Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage)

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Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage)
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa


André Kunz, Reto Luder, Cornelia Müller Bösch (Hrsg.)

Inklusive Pädagogik und Didaktik

ISBN Print: 978-3-0355-1706-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-1707-1

Umschlagbild: Paul Klee, Südliche Gärten, 1919, 80.

Aquarell und Feder auf Papier auf Karton.

24,4 × 18,7 / 18,9 cm. The Metropolitan Museum of Art,

New York, The Berggruen Klee Collection.

Dieses Werk erschien von 2014 bis 2018 über die Publikationsstelle der Pädagogischen Hochschule Zürich (Verlag Pestalozzianum).

2., vollständig überarbeitete Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Inhalt

Vorwort

Unterricht und Heterogenität

Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule

Reto Luder, André Kunz und Cornelia Müller Bösch

Das Phänomen «schulische Behinderung»

Kai Felkendorff und Reto Luder

ICF als gemeinsame konzeptuelle Grundlage

Judith Hollenweger

Multiprofessionelle Zusammenarbeit für gemeinsame Förderplanung

André Kunz und Reto Luder

Didaktische Möglichkeiten im Unterricht für alle

Empirische Unterrichtsforschung im Kontext von Heterogenität und Inklusion

Silvia Pool Maag

Inklusiver Unterricht: Lernen in einem universellen Design am gemeinsamen Gegenstand

Cornelia Müller Bösch und Anita Schaffner Menn

Kognitive Beeinträchtigung im inklusiven Unterricht

Cornelia Müller Bösch

Autismussensibler Unterricht

Andreas Eckert

Inklusiver Unterricht unter dem Aspekt der Förderung von hochbegabten Schülerinnen und Schülern

Anita Schaffner Menn und Inge Rychener

Beziehungsgestaltung und Anerkennung im inklusiven Unterricht – eine kommunikative Antwort

Dieter Rüttimann

Im Gespräch mit einer inklusiven Schule: Möglichkeiten in der Gestaltung von Lernen in einem universellen Design

Dieter Rüttimann im Gespräch mit Cornelia Müller Bösch

Situationen im Unterricht und Handlungsmöglichkeiten für die Praxis

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Lernen und Wissensanwendung

Aussichtsreicher inklusiver Schriftsprachunterricht für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf im Lesen- und Schreibenlernen

Erich Hartmann

Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in Mathematik: Was bedeutet dies für die Unterrichtsgestaltung?

Esther Brunner

Handlungsmöglichkeiten in den beiden Bereichen Lernen und Wissensanwendung sowie Aufgaben und Anforderungen

Generalisierte Lernstörung und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Christoph Schmid

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Spracherwerb und Begriffsbildung

Begriffsbildung im Kindergarten und in der Grundschule

Inge Rychener

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Kommunikation

Unterstützte Kommunikation

Karen Ling

Entwicklungsbedingungen und Förderung von Kindern mit einer Hörbeeinträchtigung

Daniela Nussbaumer

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Mobilität

Unterrichtssituationen mit Kindern mit einer Beeinträchtigung der motorischen Kompetenzen

Angela Nacke und Peter Diezi-Duplain

Unterrichtssituationen mit Kindern und Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung des Sehens

Helen Zimmermann

Handlungsmöglichkeiten im Bereich interpersonelle Interaktionen und Beziehungen

Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten

Christoph Michael Müller und Carmen Zurbriggen

Handlungsmöglichkeiten im Bereich Selbstversorgung

«Selbstversorgung – für sein Selbst sorgen»: Ein Lernfeld für eine inklusive Schule

Roman Manser und Ariane Bühler

Anhang

Glossar

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

«Ich kann es aus meiner Sicht sagen, als jemand einer Minderheit, die sonst separiert würde, dass es für mich eine extreme Bereicherung ist, mit dem Rest der Gesellschaft durchmischt zu werden.» Moritz Wyder[1]

Die inklusive Schule – die Schule für alle – nicht nur zu fordern, sondern Realität werden zu lassen und im Alltag zu gestalten, ist eine zentrale aktuelle Herausforderung unserer Gesellschaft: Wie gelingt die Umsetzung im Schulalltag? Wie kann moderner Unterricht für alle praktisch umgesetzt werden, und welches sonderpädagogische Fachwissen wird in einer inklusiven Schule gebraucht? Was müssen Lehrpersonen in Regelklassen über Sonderpädagogik wissen? Welche sonderpädagogischen Aufgaben haben sie, und welche Art der Zusammenarbeit mit schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen und therapeutischen Fachpersonen müssen sie leisten?

