Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

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Daß Marx die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß«88 auffaßt, bedeutet, daß er die geschichtlichen Abläufe in ihrer strengen Notwendigkeit betrachtet, ohne sich auf aprioristische Konstruktionen oder psychologische Erklärungsprinzipien einzulassen. Die Verhaltensweisen der Individuen versteht er als Funktionen des objektiven Prozesses. In der seitherigen Geschichte sind sie weniger als freie Subjekte denn als »Personifikation ökonomischer Kategorien«89 aufgetreten.

In seiner für das Verständnis des historischen Materialismus wesentlichen Schrift »Was sind die ›Volksfreunde‹ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?« aus dem Jahre 1894 geht Lenin besonders auf den »naturhistorischen« Charakter der Marxschen Forschungsmethode und ihre Beziehung zum Darwinschen Evolutionismus ein: »Wie Darwin der Vorstellung ein Ende bereitet hat, als seien Tier- und Pflanzenarten durch nichts miteinander verbunden, zufällig entstanden, ›von Gott erschaffen‹, unveränderlich, wie er als erster die Biologie auf eine völlig wissenschaftliche Grundlage gestellt hat, indem er die Veränderlichkeit der Arten und die Kontinuität zwischen ihnen feststellte – so hat Marx seinerseits der Vorstellung ein Ende bereitet, als sei die Gesellschaft ein mechanisches Aggregat von Individuen, an dem gemäß dem Willen der Obrigkeit (oder, was dasselbe ist, der Gesellschaft und der Regierung) beliebige Veränderungen vorgenommen werden können, das zufällig entsteht und sich wandelt, hat er als erster die Soziologie auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt, indem er den Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation als Gesamtheit der jeweiligen Produktionsverhältnisse festlegte und feststellte, daß die Entwicklung solcher Formationen ein naturgeschichtlicher Prozeß ist.«90

An die Stelle aller Räsonnements über die Gesellschaft und den Fortschritt im allgemeinen tritt bei Marx die konkrete Analyse einer Gesellschaft, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen. Der Marxsche Materialismus ist so wenig wie Darwins Theorie eine inhaltliche Totalerklärung, sondern der Versuch, den geschichtlichen Prozeß sachgerecht, ohne metaphysische Dogmen, zu begreifen: »Genau so, wie ... der Transformismus keineswegs den Anspruch erhebt, die ›gesamte‹ Geschichte der Entstehung der Arten zu erklären, sondern nur den, die Methoden dieser Erklärung auf die Höhe der Wissenschaft zu bringen, hat auch der Materialismus in der Geschichte nie den Anspruch erhoben, alles erklären zu wollen, sondern nur den, die nach einem Ausdruck von Marx (›Das Kapital‹) ›einzig wissenschaftliche‹ Methode der Erklärung der Geschichte herauszuarbeiten.«91

Marx selbst ist sich übrigens der Beziehung seiner Theorie zu Darwin, bei aller Anerkennung der Spezifität sozialer Gesetze, bewußt: »Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d.h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben?«92

Ganz ähnlich unterscheidet Engels in der »Dialektik der Natur« die Natur- von der Menschengeschichte: »Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschieden.«93

Natur- und Menschengeschichte bilden für Marx eine Einheit in der Verschiedenheit. Dabei löst er weder die Menschengeschichte in pure Naturgeschichte auf noch die Naturgeschichte in Menschengeschichte.

Auf der einen Seite ist zwar die Geschichte der Gesellschaft ein »wirklicher Teil der Naturgeschichte«94, setzen sich in ihr die für die vormenschliche Geschichte charakteristischen Sachverhalte fort, so daß Marx die Produktionsinstrumente, durch deren Herstellung und Anwendung die Menschen sich wesentlich von den Tieren unterscheiden, als »verlängerte Leibesorgane«95 bezeichnen kann. Wie die Tiere, so müssen auch die Menschen sich ihrer Umgebung anpassen. Dazu bemerkt die »Dialektik der Aufklärung«: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte – und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zweck dienen und nur besser funktionieren – ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpassung.«96

