Marx als Philosoph

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Marx als Philosoph
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Alfred Schmidt

Marx als Philosoph

Studien in der Perspektive Kritischer Theorie

Herausgegeben von

Bernard Görlich und Michael Jeske

Mit einem Nachwort von Helmut Reinicke


© 2018 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86674-702-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Alfred Schmidts philosophischer Beitrag zu Marx

Einleitung von Bernard Görlich und Michael Jeske

Die in Naturgeschichte verstrickte Menschheit Überlegungen anlässlich des 100. Todestags von Karl Marx

Thesen zum Begriff der Natur bei Marx

Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie

Der Wissenschaftsbegriff von Marx in der gegenwärtigen Diskussion (1970 / 71)

Herrschaft des Subjekts Über Heideggers Marx-Interpretation

Materialismus und Subjektivität Aspekte ihres Verhältnisses in der gegenwärtigen Diskussion

Alfred Schmidt und Bernard Görlich im Gespräch

Humanismus als Naturbeherrschung

Für einen ökologischen Materialismus

Alfred Schmidts Resurrektion des »westlichen Marxismus«

Nachwort von Helmut Reinicke

Drucknachweise

Über den Autor

Alfred Schmidts philosophischer Beitrag zu Marx

Einleitung

Bernard Görlich und Michael Jeske

Alfred Schmidt ist kein orthodoxer Marx-Interpret. Das große Thema, das er wie kein Zweiter ein Wissenschaftsleben lang erforschte, ist die Geschichte des philosophischen Materialismus. Einsichten, die er durch seine Untersuchungen auf diesem Gebiet gewann, prädestinierten ihn dazu, Marx in den Horizont der »großen Philosophie« (Horkheimer) zu rücken und die in ihr diskutierten Themen mit Marxschem Denken inwendig in Beziehung zu setzen: das Verhältnis von Denken und Sein, von Geist und Materie, von Subjektivität und Objektivität, von Logischem und Historischem, von Praxis und Theorie und – nicht zuletzt, sondern zuallererst – das Verhältnis von Natur und Geschichte.

Prämissen: Marx als Philosoph und Philosophiekritiker

Bei alledem ist eine Prämisse zu beachten, die den in diesem Band entwickelten Themenschwerpunkt »Marx als Philosoph« inwendig betrifft. Denn gewiss ruft bereits diese Kennzeichnung Widerspruch hervor: Haben nicht Marx und Engels nach anfänglichen Verwicklungen ausdrücklich ihren Abschied von der Philosophie erklärt und ihren Willen bekundet, mit ihrem »ehemalige[n] philosophischen Gewissen abzurechnen«?1 Hieß es nicht in der Deutschen Ideologie klar und deutlich: »Man muß die Philosophie beiseite liegenlassen, […] man muß aus ihr herausspringen und sich als gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch literarisch ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt.« Und noch drastischer im selben Kontext: »Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe.«2 Haben wir also nicht allen Grund, Bertolt Brecht zu folgen, der in seinem Aphorismen- und Anekdotenband Me-ti. Buch der Wendungen die Frage stellt – »Soll man Philosophen als Philosoph gegenübertreten?« – um diese mit dem Versuch eines Überblicks über Etappen des Marxschen Erkenntnisprozesses so zu beantworten:

»Me-ti sagte: Meister Ka-meh trat den Philosophen zu verschiedenen Zeiten seines Lebens verschieden gegenüber. Zuerst näherte er sich ihnen als Philosoph und zerpflückte ihre Behauptungen von ihrem eigenen Standpunkt aus. Dann behandelte er sie als Nichtphilosoph und zeigte lediglich an ihrem Beispiel, zu welchen Abgeschmacktheiten es führt, wenn man lebt um zu philosophieren, statt philosophiert um zu leben. Am Ende befaßte er sich nicht mehr mit Philosophen, sondern beschäftigte sich nur mit praktischen Forschungen, ab und zu Philosophen wie lästige Fliegen abwehrend.«3

Bei allem Witz der Brechtschen Aphoristik, der letzten Wendung hätte Schmidt nicht vorbehaltlos zugestimmt, und zwar aus drei Gründen: Zum einen kann er gewichtige Argumente gegen die Auffassung ins Feld führen, Marx habe sich vom philosophischen Denken gänzlich befreit, um zur ökonomischen Forschung übergehen zu können, und damit den Standpunkt der Philosophie verlassen, um den der Wissenschaft einzunehmen; diese These entspreche zwar weitgehend dem von Marx formulierten Selbstverständnis, nicht aber der Art und Weise, wie der Kritiker der politischen Ökonomie in seinen materialen Analysen seinen Erkenntnisgegenstand erfasste und sein Erkenntnisverfahren organisierte. In seinem Nachwort zu Henri Lefèbvres Schrift Probleme des Marxismus, heute erklärt Schmidt hierzu:

