einem ontologischen Prinzip. Der dialektische Materialismus kann mit noch geringerem Recht als der dialektische Idealismus Hegels eine »Ursprungsphilosophie« genannt werden. Es gibt keine selbständige Substanz, die unabhängig von ihren konkreten Bestimmtheiten existieren könnte. Engels spricht sich über den Materiebegriff in den »Noten zum Anti-Dühring« folgendermaßen aus: »NB Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existierende unter dem Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, im Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts Sinnlich-Existierendes.«51

Noch einmal geht er auf die Frage der Materie in der »Dialektik der Natur« ein: »Die Materie und Bewegung kann ... gar nicht anders erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewegungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto auch die Materie und Bewegung als solche.«52

Neuere Versuche einer Systematisierung des dialektischen Materialismus verzichten ebenso ausdrücklich auf den Begriff der Materie als eines substantiellen »Trägers« sekundärer Akzidentien. Wie der Geist, so ist auch die Materie kein absolut »fundamentales«, kein einheitliches Erklärungsprinzip der Welt: »Im Gegensatz zum metaphysischen Materialismus verwirft der dialektische Materialismus die Vorstellung von einem ›letzten‹, unveränderlichen Wesen der Dinge‹, von einer ›absoluten Grundsubstanz‹, auf deren ›endgültige‹ Eigenschaften und Erscheinungen sich alles Existierende zurückführen lasse. In der Natur gibt es nichts Unveränderliches und keine absolute Grundsubstanz.«53

Sosehr diese dialektische Fassung des Materiebegriffs beweist, daß Engels und die sich an ihn anschließende heutige Philosophie in Rußland der Gefahr einer Ontologie sich bewußt sind und ihr entgehen möchten, sowenig kann das gelingen, wenn sie mit dem Begriff Materie die Entstehung des Universums überhaupt verständlich machen wollen. Wo immer Materie zur umfassend-metaphysischen Welterklärung herangezogen wird, geht man von ihr, ob man will oder nicht, als von einem allgemeinen Prinzip aus, nicht aber von einer ihrer konkreten Daseinsweisen. Auch darauf weist Engels in einem Fragment seiner »Dialektik der Natur« hin: »Causa finalis – die Materie und ihre inhärente Bewegung. Diese Materie keine Abstraktion. Schon in der Sonne die einzelnen Stoffe dissoziiert und in ihrer Wirkung unterschiedslos. Aber im Gasball des Nebelflecks alle Stoffe, obwohl separat vorhanden, in reine Materie als solche verschwimmend, nur als Materie, nicht mit ihren spezifischen Eigenschaften wirkend.«54

Nur, wo mit Marx die materielle Realität als je schon gesellschaftlich vermittelt anerkannt wird, läßt sich Ontologie vermeiden und kommt die Engelssche Formulierung wirklich zu ihrem Recht, daß Materie als solche eine Abstraktion ist, daß nur bestimmte Daseinsweisen der Materie existieren.