Demgegenüber ist auf der anderen Seite die spezifische Differenz zwischen geschichtlichen Abläufen in der Natur und in der Gesellschaft nicht zu vernachlässigen. Sie läßt es nicht zu, daß, wie bei den verschiedensten Spielarten des Sozialdarwinismus, Naturgesetze einfach auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden. In einem Brief an Kugelmann kritisiert Marx scharf den Versuch F. A. Langes, sich über den Reichtum der menschlichen Geschichte auf abstrakt-naturwissenschaftliche Art hinwegzusetzen: »Herr Lange hat ... eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) ›struggle for life‹, ›Kampf ums Daseins‹, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungsoder rather Übervölkerungsgesetz. Statt also den ›struggle for life‹, wie er sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ›struggle for life‹ und diese Phrase in die Malthussche ›Bevölkerungsphantasie‹ umzusetzen.«97

Von Naturgeschichte läßt sich im Grunde nur reden, wenn man die von bewußten Subjekten gemachte Menschengeschichte voraussetzt. Sie ist deren rückwärtige Verlängerung und wird von den Menschen als nicht mehr zugängliche Natur mit denselben gesellschaftlich geprägten Kategorien erfaßt, die sie auf die noch nicht angeeigneten Naturbereiche anzuwenden genötigt sind.

Gerade am Darwinismus wird deutlich, wie außerordentlich voraussetzungsvoll alle Aussagen über die Natur und ihre Geschichte sind. Wie bewußt sich dessen Marx bei aller »naturgeschichtlichen« Betrachtungsweise der Gesellschaft ist, geht sehr schön hervor aus einem Brief an Engels, in dem es heißt: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt. Es ist Hobbes’ ›bellum omnium contra omnes‹ und es erinnert an Hegel in der Phänomenologie, wo die bürgerliche Gesellschaft als ›geistiges Tierreich‹, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert ...«98

In Übereinstimmung mit Marx zeigt Engels in einem Brief an P. L. Lawrow, daß bestimmte, den bürgerlichen Verhältnissen und ihrer gedanklichen Widerspiegelung entlehnte Lehren, nachdem sie auf die Entwicklung der organischen Natur angewandt worden sind, von den Sozialdarwinisten als angeblich reine Naturgesetze der Gesellschaft aufgenötigt werden: »Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlich-ökonomischen nebst der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht, ... so rücküberträgt man dieselben Theorien aus der organischen Natur wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft nachgewiesen.«99

Innerhalb der Marxschen Schule spielt die sozialdarwinistische Betrachtungsweise der Geschichte eine große Rolle in Karl Kautskys Werk »Die materialistische Geschichtsauffassung«. Die Einheit der menschlichen mit der vormenschlichen Entwicklungsgeschichte verabsolutierend, gelangt Kautsky zu der Ansicht, »daß die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet, mit eigenartigen Gesetzen, die aber in Zusammenhang stehen mit den allgemeinen Gesetzen der belebten Natur«100. Eben diese »eigenartigen Gesetze« der Gesellschaft sind es, die bei Kautsky unter den Tisch fallen. Während für Marx die kosmische und biologische Entwicklungsgeschichte nur die »naturwissenschaftliche Unterlage«101 seiner Geschichtsauffassung bilden, ihr Hauptanwendungsgebiet aber die Geschichte der Gesellschaft ist, stülpt Kautsky dieses Verhältnis um. Die menschliche Geschichte ist ein Anhängsel der Naturgeschichte, ihre Bewegungsgesetze bloße Erscheinungsformen biologischer. Karl Korsch, übrigens einer der wenigen Autoren in der umfangreichen Marxliteratur, bei denen sich ein Verständnis der komplizierten Dialektik von Natur und Geschichte findet, kritisiert nachdrücklich Kautskys Entstellung der Marxschen Geschichtstheorie: »Nicht die Natur oder die organische Natur und ihre Entwicklungsgeschichte im allgemeinen, und auch nicht einmal die menschliche Gesellschaft in ihrer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, sondern die moderne ›bürgerliche Gesellschaft‹ bildet für sie (Marx und Engels, A. S.) die wirkliche Grundlage, aus der alle früheren geschichtlichen Gesellschaftsformen materialistisch zu begreifen sind.«102 Die Frage nach dem Verhältnis von Natur- und Menschengeschichte hat für Marx auch einen ideologiekritischen Aspekt. In der Tat ist es bis heute ein festes Bestandstück der Verteidigung von Herrschaft gewesen, historisch-­gesellschaftlich bedingte Tatbestände wie Kriege, Verfolgungen und Krisen in unabwendbare Naturtatsachen umzufälschen. Marx hat zunächst die Klassenverhältnisse im Auge, wenn er sagt: »Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.«103