»Indem Marx in der Deutschen Ideologie die ›auf rein empirischem Wege konstatierbaren Voraussetzungen‹ der historischen Praxis hervorhebt, verfährt er ›wissenschaftlich‹, indem er jedoch bei der Unmittelbarkeit des Konstatierten nicht verharrt, sondern es als von Menschen gemacht und folglich veränderbar darstellt, verfährt er ›philosophisch‹. Damit verliert zwar die ›selbstständige Philosophie‹ ihr ›Existenzmedium‹, aber es bedarf keiner Frage, daß der Marxsche Vorwurf, bei den ›abstrakten Empirikern‹ werde die Geschichte zu einer ›Sammlung toter Fakta‹, nur von einer Position aus erhoben werden kann, die mit Hegel in begrifflichen Operationen mehr sieht als ein Ordnen sinnlicher Daten. Philosophie und Wissenschaft lassen sich im Marxschen Denken nicht säuberlich voneinander scheiden. Beide gehen als gebrochene und damit in ihrer Qualität veränderte Elemente in einen Begriff von Kritik ein, der die Gegebenheiten ebenso als solche anerkennt wie verwirft und die erscheinende von der wesentlichen Realität zu unterscheiden versteht.«4

Marxens Ausgangsposition betreffend, müsse – mit Herbert Marcuse gesprochen – »gesehen und verstanden werden: daß Ökonomie und Politik auf dem Grunde einer ganz bestimmten philosophischen Interpretation des menschlichen Wesens und seiner geschichtlichen Verwirklichung zur ökonomisch-politischen Basis der Theorie der Revolution geworden sind.«5 Zweitens: Der Materialismus-Forscher Schmidt erteilt dem in der Frage nach dem Verhältnis von Marx zur Philosophie weiterhin Orientierung Suchenden den folgenden Rat:

»Das Wesen des Marxschen Materialismus wird so lange verfehlt, als man ihn bloß als innerphilosophische, gar weltanschauliche Alternative zu einem wie immer gearteten Idealismus interpretiert. Er ist aber ebenso sehr die – freilich selbst noch philosophisch motivierte – Kritik und Aufhebung der Philosophie als Philosophie. Gesamtgesellschaftlich-historisch orientiert, vermag er sich insofern über die Philosophie zu erheben, als er die innerphilosophischen Fragen, ohne deshalb ihren Sachgehalt zu leugnen, als ein Abgeleitetes und Vermitteltes durchschaut. So büßt auch, was Engels in seiner Feuerbachschrift als die ›höchste Frage der gesamten Philosophie‹ bezeichnet, die nämlich ›nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur‹, sehr an Gewicht ein, hat man sich einmal verdeutlicht, daß Begriffe wie Denken und Sein, Geist und Natur ebenso wie die naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen der Praxis entsprungene Produkte sind, mit deren Hilfe die Menschen geschichtlich begrenzte, keine ewigen Probleme zu lösen suchen.«6

Drittens: Es ist Schmidts Anliegen zu zeigen, dass gerade das Studium der Geschichte des Materialismus auch darüber belehrt, dass Brechts Wendung vom Philosophieren »um zu leben« keine Absage an Philosophie bedeutet; mit ihr wohl aber ein anderes Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit zur Debatte gestellt wird. Hier ist die Stelle, an der der Materialismus-Forscher Schmidt die oben angekündigte Prämisse ins Spiel zu bringen weiß, die Brechts Fingerzeig ein relatives Recht belässt: »Der Begriff einer ›materialistischen Philosophie‹ ist in sich paradox«, räumt Schmidt ein; denn er verweist auf »die Schwierigkeit des Materialismus insgesamt: daß er etwas thematisiert, was sich systematischem Zugriff verweigert, ins Philosophische erhebt, was der Philosophie spottet.«7 Gelänge es aber, ein Philosophieren »um zu leben« im Sinne der lebenspraktisch sich zur Geltung bringenden Einspruchshaltung gegen gesellschaftliche Zumutungen und gegen einen bornierten Zeitgeist in Gang zu bringen, dann kann Philosophieren selbst zur praktisch-politischen Wirkung gelangen, ja, von Konflikten der Praxis inwendig bewegt, Praxis mitgestalten. Schmidts hierfür angeführtes Beispiel berührt Fragen einer materialistisch gewendeten, lebenspraktisch bedeutsam werdenden Anthropologie:

 

»Daß der Mensch von den materialistischen Aufklärern als rein physisches Wesen betrachtet wird, daß sie lehren, der moralische Mensch sei der physische, nur unter einem besonderen Aspekt gesehen, hat unmittelbar politische Auswirkungen. Wenn das irdische Dasein, diese endliche Existenz, wirklich ein Letztes ist, dann muß sich für die Menschen die Notwendigkeit ergeben, den herrschenden Zustand zu beseitigen, der sie um ihr Glück betrügt. Glück heißt hier nicht bloße Innerlichkeit, sondern sinnlich-materielles Glück.«8

Alfred Schmidt
und die Authentizität Kritischer Theorie

Die hier von Schmidt zum Ausdruck gebrachte Identifikation mit materialistischer Aufklärung verweist auf das originäre sozialphilosophische Erfahrungsumfeld, in dem er sich bewegte, von dem sein Selbstverständnis inwendig geprägt wurde: Alfred Schmidt ist authentischer Repräsentant jener Kritischen Theorie, die in den frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand und ihre Konturen gewann einerseits als ein Forschungsprojekt zur Aufklärung des faschistischen Traumas und andererseits als das Modell eines interdisziplinären Materialismus, das philosophische Reflexion und einzelwissenschaftliche Sozial- und Kulturforschung in Beziehung zu setzen suchte, um so den Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft auf die Spur zu kommen. In seinem ersten hier abgedruckten Beitrag, den Überlegungen anlässlich des 100. Todestages von Karl Marx, notiert Alfred Schmidt: »Die vom Kreis um Horkheimer während der dreißiger Jahre in der Zeitschrift für Sozialforschung entworfene Kritische Theorie gehört zu den fruchtbarsten Versuchen, Marxsche Kategorien in die Problematik unseres Jahrhunderts einzubringen.«9 Vor allem die Schriften und das Lehrangebot des 1949 an die Universität Frankfurt zurückgekehrten Max Horkheimer zogen den jungen Schmidt in Bann und es dauerte nicht lange, bis aus dem Schüler ein produktiver Mitarbeiter der Repräsentanten der Gründergeneration der Frankfurter Schule wurde. Wie aus einem Ende 1956 verfassten Empfehlungsschreiben Horkheimers an die Studienstiftung des Deutschen Volkes hervorgeht, arbeitete Schmidt bereits Mitte der fünfziger Jahre im Rahmen der von ihm angefertigten »Seminararbeiten […] über Fichtes Wissenschaftslehre, über den Ideologiebegriff des jungen Marx«10 und setzte sich – Horkheimer attestiert seinem Schüler »Leidenschaftlichkeit für Wissen und Wahrheit«11 – mit Grundintentionen materialistischer Philosophie auseinander, hier schon auf das Problem der Konstellationen von Natur und Geschichte stoßend. Schon in den sechziger und frühen siebziger Jahren entstanden aus Schmidts Feder einführende Aufsätze zu den Denkmotiven von Horkheimer und Adorno und profunde Kommentare zum Projekt der Zeitschrift für Sozialforschung 12; Schmidt übersetzte zudem Horkheimers Eclipse of Reason (1947)13, dann auch zentrale Schriften von Herbert Marcuse; mit ihm gemeinsam verfasste er die 1973 erschienene Studie zur Existenzialistischen Marx-Interpretation.14 Und nicht nur in seinen universitären Anfangszeiten erarbeitete Schmidt luzide Darstellungen zu Geschichte und Bedeutung Kritischer Theorie; lebenslang war er daran interessiert, zur Verdeutlichung und Verbreitung der Positionen seiner früheren Lehrer beizutragen. So erschienen etwa im Jahre 2002 – Schmidt war längst Emeritus – sowohl eine wichtige Studie zu Adornos Spätwerk15 als auch ein achtzig Seiten umfassender Aufsatz, in dem er »Herbert Marcuses politische Dechiffrierung der Psychoanalyse« zum Thema machte.16 Kein Zweifel: Willem van Reijen hat recht: »Von den Philosophen der zweiten Generation«, stellt der holländische Sozialphilosoph in seiner Einführung in die Kritische Theorie fest, »hat Alfred Schmidt als Herausgeber und Übersetzer von Aufsatzsammlungen und Büchern sicher am meisten dazu beigetragen, daß die frühe kritische Theorie einen bleibenden Einfluß auf Philosophie, Sozialwissenschaften und insbesondere auf die Weiterentwicklung der kritischen Theorie behalten hat.«17