Sehr wesentlich für das Verständnis des Zusammenhangs des Marx­schen mit dem philosophischen Materialismus überhaupt ist auch die traditionelle Frage nach dem Sinn von Geschichte und Welt. Die materialistische Dialektik ist nicht-teleologisch, so merkwürdig das zunächst klingen mag. Weder ist ihr die Geschichte eine chaotische Faktensammlung wie für Schopenhauer noch ein einheitlich-geistiger Sinnzusammenhang wie für Hegel. Marx verselbständigt die Geschichte nicht pantheistisch. Am ehesten noch nimmt sein Denken eine rechtfertigend-idealistische Färbung an, wo er mit Hegel auf die unumgängliche Notwendigkeit von Herrschaft und Grauen in der »Vorgeschichte« verweist. Zwar kommt durch die einander gesetzmäßig ablösenden Gesellschaftsformationen so etwas wie eine übergreifende Struktur in die menschliche Geschichte, keineswegs aber im Sinne einer durchgehenden »Teleologie«. Die Welt als Ganzes sieht Marx keiner einheitlichen sinnverleihenden Idee unterworfen. Es gibt bei ihm einzig, was Hegel den »endlich-teleologischen Standpunkt«55 nennt: endliche Ziele endlicher, raumzeitlich bedingter Menschen gegenüber begrenzten Bereichen der natürlichen und gesellschaftlichen Welt. Der Tod als das antiutopische Faktum par excellence »erweist ... die Ohnmacht aller sinngebenden Metaphysik und jeder Theodizee«56. Alle in der Wirklichkeit auftretenden Ziele und Zwecke gehen zurück auf Menschen, die ihren sich wandelnden Situationen gemäß handeln. Abgelöst von ihnen gibt es keinen Sinn. Nur wo das Subjekt wie Hegels Geist welthaft zu einem unendlichen ausgeweitet wird, können seine Zwecke zugleich die der Welt selber sein. Hegel gilt der »endlich­teleologische Standpunkt« als etwas Beschränktes, in die Theorie des absoluten Geistes Aufzuhebendes. Marx dagegen weiß von keinen anderen Zwecken in der Welt als denen, die von Menschen gesetzt sind. Sie kann daher nie mehr Sinn enthalten, als es den Menschen gelungen ist, durch die Einrichtung ihrer Lebensverhältnisse zu realisieren. Auch wenn eine bessere Gesellschaft herbeigeführt wird, wird damit der leiderfüllte Weg der Menschheit zu ihr hin nicht gerechtfertigt: »Daß die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirklicht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann, ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt. Zwischen diesen beiden Tatsachen gibt es eine Reihe von erklärenden Zusammenhängen, aber keinen rechtfertigenden Sinn.«57

 

Dadurch, daß Marx nicht von der Vorstellung eines den Menschen vorgegebenen Gesamtsinnes ausgeht, wird Geschichte zu einer Abfolge immer wieder neu einsetzender Einzelprozesse, begreifbar nur von einer Philosophie der Weltbrüche, die bewußt auf den Anspruch lückenloser Deduktion aus einem Prinzip verzichtet. Wer die seitherige menschliche Geschichte begreift, hat damit keineswegs einen Sinn der Welt überhaupt begriffen. Eine Formulierung wie die folgende aus Hegels »Vernunft in der Geschichte« wäre für Marx völlig undenkbar: »Wir müssen in der Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den Endzweck der Welt, nicht einen besonderen des subjektiven Geistes oder des Gemüts, ihn müssen wir durch die Vernunft erfassen, die keinen besonderen endlichen Zweck zu ihrem Interesse machen kann, sondern nur den absoluten.«58

Das in mancher Hinsicht allzu metaphysische Marxverständnis Ernst Blochs ist unter anderem gekennzeichnet durch die in seinen Schriften immer wieder auftretende These, auch in der Marxschen Philosophie gebe es so etwas wie einen Endzweck der Welt. Er spricht in einer seiner ­Arbeiten59, ganz wie Hegel, von dem »wohlfundierten Realproblem eines ›Sinns‹ der Geschichte, in Verbindung mit einem ›Sinn‹ der Welt«, das dem dialektischen Materialismus aufgegeben sei. Es wird bei der Darstellung der Marx­schen Utopie des Verhältnisses von Mensch und Natur zu erörtern sein, welche Konsequenzen aus Blochs Annahme eines Weltsinnes bei Marx sich für seinen Utopiebegriff ergeben. Hier ist im Zusammenhang mit dem Problem des Weltsinnes noch auf einen anderen Gesichtspunkt aufmerksam zu machen. Marx verteidigt seinen unerbittlichen Atheismus nicht nur unter Hinweis auf die Resultate der modernen Naturwissenschaften60 oder ideologiekritisch. Ähnlich wie für Sartre ist für Marx die Möglichkeit der Freiheit des Menschen nur durch die Nichtexistenz eines »sinnstiftenden« Gottes verbürgt. Der Mensch ist essentiell nicht festgelegt. Noch ist sein Wesen nicht total erschienen. Konträr, in der seitherigen Geschichte, die sich ja als »Vorgeschichte« dadurch auszeichnet, daß die Menschen ihrer eigenen Kräfte gegenüber der Natur nicht mächtig sind, wurde das menschliche Wesen brutal unter die materiellen Bedingungen der Erhaltung ihrer Existenz subsumiert. Zu einer realen Versöhnung von Wesen und Existenz gelangt die menschliche Gattung nur, sofern sie sich zunächst theoretisch als die Ursache ihrer selbst begreift. Hierauf gehen besonders die Pariser Manuskripte ein: »Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines andern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat, wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine Schöpfung ist.«61