 

Marx kennt keine starren Gegebenheiten, weder solche der geistigen noch solche der biologisch-materiellen Natur des Menschen. In seiner Kritik an Max Stirner in der »Deutschen Ideologie« bemerkt er: »Wie Sancho bisher alle Verkrüppelungen der Individuen und damit ihrer Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte, ohne sich um die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärte er diese Verkrüppelung jetzt aus dem bloßen Naturprozeß der Erzeugung. Er denkt nicht im entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppelungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden können. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassenunterschiede etc., von denen Sancho gar nicht spricht, können und müssen historisch beseitigt werden.«104

Die hier behandelte Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte hat schließlich noch eine methodisch-­wissenschaftstheoretische Seite. Seit Dilthey und der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus ist es üblich geworden, historischen und Naturwissenschaften prinzipiell verschiedene Forschungsweisen zuzuordnen. Unterscheidet Dilthey zwischen kausal »erklärender«, den Naturwissenschaften eigentümlicher und intuitiv »verstehender« Methode der historischen Geisteswissenschaften, so zerschneiden Windelband und Rickert die Wirklichkeit noch radikaler in zwei schlechthin getrennte Bereiche. Natur wird kantianisch als das Dasein der Dinge unter Gesetzen gefaßt. Dem entspricht der »nomothetische« Charakter der Naturwissenschaften. Die Geschichte besteht aus einer Fülle wertbezogener, im Grunde unverbundener »individueller« Befunde, die nur einer beschreibenden, »idiographischen« Methode zugänglich sind, wodurch sie zu etwas jenseits aller rationalen Analyse wird105.

Für Marx gibt es keine Trennung schlechthin von Natur und Gesellschaft, damit auch keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft. So schreibt er in der »Deutschen Ideologie«: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschheit abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.«106

Ein »Gegensatz von Natur und Geschichte«107 wird von den Ideologen dadurch erzeugt, daß sie das produktive Verhältnis der Menschen zur Natur aus der Geschichte ausschließen. Natur und Geschichte, sagt Marx gegenüber Bruno Bauer, sind »nicht zwei voneinander getrennte ›­Dinge‹«108. Die Menschen haben immer eine »geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte«109 vor sich.

Der Vorwurf, daß Marx allzu »naturalistisch« verfahre, wenn er im »Kapital« vom geschichtlichen Prozeß der ökonomischen Gesellschaftsformation als von einem naturgeschichtlichen spricht, kann ihn eben deshalb nicht treffen, weil in ihm dogmatisch die hier gerade kritisierte These vom prinzipiellen methodischen Unterschied zwischen dem Verhalten des Natur- und des Geschichtsforschers vorausgesetzt wird. Wissenschaftliches Denken kann keinen Bereich sui generis anerkennen, der gesetzmäßiger Erklärung absolut unzugänglich wäre.

Der Methodendualismus bei Dilthey und Windelband-Rickert beruht bei allen Bemühungen dieser Autoren um die Geschichte auf geschichtsfremden Abstraktionen, die freilich zunächst auch den kritischen Sinn haben, daß der Geschichtsdeutung nicht dadurch Tür und Tor geöffnet werden sollte, daß beliebige Sinnschemata an sinnindifferente Befunde herangetragen werden. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet, und es sieht so aus, als sei der Geschichtsverlauf völlig strukturlos und bloß noch der Einfühlung und idiographischen Deskription zugänglich.