Tatsächlich war Schmidt, wie er in seinem Anfang der siebziger Jahre verfassten Lebenslauf vermerkte, »bestrebt, den Frankfurter Ansatz einer kritischen Theorie der Gesellschaft angesichts heutiger Probleme sowie des internationalen Standes der Diskussion neu zu durchdenken und weiterzuentwickeln.« Sein besonderes Augenmerk richtete er dabei – so ist im zitierten Kontext zu lesen – auf das ihn »seit seiner Dissertation bewegende Gebiet einer – kritizistisch begründeten, die tragfähigen Resultate von Kant bis Hegel bewahrenden – materialistischen Erkenntnistheorie, die als Konstitutionslehre zugleich ein geschichtsphilosophisches und sittliches Vernunftinteresse verfolgt.«18 Ein ambitioniertes philosophisches Programm, das bereits in der Doktorarbeit Konturen gewann, denn Schmidts Dissertationsschrift Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx ist weit mehr »als ein Stück Marx-Philologie«, wie dies Horkheimer und Adorno in ihrer Vorbemerkung19 nahelegten. Vielmehr avancierte gerade diese Abhandlung, die mittlerweile in 18 Sprachen übersetzt vorliegt und jüngst in der fünften Auflage erschien, zu einem der wichtigsten Beiträge des sogenannten »westlichen Marxismus«, zum Modell einer unorthodoxen, philosophisch ambitionierten Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk.

Die erkenntnisleitende Studie:
»Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx«

Es ist aufschlussreich, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Situation sich Schmidt befand, als er sich seinem Thema zuwandte. In den späten 1950er Jahren galt Marx – zumal in Westdeutschland – als weitgehend tabuisiert. Die politische Brisanz, die die öffentliche Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus in jenen Jahren der Ost-West-Spannung und des Kalten Krieges dennoch hatte, kennzeichnet Schmidt nicht ohne Ironie wie folgt:

»Ich erinnere mich, daß während der 1950er Jahre noch, als ich in Frankfurt am Main studierte, Marx nur selten und hinter vorgehaltener Hand genannt wurde. Das war ein merkwürdiges Klima, das führte so weit, daß Plessner an Adorno eine witzige Karte von Trier schickte: ›Beste Grüße aus der Geburtsstadt Hegels‹. Das heißt, man hat sich hinter einem gewissen Hegelianismus verschanzt, meinte aber in Wahrheit etwas anderes, die Zeitläufe waren dem aber derart ungünstig, daß sich diese äsopische Sprache eben empfahl. Das geistige Klima jener Zeit angesichts des massiven Drucks von außen derart vergiftet, daß jeder, der Marx auch nur positiv erwähnte, riskieren mußte, als Stalinist abgetan zu werden. Daher wohl auch die äußerste Zurückhaltung, die sich die Vertreter der Kritischen Theorie in dieser Frage auferlegten.«20

Offenbar war Schmidt selbst in der Lage, diese Zurückhaltung aufzugeben. Sein erhellender Blick zurück weiß noch andere Hindernisse zu markieren, die Schmidt nun aber als intellektuelle Herausforderungen selbstbewusst annahm: »Will man verstehen, welche gedanklichen Motive hinter der Marx-Dissertation stehen«, gibt er in einem Gespräch mit Matthias Jung und Norbert Seitz den heutigen Lesern zu bedenken, müsse man sich an die Ausgangslage der Diskussion erinnern, an die »Zeit, in der akademisch der Marx der Pariser Manuskripte von 1844 als der eigentliche Marx galt, als nicht zuletzt theologisch gerichtete anthropologische und existentialistische Marx-Interpretationen das Feld beherrschten.«21 Schmidt plädiert für einen anderen Weg der Marx-Aneignung. Er argumentiert gegen die damals und auch in heutigem Schrifttum immer wieder anzutreffende Trennung zwischen frühem und spätem Marx und stellt klar: »Von der Position des reifen Marx lässt sich erst ganz die Philosophie der Pariser Manuskripte beurteilen.«22 Der Clou seines Zugangs war es, »das Philosophische in Marx nicht nur dort zu suchen, wo er sich der traditionellen Sprache der Philosophie bedient. Es bot sich an, die ökonomischen Schriften auf philosophische Gehalte hin zu untersuchen.«23 Das so konzipierte Buch sei deshalb, so Schmidt im Manuskript des Vorwortes zur englischen Ausgabe, »seinerzeit eines der ersten, worin versucht wurde, die politisch-ökonomischen Schriften des mittleren und reifen Marx, insbesondere Das Kapital und den sogenannten Rohentwurf aus den Jahren 1857–1859 (erschienen unter dem Titel Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie) für eine ›philosophische‹ Interpretation des Marxschen Lebenswerks heranzuziehen.«24