Marx weist die ontologisch gestellte Frage nach dem Schöpfer des ersten Menschen und der Natur als ein »Produkt der Abstraktion«62 zurück: »Frage dich, wie du auf jene Frage kömmst; frage dich, ob deine Frage nicht von einem Gesichtspunkt aus geschieht, den ich nicht beantworten kann, weil er ein verkehrter ist? ... Wenn du nach der Schöpfung der Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du also vom Menschen und der Natur. Du setzest sie als nichtseiend, und willst doch, daß ich sie als seiend dir beweise. Ich sage dir nun: gib deine Abstraktion auf, so gibst du auch deine Frage auf, oder willst du an deiner Abstraktion festhalten, so sei konsequent, und wenn du den Menschen und die Natur als nichtseiend denkend, denkst, so denke dich selbst als nichtseiend, der du doch auch Natur und Mensch bist. Denke nicht, frage mich nicht, denn sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der Natur und des Menschen keinen Sinn.«63

Diese merkwürdig emphatische und für das Marxsche Verhältnis zu aller prima philosophia typische Stelle macht noch einmal deutlich, worum es bei Marx geht. Die auf das vormenschliche und vorgesellschaftliche Sein, der Natur gerichteten Fragen lassen sich nicht »abstrakt« stellen; sie setzen jeweils schon eine bestimmte Stufe theoretischer und praktischer Aneignung der Natur voraus. Alle vermeintlich absolut ersten Substrate sind immer schon behaftet mit dem, was aus ihrer Wirksamkeit erst hervorgehen soll, und eben deshalb keine absolut ersten. Die Frage nach dem »Entstehungsakt«64 von Mensch und Natur ist für Marx deshalb auch weniger eine metaphysische als eine historisch-gesellschaftliche: »Indem ... für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß. Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur, und die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und den Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmöglich geworden.«65

Der Marxsche Atheismus – ein im Grunde bereits »postatheistisches« Bewußtsein – wendet sich gegen jede Abwertung von Mensch und Natur66. Für den Idealismus ist Gott, für den mit dem Humanismus identischen Materialismus der Mensch das höchste Wesen. Im Gottesbegriff sieht Marx den abstraktesten Ausdruck von Herrschaft, stets verbunden mit einem dogmatisch vorgegebenen einheitlich-geistigen Gesamtsinn der Welt. Ist Gott, so kommt der revolutionäre Mensch als Hersteller zwar nicht eines Weltsinnes, aber doch eines sinnvollen gesellschaftlichen Ganzen, in dem jeder Einzelne sich aufgehoben und geehrt weiß, nicht mehr in Betracht. Prometheus ist für Marx nicht umsonst der vornehmste Heilige im philosophischen Kalender. Das menschliche Selbstbewußtsein, sagt er in seiner Dissertation, muß als »oberste Gottheit«67 anerkannt werden. Geht die Theorie von vornherein von dem historischen Vermittlungszusammenhang von Mensch und Natur in der gesellschaftlichen Produktion aus, so ist auch der Atheismus nicht länger eine bloß »weltanschauliche« Behauptung: »Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit (von Natur und Mensch, A. S.) hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation Gottes, und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens.«68

Als wie problematisch auch immer der Materialismus in der Geschichte der Philosophie sich erwiesen haben mag, sofern er als umfassende Welterklärung auftrat, sein eigentliches Interesse besteht gerade bei seinen bedeutendsten Vertretern nicht primär in einer dogmatischen Sammlung metaphysischer Thesen. Wo er sich auf solche einläßt, haben sie eine ganz andere Akzentuierung als die ihnen entgegengesetzten idealistischer Herkunft. Aus der Ansicht, daß alles Materielle wirklich und alles Wirkliche materiell sei, gehen für den Materialisten unmittelbar keinerlei ethische Maximen hervor.