Marx wendet sich in der Rezension »Die moralisierende Kritik und die kritische Moral« auf eine für das Verständnis seiner Methode höchst instruktive Weise gegen die undialektischen Alternativen, die, wie wir im erörterten Fall gesehen haben, entweder Natur und Geschichte ineinander aufgehen lassen oder aber ihre Differenz verabsolutieren: »Es bezeichnet den ganzen Grobianismus des ›gesunden Menschenverstandes‹, der aus dem ›vollen Leben‹ schöpft und durch keine philosophischen und sonstigen Studien sich seine Naturanlagen verkrüppelt, daß er da, wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und daß er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht. Stellt er unterschiedene Bestimmungen auf, so versteinern sie sich ihm sofort unter der Hand, und er erblickt die verwerflichste Sophistik darin, diese Begriffsklötze so zusammenzuschlagen, daß sie ins Brennen geraten.«110

Wie es für Marx keine reine Immanenz in der Abfolge der Ideen gibt, die »geistesgeschichtlich« zu erforschen wäre, so gibt es auch keine reine, geschichtlich unmodifizierte Natur als Erkenntnisgegenstand der Naturwissenschaften. Natur, die Sphäre des Gesetzmäßigen und Allgemeinen, ist ihrem Umfang und ihrer Beschaffenheit nach jeweils bezogen auf die Zwecke gesellschaftlich organisierter Menschen, die von einer bestimmten historischen Struktur ausgehen. Die historische Praxis der Menschen, ihr körperliches Tun, ist das immer wirksamer werdende Bindeglied zwischen den getrennt erscheinenden Bereichen. Der Marx der Pariser Manuskripte verspricht sich von der Natur und Geschichte versöhnenden Rolle der Praxis im Kommunismus sogar ein Zusammenfallen von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft, die er hier als Wissenschaft vom Menschen bezeichnet: »Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.«111

Eine Wissenschaft deshalb, weil innerhalb ihrer Verschiedenheit vermittels der Industrie die »gesellschaftliche Wirklichkeit der Natur«112 und die mit ihr sich entwickelnde natürliche Wirklichkeit des Menschen einander immer angemessener werden, so daß die »natürliche Wissenschaft vom Menschen mit der menschlichen Naturwissenschaft«113 identisch wird.

B) Zur Kritik der Engelsschen Form der Naturdialektik

Ein Versuch, den Begriff der Natur bei Marx darzustellen, kommt um eine Erörterung der Engelsschen Ansätze zu einer dialektisch-materialistischen Theorie der Natur nicht herum. Soweit Engels als strenger Anhänger des historischen Materialismus auftritt, ist ihm bewußt, daß die erscheinende Natur wie alles naturwissenschaftliche und philosophische Wissen von ihr stets schon bezogen sind auf die wechselnden Formen gesellschaftlicher Praxis. Ähnlich wie Marx, versucht er daher auch immer wieder nachzuweisen, daß die Naturwissenschaft ihrem jeweiligen Arbeitsmaterial, wie ihrer Methode und Problemstellung nach Ausdruck und Hebel der fortschreitenden Produktivkräfte in einem ist114.

Im folgenden ist zu zeigen, daß Engels da, wo er über die Marxsche Fassung des Verhältnisses von Natur und Sozialgeschichte hinausgeht, in eine dogmatische Metaphysik zurückfällt. Um eine solche handelt es sich bei ihm, so sehr er es verschmäht, für seine Dialektisierung der Naturwissenschaften noch den Begriff einer Naturphilosophie in Anspruch zu nehmen. – Anstatt die Engelssche Ansicht a limine als baren Unsinn abzutun, wie dies bei einigen Kritikern der Fall ist, kommt es freilich zunächst darauf an, sich über die problemgeschichtliche Situation zu verständigen, aus der heraus Engels zu ihr gelangt ist. Keineswegs aber genügt dazu der Hinweis auf irgendwelche parteitaktischen oder politischen Weltanschauungsbedürfnisse der Arbeiterschaft, wie Fetscher115 meint, bei dem das Spezifische der philosophischen Entwicklung von Engels zu kurz kommt.