Das Studienbuch «Inklusive Pädagogik und Didaktik» gibt Antworten auf diese Fragen und bietet aktuelles, übersichtlich aufbereitetes Handlungswissen.

Das vorliegende Buch in der komplett überarbeiteten Fassung von 2021 besteht aus drei Teilen. Der erste Teil thematisiert das zugrunde liegende Verständnis inklusiver Sonderpädagogik, verweist auf die diesbezüglich wichtigen Definitionen und führt die Begrifflichkeiten und das bio-psycho-soziale Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung auf der Basis der internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO ein. Zudem widmet sich Teil 1 der multiprofessionellen Zusammenarbeit von Regelschullehrpersonen und Fachpersonen aus dem Bereich der Sonderpädagogik. Der zweite Teil fokussiert auf den Unterricht: Was macht guten inklusiven Unterricht in einem universellen Design aus? Wie können der Unterricht und die Lernbegleitung angepasst werden, damit Menschen mit Beeinträchtigungen partizipieren können? Zwei Texte zeigen zuerst grundlegende Begriffe und Herausforderungen von inklusivem Unterricht sowie den empirischen Forschungsstand dazu auf. Die Gestaltung eines universellen Designs im Unterricht wird an konkreten Beispielen dargestellt. Anschließend werden wichtige Aspekte der Kommunikation beschrieben. Anhand von kognitiver Beeinträchtigung in Lernsituationen, von einem autismussensiblen Unterricht und Begabungen im Lernen wird im Weiteren exemplarisch aufgezeigt, wie ein Unterricht angepasst werden kann, damit alle Schüler und Schülerinnen partizipieren können. Der dritte Teil beschreibt sonderpädagogische Handlungsmöglichkeiten zu ausgewählten Lebens- und Erfahrungsbereichen entlang der ICF-Komponente «Aktivität und Partizipation». Der Blick wird dabei auf spezifische differenzielle Maßnahmen und Interventionen gerichtet. Im Zentrum stehen Möglichkeiten und Beeinträchtigungen von Lernenden, und damit verbundene, ausgewählte Handlungsansätze und Konzepte zur Prävention und Intervention, die sich für eine Umsetzung in der Regelklasse eignen.

 

Das Buch enthält folgende Hinweise zur Leserinnen- und Leserführung:

Glossarbegriffe in schwarzer Schrift

— Ein Glossar nimmt einige wichtige Begriffe zur Thematik «Inklusive Schule» auf. Verweise in schwarzer Schrift in der seitlichen Spalte zeigen dies an.

Hinweise in blauer Schrift

Hinweise zu relevanten Begriffen im Text sowie Verweise auf die ICF erscheinen ebenfalls in der seitlichen Spalte, jedoch in blauer Schrift.

Verweise auf andere Beiträge in diesem Buch sind mit einem Pfeil ( →) im Text ersichtlich und machen die Leserin und den Leser auf inhaltliche Verbindungen zwischen den Beiträgen aufmerksam.

Die Idee zum Buch entstand ursprünglich im Fachteam Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Dieses zeigt sich inhaltlich verantwortlich für sonderpädagogische Themen in Ausbildung, Weiterbildung, Beratung und Forschung. Umgesetzt wurde die Idee von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Hochschulen in der Schweiz und Luxemburg mit Expertise in den Themen der jeweiligen Beiträge. Die aktuell vorliegende komplette Überarbeitung entstand in enger Kooperation mit allen Autorinnen und Autoren.

Dieses Buch richtet sich vor allem an angehende und praktizierende Lehrpersonen, schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, therapeutische Fachpersonen sowie Schulleitungen.

Das dargestellte Handlungswissen ist weder vollständig noch abschließend, sondern soll Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem Thema und für die Diskussion darüber sein.

Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die sich als Autorinnen und Autoren der Aufgabe angenommen haben, einen Beitrag für dieses Studienbuch zu leisten. Sie haben die Texte verfasst und sie aufgrund von Rückmeldungen aus dem langjährigen Einsatz des Studienbuchs in der Lehre sowie aus Feedbacks von Kolleginnen und Kollegen im Team der Autorinnen und Autoren überarbeitet, was wir sehr schätzen. In einem Beitrag konnten wir mit Hilfe von Barbara Frey wichtige Fotos zur Illustration realisieren, und im Beitrag «Kognitive Beeinträchtigung im inklusiven Unterricht» hat Lucien Le als Gastautor einen Text zum Thema «Möglichkeiten und Grenzen im gemeinsamen Unterricht» als Erfahrungsbericht in Form eines Exkurses verfasst – vielen Dank an beide!

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern inspirierende Ideen für den Alltag und die tägliche Herausforderung, eine inklusive Schule zu gestalten und damit zu erhalten.

— Zürich, im Sommer 2021

— André Kunz, Reto Luder und Cornelia Müller Bösch

[1] Moritz Wyder ist Gastreferent im Grundmodul «Inklusive Bildung» an der PH Zürich und sehbehindert. Die zitierte Aussage stammt aus der DVD «Integrative und individualisierende Lernförderung». Sie wurde im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich im Jahr 2007 durch die FRAMIX GmbH realisiert.

Unterricht und Heterogenität

Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule
Reto Luder, André Kunz und Cornelia Müller Bösch

Inklusion. Eine Schule für alle. Integration. Umgang mit Vielfalt. Diese Schlagworte prägen aktuell die Bildungslandschaft. Was ist eine inklusive Schule in der Praxis? Was bedeutet Inklusion konkret im Schulalltag für die Schülerinnen und Schüler, für den Unterricht und für die Lehrperson? Diesen Fragen will das vorliegende Buch nachgehen und Antworten dazu liefern – Antworten primär für Lehrerinnen und Lehrer und Studierende, die Lehrerin oder Lehrer werden wollen. Aber auch für pädagogisch-therapeutische Fachpersonen, Eltern und weitere Interessierte. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie inklusive Förderung und Unterstützung oder, mit einem anderen Wort, Inklusion praktisch umgesetzt werden kann. Im ersten Kapitel geht es darum, was eine inklusive Schule ausmacht und ob es in einer inklusiven Schule überhaupt noch Sonderpädagogik braucht – und falls ja, in welcher Form, was deren Aufgabe ist und was das für die Praxis bedeutet. Auf dieser Grundlage folgt eine Übersicht über die Inhalte des Buches und die Struktur, nach der diese Inhalte aufbereitet sind.

Die Entwicklung der Schule in Richtung Inklusion ist in vollem Gang und im deutschsprachigen Raum mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem weniger die grundsätzlichen ethischen Debatten um den Sinn von Inklusion im Allgemeinen im Zentrum stehen, sondern das Interesse vermehrt auf Fragen der konkreten Umsetzung in der Praxis liegt.

Inklusion und inklusive Schule

Inklusion/Integration

Gelungene Inklusion nach UNESCO

In der Fachdiskussion der letzten Jahre wird der Begriff der Inklusion sehr oft und sehr unterschiedlich gebraucht (vgl. Leidner, 2012; Luder, 2016). In der Literatur sind die Begriffe «Integration» und «Inklusion» nicht einheitlich mit Inhalten gefüllt. Uneinigkeit besteht darüber, welche Praxis dem einen oder anderen Begriff zuzuordnen ist. So ist der Sachverhalt, dass als «behindert» diagnostizierte Kinder zum Beispiel in einem Kindergarten geschult werden, in einigen Beschreibungen schon ein Merkmal für Inklusion, in anderen erst der Beginn der Integration. Im internationalen Kontext wird nur der Begriff inclusion beziehungsweise inclusive education verwendet als ein zielgerichtetes, förderorientiertes Miteinander in Situationen im Unterricht ohne Ausschluss. Um eine gelungene Inklusion zu realisieren, genügt es nicht, einen Schüler oder eine Schülerin mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen einfach in die Regelklasse zu schicken. Vier Bedingungen müssen zumindest erfüllt sein, damit von gelungener Inklusion gesprochen werden kann (UNESCO, 2005):

Presence: Alle Kinder sollen die Möglichkeit haben, den Unterricht gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in einer Regelklasse zu besuchen.

Acceptance: Alle Kinder sollen mit ihren unterschiedlichen, jeweils individuellen Eigenschaften in der Gemeinschaft in gleicher Weise akzeptiert und angenommen werden.