Äußerlich zwar an theologisch-metaphysische Fragestellungen, wie sie der Hegelschen Philosophie eigentümlich sind, gebunden, versteht sich auch der Marxsche Materialismus nicht in erster Linie als Antwort auf die bewegenden Fragen, die traditionellerweise der Metaphysik zugeschrieben werden. Darin den großen Enzyklopädisten verwandt, ist er in den letzten Fragen der Metaphysik so großzügig, wie er unerbittlich ist in bezug auf die Nöte, die aus der unmittelbaren Praxis der Menschen hervorgehen. In der »Deutschen Ideologie« gibt es einen Abschnitt von Moses Heß, in dem auf drastisch-aufklärerische Weise die Idealisten gekennzeichnet werden: »Alle Idealisten, die philosophischen wie die religiösen, die alten wie die modernen, glauben an Inspirationen, an Offenbarungen, an Heilande, an Wundermänner, und es hängt nur von der Stufe ihrer Bildung ab, ob dieser Glaube eine rohe, religiöse oder eine gebildete, philosophische Gestalt annimmt ...«69

Befaßte sich der Marxsche Materialismus mit abstrakten weltanschaulichen Bekundungen, wie sie heute vielfach in den östlichen Ländern noch üblich sind, so unterschiede er sich in nichts von jenem oben glossierten schlechten Idealismus. Nicht das Abstraktum der Materie, sondern das Konkretum der gesellschaftlichen Praxis ist der wahre Gegenstand und Ausgangspunkt materialistischer Theorie. Demgemäß erklärt Marx in seiner achten Feuerbachthese: »Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.«70

Statt um die Frage nach der spirituellen oder materiellen Natur der Seele, die selbst in ihrer materialistischen Beantwortung zu Zeiten eine idealistische, nämlich ablenkende Funktion in der Gesellschaft haben kann, kümmert sich der Marxsche Materialismus vorab um die Möglichkeit, Hunger und Elend auf der Welt abzuschaffen. Mit den ethischen Materialisten der Antike, deren Ansichten über die Lust selbst der Idealist Hegel nicht fernsteht, hat Marx ein eudämonistisches Moment gemeinsam. Sosehr zwar der Materialismus zunächst keine sittliche Haltung ist, nicht in der blinden Vergötzung grobsinnlicher Freuden besteht, sowenig reduziert er sich freilich auf der anderen Seite bloß auf eine Theorie oder Methode. »Es geht dem Materialisten nicht um die absolute Vernunft, sondern um das Glück – auch in seiner verpönten Gestalt: der Lust – und nicht so sehr um das sogenannte innere Glück, das sich gar zu oft mit dem äußeren Elend zufriedengibt, sondern um einen objektiven Zustand, in dem auch die verkümmerte Subjektivität zu ihrem Recht kommt.«71 Wenn daher Engels in seiner Feuerbachschrift72 über das angebliche »Philistervorurteil« höhnt, das den Materialismus nicht nur als Theorie versteht, sondern auch mit sinnlichen Genüssen in Verbindung bringt, so fragt es sich, was die ungeheueren und nicht nur theoretischen Anstrengungen der Menschen, über den Kapitalismus hinauszugelangen, für einen Wert haben sollen, wenn es nicht auch um die Lust, um die Herbeiführung sinnlichen Glücks dabei gehen soll. In der Engelsschen Formulierung steckt etwas von jenem asketischen Zug, den Heine schon früh an der sozialistischen Bewegung wahrnahm und der später zu einer der Ursachen menschenfeindlicher Praxis werden sollte. Wer schon nichts Rechtes zu beißen hat, soll wenigstens nicht ohne »wissenschaftliche Weltanschauung« sein.