Mit dem Zusammenbruch der Systeme der klassischen Philosophie geht auf der einen Seite jedes Verständnis der idealistischen Problematik und mit ihr die Dialektik verloren, auf der anderen Seite wird der flachmechanische »Reisepredigermaterialismus«, Ausdruck der endgültigen Trennung von Naturwissenschaft und Philosophie, in den fünfziger Jahren immer einflußreicher. Engels geht es um eine Naturkonzeption, die zwar materialistisch ist, aber zugleich nicht einfach hinter die Resultate der Dialektik zurückfällt. Im »Anti-Dühring« schreibt er: »Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinüber gerettet hatten.«116

Dieses »Hinüberretten« bezieht sich nicht nur auf die erste Auseinandersetzung mit Hegel, die mit der »Deutschen Ideologie« und den Feuerbachthesen, diesem eigentlichen Geburtsdokument des dialektischen Materialismus, abschließt, sondern mehr noch auf die zweite Hegelaneignung117, deren Beginn für Engels wie für Marx in das Jahr 1858 fällt118.

Bis zu den Feuerbachthesen läßt sich von einer Differenz in den theoretischen Ansichten von Marx und Engels kaum sprechen. Gegen Ende der fünfziger Jahre trennen sich jedoch teilweise die Wege der Autoren. Beide wenden sich, wenngleich auf sehr verschiedene Art, positiver Wissenschaft zu.

Marx konkretisiert in der großen historisch-ökonomischen Analyse des »Kapitals« das gemeinsam erarbeitete Programm der Thesen, damit auch die für die »Deutsche Ideologie« so wesentliche Frage nach dem Verhältnis von Natur und gesellschaftlicher Praxis, indem er versucht, »durch Kritik eine Wissenschaft«, nämlich die politische Ökonomie, »erst auf den Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu können«119.

Engels dagegen interpretiert mit Hilfe dialektischer Kategorien fertig vorliegende Resultate der modernen Naturwissenschaft. Während Marx, darin sehr hegelianisch, die dialektisch darzustellende Wissenschaft erst aus der Kritik ihres seitherigen Standes hervorgehen läßt, die materialistische Dialektik daher von den Inhalten der politischen Ökonomie an keiner Stelle ablöst, bleibt die Engelssche Naturdialektik notwendig eine der Sache äußerliche Betrachtungsweise. Das wird besonders deutlich, wenn er etwa, völlig unbekümmert um ihre idealistisch-spekulativen Voraussetzungen, Hegelsche Kategorien auf den biologischen Begriff der Zelle »anwendet«: »Die Zelle ist das Hegelsche Ansichsein und geht in ihrer Entwicklung genau den Hegelschen Prozeß durch, bis sich schließlich die ›Idee‹, der jedesmalige vollendete Organismus daraus entwikkelt.«120

 

Da es uns hier wesentlich um die Differenz des Engelsschen und des Marxschen Naturbegriffs121 zu tun ist, beschränken wir uns darauf, die metaphysischen Grundthesen des späten Engels122 anzuführen, um aus ihnen die Motive einer Kritik zu gewinnen. – Es sei vorausgeschickt, daß Engels’ Naturlehre nicht so sehr eine »Subtilisierung der damals allgemein herrschenden vulgär-materialistisch-monistischen Konzeptionen« ist, wie es sich Fetscher123 darstellt, als vielmehr der Versuch einer dialektischen Fortbildung der systematischen Gestalt des französischen Aufklärungsmaterialismus. Mit deutlicher Anspielung auf Holbach spricht Engels in der Feuerbachschrift von seinem Unternehmen als von »einem für unsere Zeit genügenden ›System der Natur‹«124. Daneben spielt die romantische Naturphilosophie mit ihrem qualitativ-dynamischen ­Charakter für Engels eine nicht unerhebliche Rolle125.