Gerade die Arbeit am bis dahin kaum ausgewerteten Rohentwurf trug für das Schmidtsche Vorhaben besondere Früchte, war mit ihm doch das missing link gefunden zwischen den Positionen der Marxschen Frühschriften und den Gehalten der entwickelten Kritik der politischen Ökonomie und damit der Nachweis erbracht, dass Philosophie und Ökonomiekritik sich nicht ausschließen, sondern im Marxschen Gesamtwerk selbst eine dialektische Einheit bilden. Helmut Reinicke kommt in seinem hier abgedruckten Nachwort zum selben Ergebnis. Er kennzeichnet zudem die beschriebene Schmidtsche Ausrichtung als »Hebammenarbeit«, und zwar in folgendem Sinn: Sie »verbindet die Kritische Theorie mit den Frühschriften und geht dabei verbindlich über jene hinaus. Von der angestammten Frankfurterei her kann man sagen, dass er ihr allererst ein marxistisches Legitimationspathos schuf.«25

Wie dem auch sei, es war wohl die hierbei intensiv vorangetriebene Arbeit an den Quellen, die Schmidt dazu befähigte, im Anschluss an seine Dissertation und noch im Verlauf der sechziger Jahre weitere instruktive Beiträge zur Marx-Diskussion vorzulegen. So gelang es ihm, einer breiteren Leserschaft das Marxsche Ideologieverständnis darzulegen,26 die Arbeit an der Rekonstruktion des Marxschen Begriffs der Geschichte zu vertiefen,27 um sich gleichzeitig der Weiterentwicklung der Erkenntnisfrage zu widmen, wie sie mit dem zentralen Gegenstand Marxscher Forschung, der Kritik der politischen Ökonomie, gestellt ist. Zudem war Schmidt stets darum bemüht, die eigene Position mit andernorts entwickelten Ansätzen – etwa der französischen Marx-Auseinandersetzung (Henri Lefèbvre, Maurice Merleau-Ponty) – durch eigene Übersetzungen und Kommentierungen zu vermitteln, sodass sein Anteil an der Entwicklung jenes spezifisch »westlichen Marxismus« nicht gering zu veranschlagen ist.28

 

Bei aller Perspektivenvielfalt, die Schmidts Untersuchungen über den Begriff der Natur bei Marx auszeichnet, lässt sich der Kern seines Anliegens so erfassen: Seine Interpretation legt die humanistischen Gehalte des genuin Marxschen Materialismus frei, der die gesamte Realität relativ auf die Menschen – in der Spannung von innerer und äußerer Natur – und ihre Geschichte begreift. Insoweit arbeitet Schmidt an nichts weniger als an Lösungen für das Problem, wie das Verhältnis des Idealen zum Realen geschichtsmaterialistisch – »im Element der Praxis« – dialektisch zu begreifen ist. In diesem Sinn kennzeichnet er in seiner Einleitung die Intention seiner Schrift denn auch als »den Versuch, die wechselseitige Durchdringung von Natur und Gesellschaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassende Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen.«29 Die Kategorie der Arbeit als Stoffwechsel von Mensch und Natur sowie die auf sie bezogene dialektische Darstellung des Begriffs der Praxis gehören zu diesen Hauptaspekten und stecken den Rahmen der Schmidtschen Untersuchung ab. Wer sich einen Überblick über die Resultate der so angelegten Marx-Auseinandersetzung verschaffen will, sei auf Schmidts kleine Skizze verwiesen, die sich in der Textsammlung dieses Bandes unter der Überschrift Thesen zum Begriff der Natur bei Marx findet.