 

Die theoretische Anstrengung, die darauf abzielt, daß kein Mensch auf der Welt mehr materielle und intellektuelle Not leidet, bedarf keiner metaphysischen »Letztbegründung«. Der kritische Materialismus verschmäht es, darin die Tradition bloßen Philosophierens fortzusetzen, daß er »Welträtseln« nachspürt oder sich im Stil neuerer Ontologie unentwegt radikal in Frage stellt. Seine gedankliche Konstruktion ist die endlicher Menschen und erwächst aus bestimmten geschichtlichen Aufgaben der Gesellschaft. Er will den Menschen aus dem selbstgeschmiedeten Käfig undurchschauter ökonomischer Determination heraushelfen. Wenn die materialistische Theorie die gesellschaftlichen Voraussetzungen noch der zartesten Kulturgebilde herausarbeitet, so ist sie nichts weniger als die positive »Weltanschauung«, die heute im Osten aus ihr gemacht wird. Im Grunde ist sie ein einziges kritisches Urteil über die seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ihrer blind mechanisch ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herabwürdigen lassen. Ernst Bloch sagt daher mit Recht, »daß es bisher noch kein menschliches Leben gegeben hat, sondern immer nur ein wirtschaftliches, das die Menschen umtrieb und falsch machte, zu Sklaven, aber auch zu Ausbeutern«73. Ökonomie wird von der Theorie so scharf pointiert wie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit selber. Sie ist jedoch sowenig wie das Proletariat ein metaphysisches Erklärungsprinzip für Marx. Von ihrer alles beherrschenden soll sie wieder zur dienenden Rolle zurückgebracht werden. Das »Materialistische« der Marxschen Theorie ist gerade kein Bekenntnis zum heillosen Primat der Ökonomie, dieser menschenfeindlichen, von der Wirklichkeit vollzogenen Abstraktion. Jene ist vielmehr der Versuch, endlich das Augenmerk der Menschen auf die gespenstische Eigenlogik ihrer Verhältnisse zu richten, auf diese Pseudophysis, die sie zu Waren macht und zugleich die Ideologie mitliefert, sie seien bereits mündige Subjekte.

Horkheimer kennzeichnet die Anarchie der kapitalistischen Produktion folgendermaßen: »Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allgemeinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen Betriebsamkeit der Individuen, der Industrien und Staaten.«74

Indem die kapitalistische Gesellschaft von ihrem eigenen Lebensprozeß beherrscht wird, nimmt ihre Rationalität einen irrationalen, mythisch-schicksalhaften Charakter an, worauf Thalheimer aufmerksam macht: »So steht die kapitalistische Gesellschaft ihrer eigenen Wirtschaft gegenüber nicht anders, als der australische Wilde dem Blitz, dem Donner, dem Regen gegenübersteht.«75

Die gesellschaftlich nicht richtig organisierte Naturbeherrschung, mag sie auch noch so hoch entwickelt sein, bleibt Naturverfallenheit. Immer wieder wird der Denunziant eines Übels so verstanden, als werde es von ihm glorifiziert oder propagiert. Das Schulbeispiel einer völligen Entstellung und Verzerrung dessen, was bei den Kritikern der politischen Ökonomie Materialismus heißt, ist das Buch von Peter Demetz »Marx, Engels und die Dichter«76. Demetz tut so, als habe Marx alles das erfunden, wogegen seine Lehre steht. Nicht der Marxsche Materialismus hat, wie Demetz meint, »die Gestalt des Dichters des Elements der Freiheit beraubt und damit zum eigentlich unpersönlichen Diener wirtschaftlicher Vorgänge herabgewürdigt«77, sondern die reale Entwicklung der den Menschen entfremdeten, weil unbeherrschten Produktion. Nicht, weil Marx ein primitiver Ökonomist ist, verzichtet er in seinen Schriften, bei Programmentwürfen und dergleichen auf alle moralisierenden und idealischen Redensarten mit geradezu asketischer Wachsamkeit. Bezeichnend für seine Haltung ist ein Brief an F. A. Sorge, in dem er sich über das Aufkommen eines »faulen Geistes« in der Partei beklagt und von einer »ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores« spricht, »die dem Sozialismus eine ›höhere, ideale‹ Wendung geben wollen, das heißt die materialistische Basis (die ernstes objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité«.78 Gerade, indem Marx sich die materiellen Probleme nicht abmarkten läßt, hält er dem hinter idealistischer Phrasenhülle verborgenen humanen Kern eher die Treue als jene, die das geschichtlich noch immer Ausstehende als bereits realisiert ausgeben. Nicht die geistigen Inhalte als solche sind für Marx Ideologie, wohl aber ihr uneingelöster Anspruch, gesellschaftliche Wirklichkeit zu sein.