Die bis in die unmittelbare Gegenwart für den sowjetischen Materialismus verbindliche Metaphysik besteht in folgenden, im »Anti-­Dühring« entwickelten Thesen: 1. »Die ... Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität.«126 2. »Die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und ein Sein außer der Zeit ist ebenso großer Unsinn wie ein Sein außerhalb des Raums.«127 3. »Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben, oder kann es sie geben ... Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in Beziehung auf diese oder jene bestimmte Bewegungsform.«128

Was diesen Materialismus von allen mechanischen Materialismen von Demokrit bis Holbach unterscheidet, ist sein nicht-reduktiver Charakter. Innerhalb der materiellen Einheit der Welt erkennt Engels Formunterschiede an. Die höheren Daseins- und Bewegungsformen der Materie gehen nach seiner Ansicht zwar aus den niederen hervor, ohne sich jedoch auf diese bruchlos reduzieren zu lassen. Es gibt keine letzte Grundform materieller Bewegung. Mechanische, chemische, biologische und psychische Bewegungsform sind qualitativ voneinander verschieden und doch Erscheinungsweisen des einen materiellen Wesens der Welt. Das Fortschreiten vom Niederen zum Höheren versucht Engels mit Hilfe der Dialektik einsichtig zu machen, die er folgendermaßen definiert: »Die Dialektik ist ... die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs­ und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.«129

Aus den drei genannten Bereichen glaubt die »Dialektik der Natur«, übrigens Engels’ reifstes philosophisches Werk der Spätzeit, drei dialektische Grundgesetze abstrahieren zu können, die ebenfalls in die sowjetmarx­istische Theorie eingegangen sind: 1. »Das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt: 2. das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; 3. das Gesetz von der Negation der Negation.«130

Der Gerechtigkeit halber sei vermerkt, daß Engels im Unterschied zu seinen gegenwärtigen östlichen Anhängern gar nicht in erster Linie darauf bedacht ist, die Dialektik den Naturwissenschaftlern als unmittelbare Forschungsmethode zu empfehlen. Was ihm im Grunde vorschwebt, ist eine enzyklopädische Verarbeitung des modernen naturwissenschaftlichen Materials: »Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit, ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach seinem inneren Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbar geworden ist.«131

Mit dieser Idee, Geschichte und System der Natur wie der Naturwissenschaft zu einer Einheit zu verschmelzen, nimmt Engels Erwägungen seiner Frühzeit wieder auf. Das erste Modell einer solchen Einheit sieht er 1844 in einem Artikel über das achtzehnte Jahrhundert im Werk der französischen Enzyklopädisten: »Der Gedanke der Enzyklopädie war für das 18. Jahrhundert charakteristisch; er beruhte auf dem Bewußtsein, daß alle diese Wissenschaften unter sich Zusammenhängen, war aber noch nicht imstande, die Übergänge zu machen, und konnte sie daher nur einfach nebeneinander stellen.«132

Hatten die Diderot und D’Alembert noch in Anlehnung an Francis Bacon die Wissenschaften nach Erkenntnisvermögen eingeteilt, so setzt sich im neunzehnten Jahrhundert die Tendenz durch, sie nach Sachzusammenhängen zu ordnen. So in den Wissenschaftshierarchien St. Simons und Comtes, von denen Engels sicherlich nicht unbeeinflußt geblieben ist. Besonders aber schließt er sich Hegel an, »dessen ... Zusammenfassung und rationelle Gruppierung der Naturwissenschaften eine größere Tat ist als all der materialistische Blödsinn (solcher Autoren wie Büchner, Vogt etc., A. S.) zusammen«133, wenn er eine Klassifikation der Naturwissen schaften von der Mathematik über Mechanik, Physik, Chemie bis zur Biologie auf der Grundlage der verschiedenen Bewegungsformen der Materie zu geben versucht: »Wie eine Bewegungsform sich aus der andern entwickelt, so müssen auch ihre Spiegelbilder, die verschiednen Wissenschaften, eine aus der andern mit Notwendigkeit hervorgehen.«134

Um auf die angeführten abstrakt-metaphysischen Thesen und dialektischen Gesetze zurückzukommen, so sind sie, wie oben gesagt, bestenfalls eine Interpretations- und Darstellungsmöglichkeit naturwissenschaftlicher Forschungsresultate. Keineswegs aber haben sie etwas mit der naturwissenschaftlichen Methode selber zu tun, die ja formallogisch orientiert und undialektisch in dem Sinne ist, daß sie auf die historische Vermittlung ihrer Gegenstände nicht reflektiert.