Es ist Schmidts Eigenart, nicht davor zurückzuscheuen, auch bereits gefundene eigene Positionen noch einmal ins Säurebad der Kritik zu legen, um sie im Verlauf der Debatten zu präzisieren, hier und da auch begründet zu revidieren. Beispiel dafür ist die im 1971 verfassten Postscriptum der Dissertation vorgenommene Aufwertung der »Rolle Feuerbachs für die Marxsche Entwicklung.«30 Schmidt vermag zu zeigen, »daß gerade der Begriff ›vermittelnder Praxis‹, den Marx und Engels polemisch gegen Feuerbach kehren, diesem selbst außerordentlich viel verdankt.«31 Überhaupt gelte es, so Schmidt im Vorwort zur vierten Auflage, eine besondere »Asymmetrie« der Darstellung des »Marxschen Verständnisses von Wirklichkeit« zu korrigieren, weil »das menschliche Natur- und Weltverhältnis fast durchweg aus der Perspektive des arbeits- und erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schemas« thematisiert, dem »sachlichen Gewicht«32 der zweiten Ebene, die die Eigenbestimmtheit der Natur pointiert, dagegen entschieden zu wenig Beachtung geschenkt worden sei.

Überhaupt müssten alle Kategorien, die hier ins Spiel treten – darauf weist Schmidt an vielen Stellen nachdrücklich hin – in ihrem geschichtlich-veränderbaren und deshalb vergänglichen Charakter begriffen werden; sie beanspruchen Geltung nur so lange, wie die Verhältnisse, die sie bezeichnen, existieren. Eben deshalb schlägt Schmidt vor, den Gehalt des Historischen Materialismus insgesamt diagnostisch als »Theorie unbewußter Strukturen«33 zu begreifen:

»Geschichte erscheint hier als objektiver, ereignishafter und doch gesetzförmiger Prozeß. Indem die Individuen, ausgehend von ihren jeweiligen Bedingungen, bewußte Ziele verfolgen, in gesellschaftlichen Verkehr miteinander treten, materielle Güter produzieren, stellen sie gleichzeitig, aber unbewußt – so Marx im berühmten Vorwort seiner Schrift von 1859 – ein von ihrem Willen und Zutun unabhängiges, sie determinierendes Ganzes von Produktionsverhältnissen her. […] Diese unsichtbare, aber zwanghafte Allgegenwart sachlicher Produktionsverhältnisse im Leben der Menschen macht die eigentliche materialistische Pointe der Marxschen Geschichtslehre aus.«34

In diesem Sinne ist der Marxsche Geschichtsmaterialismus, wie Schmidt in seiner Studie zu den geschichtsphilosophischen Implikationen Kritischer Theorie darlegt, zu verstehen als eine »Theorie auf Widerruf. Er ist kein weltanschauliches Dogma, sondern Diagnose eines falschen, aufzuhebenden Zustands.« Schmidt unterstreicht: »Wenn es ein Spezifikum der von der Frankfurter Schule vertretenen Marx-Interpretation gibt, dann ist es der schwere, auf diesem Gedanken lastende Akzent.« In der noch folgenden Überlegung, die den »Gedanken« zu präzisieren sucht, formuliert Schmidt das eigene Programm, Geschichtsmaterialismus und Ökonomiekritik eng miteinander zu verknüpfen:

»Daß der materialistischen Geschichtsauffassung eine selbst historisch nicht nur wandelbare, vergängliche Rolle zukommt, wird freilich nur dann deutlich, wenn man ihre Generalthese auf die Problematik der politischen Ökonomie und ihrer Kritik zurückbezieht. In der Determination von Bewußtsein durch gesellschaftliches Sein spiegelt sich die Unbeherrschtheit des Wertgesetzes, das die Menschen zu seinen Agenten herabsetzt. Künftig dagegen – das pointiert die Kritische Theorie – soll, wie dies schon in Kants Hoffnung durchklingt, daß dereinst vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plan handeln, Bewußtsein über Sein gebieten. In diesem Sinn hebt der historische Materialismus sich auf.«35

Man sieht: Ein angemessenes Verständnis der Schmidtschen Beiträge zu einer philosophischen Interpretation des Marxschen Gesamtwerks setzt voraus, die jeweiligen Perspektiven als Knotenpunkte eines stets historisch situierten, offenen und letztlich unabgeschlossen bleibenden – praxisvermittelnden – Erkenntnisprozesses zu begreifen.