Die erste Natur als außerhalb der Menschen bestehende Dingwelt beschreibt Hegel als blindes, begriffloses Geschehen. Die Welt des Menschen, soweit sie Gestalt annimmt in Staat, Recht, Gesellschaft und Ökonomie, ist ihm »zweite Natur«79, manifestierte Vernunft, objektiver Geist. Dem hält die Marxsche Analyse entgegen, daß die zweite Natur bei Hegel eher zu beschreiben wäre mit den Begriffen, die er selbst auf die erste anwendet, nämlich als Bereich der Begrifflosigkeit, in dem blinde Notwendigkeit und blinder Zufall koinzidieren. Hegels zweite Natur ist selber noch erste. Noch immer sind die Menschen aus der Naturgeschichte nicht herausgetreten80. Diese Tatsache erklärt die vielen Marx­kritikern als unangemessen erscheinende quasi-naturwissenschaftliche Methode der Marxschen Soziologie, die schon wegen der »naturhaften« Beschaffenheit ihres Gegenstandes keine Geisteswissenschaft sein kann. Wenn Marx die Geschichte der bisherigen Gesellschaft als einen »naturhistorischen Prozeß«81 behandelt, so hat das zunächst den kritischen Sinn, daß »die Gesetze der Ökonomie in aller ... plan- und zusammenhanglosen Produktion den Menschen als objektive Gesetze, über die sie keine Macht haben, entgegentreten, also in Form von Naturgesetzen«82. Marx hat die aus der perennierenden »Vorgeschichte« gewonnene Erfahrung im Sinn, daß trotz aller technischen Triumphe im Grund noch immer die Natur und nicht der Mensch triumphiert. Als gesellschaftlich unbeherrschte ist die »ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt«83.

Uber eine solche kritische Akzentuierung hinaus gebraucht Marx jedoch den Begriff der Naturgeschichte in dem weiteren, sich auf die gesamte Wirklichkeit erstreckenden Sinne der evolutionistischen Theorien des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn er dem »abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus« vorwirft, daß er den »geschichtlichen Prozeß«84 ausschließt, so hat er nicht nur den der Gesellschaft, sondern ebensosehr den der Natur im Auge85.

Wie bei den meisten mechanischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts, so gibt es auch in der Philosophie Hegels, die in der Natur das materielle Auseinander gleichgültiger Existenzen sieht, keine Naturgeschichte im strengen Sinne: »Solcher nebulöser im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Thierorganisationen aus den niedrigeren u.s.w. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen.«86

Für Marx dagegen ist das gesetzmäßige Hervorgehen der Naturformen auseinander eine Selbstverständlichkeit. Sein Entwicklungsbegriff ist nicht nur an Hegel, sondern auch an Darwin geschult. Darauf weist Engels in seiner Rezension des ersten Bandes des »Kapitals« hin, wo er zur Marxschen Methode sagt: »Soweit er sich bemüht, nachzuweisen, daß die jetzige Gesellschaft, ökonomisch betrachtet, mit einer andern, höheren Gesellschaftsform schwanger gehe, insoweit bestrebt er sich, nur denselben allmählichen Umwälzungsprozeß auf dem sozialen Gebiet als Gesetz hinzustellen, den Darwin naturgeschichtlich nachgewiesen hat.«87