Marx äußert sich im »Kapital« ausdrücklich zur Frage nach dem Verhältnis von Forschungs- und Darstellungsweise einer Wissenschaft: »Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat sich den Stoff im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.«135

Nun sind bei einem Gegenstand wie der von Menschen gemachten Sozialgeschichte Forschungs- und Darstellungsweise bei aller formellen Verschiedenheit doch innerlich aufeinander bezogen, während die Deutung der von aller menschlichen Praxis abgelösten Natur dieser letztlich gleichgültig bleiben muß.

Wenn der frühe Engels in den »Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie« am Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts auszusetzen hat, daß er »nur statt des christlichen Gottes die Natur dem Menschen als Absolutes«136 gegenüberstellt, so verfällt auch seine eigene Altersphilosophie diesem Verdikt. In dem Maße, wie ihre Behauptungen bezüglich der Natur von der lebendigen Praxis der Menschen isoliert sind, fallen sie unter die Kritik der Feuerbachthesen. Natur und Mensch schließen sich bei Engels nicht primär vermittels historischer Praxis zusammen; der Mensch erscheint nur als Evolutionsprodukt und passiver Spiegel des Naturprozesses, nicht aber als Produktivkraft. Wenn die materialistische Naturauffassung, wie er in der Feuerbachschrift sagt, nichts ist »als einfache Auffassung der Natur so wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat«137, so bedeutet das gegenüber der Marxschen Position einen Rückfall in naiven Realismus138. Nicht nur lassen sich für Marx, was die sinnliche Welt im allgemeinen betrifft, ursprünglich Gegebenes und durch Praxis vermittelte »fremde Zutat« nicht trennen, sondern darüber hinaus hat er ein klares Bewußtsein davon, daß von dem »materiellen Substrat« der besonderen Warenkörper, »das ohne Zutun des Menschen von Natur vorhanden ist«139, nur unter Abstraktion von aller vermittelnden nützlichen Arbeit die Rede sein kann.

Daß sich für Engels die äußere Wirklichkeit zum Inbegriff bloßer »Tatsachen« verfestigt, zeigt unter anderem sein Versuch, in einem Brief an C. Schmidt die Differenz zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik anzugeben. Hier heißt es: »Die Verkehrung der Dialektik bei Hegel beruht darauf, daß sie ›Selbstentwicklung des Gedankens‹ sein soll und daher die Dialektik der Tatsachen nur ihr Abglanz, während die Dialektik in unserm Kopf doch nur die Widerspiegelung der sich in der natürlichen und menschengeschichtlichen Welt vollziehenden, dialektischen Formen gehorchenden, tatsächlichen Entwicklung ist.«140

Engels verkennt hier einmal, daß es zu einer »Dialektik der Tatsachen« überhaupt erst kommt, wenn »natürliche und menschengeschichtliche Welt« nicht als zwei getrennte Bereiche betrachtet werden. Zum anderen beschränkt sich bei Marx die Denkbewegung keineswegs auf eine bloße Widerspiegelung des Tatsächlichen. Die unkritische Verdoppelung der bestehenden Verhältnisse im Bewußtsein hat für Marx gerade ideologischen Charakter. Im Abschnitt C des III. Kapitels ist zu zeigen, wie für Marx das widerspiegelnde Bewußtsein zugleich ein Moment der »­praktisch-kritischen«141 Tätigkeit des Menschen ist. Stets geht der Gedanke als wesentlicher Bestandteil in die von ihm widergespiegelte Realität ein. Die objektiv-ökonomische Dialektik, welche Marx zufolge die Kulturgehalte trägt, birgt in sich selbst bereits den Geist tätiger Subjekte.

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