Participation: Alle Kinder sollen an gemeinsamen Aktivitäten und am gemeinsamen Unterricht mitmachen und teilhaben können.

Achievement: Alle Kinder sollen im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten anspruchsvolle Lernziele erreichen, Leistungen erbringen und Fortschritte machen können.

Behindertenrechtskonvention

Heterogenität

Mit dem Begriff «Inklusion» verbindet man sehr verschiedene Anliegen an eine inklusive Schule. Die Ansprüche reichen von einem Recht auf gemeinsame Schulung und Betreuung (z. B. Behindertenrechtskonvention, 2008, SR 0.109) bis hin zu allgemeinen Forderungen nach umfassender Dekategorisierung (Behinderung gibt es nicht) und Abschaffung jeglicher Segregation in allen Bereichen der Gesellschaft (z. B. Hinz, 2009). Für die Schule als Praxis ist der Ansatz umfassender Dekategorisierung problematisch, weil er den spezifischen Blick auf das Individuum verhindert. Schule hat einen pädagogischen Auftrag; sie kann sich nicht damit begnügen, alle einfach so zu akzeptieren, wie sie im Moment sind, und sich über diese farbige Vielfalt zu freuen. Vielfalt (in der Literatur meist Heterogenität oder Diversity) muss «mehr sein als affirmative Bestätigung, dass ja ‹alles so schön bunt ist›» (Plösser, 2013, S. 61). Der pädagogische Auftrag in der Schule besteht ja gerade darin, gewisse Formen von Unterschiedlichkeit (genauer: Diversitätsdimensionen) nicht zu akzeptieren, sondern sie anzugleichen. Sie soll zum Beispiel nicht einfach akzeptieren, dass einige lesen können und andere nicht, sondern dafür sorgen, dass alle Schülerinnen und Schüler möglichst gut lesen lernen. Dafür müssen zunächst unterschiedliche Dimensionen der Diversität festgelegt werden. Für die schulische Praxis muss geklärt werden, welche Diversitätsdimensionen in welchen Situationen relevant sind, welche Bedeutung ihnen zukommt (und zukommen soll, was nicht unbedingt dasselbe ist) und wie die Schule auf die Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler in diesen einzelnen Dimensionen reagieren kann. Aus dieser Sicht ist es nicht falsch, beispielsweise ein Kind als hörbehindert zu kategorisieren. Im Gegenteil, es ist notwendig, diese Hörbehinderung und ihre Auswirkungen in der Schule möglichst genau zu bestimmen und geeignete Maßnahmen zu treffen, damit dieses Kind im Unterricht lernen kann und damit seine Teilhabe an der Gemeinschaft der Schule ermöglicht und unterstützt wird. Genauso wichtig, um ein zweites Beispiel zu nennen, ist etwa die Bestimmung einer Lese-/Rechtschreibstörung durch eine möglichst differenzierte Erfassung des Schriftspracherwerbs und die Planung und Durchführung geeigneter Fördermaßnahmen. Diese Förderplanung verfolgt das Ziel, dass dieses Kind an gemeinsamen Lernprozessen der Klassengemeinschaft teilhaben und dadurch für das eigene Lernen profitieren kann. Aus der gleichen Kategorisierung «Lese-/Rechtschreibstörung» wird sich jedoch vielleicht in einer Unterrichtssituation, in der an der mathematischen Problemstellung «Gesetzmäßigkeiten an verschiedenen Zahlenmauern untersuchen» (vgl. Hengartner et al., 2006) gearbeitet wird, kein besonderer Förderbedarf ergeben: Die Schülerin oder der Schüler kann in dieser Situation gut ohne spezifische Maßnahmen am Unterricht teilhaben und lernen. Unterschiedliche Situationen erfordern auch beim gleichen Individuum unterschiedliche Interventionen.

Inklusive Schule

Eine inklusive Schule ist eine Schule, welche die unterschiedlichen individuellen Lern- und Verhaltensvoraussetzungen ihrer Schülerinnen und Schüler möglichst genau wahrnimmt und in den konkreten Unterrichtssituationen der Praxis mit geeigneten, spezifischen Maßnahmen berücksichtigt. Gleichzeitig nimmt sie auch ihren Auftrag wahr, eine Gemeinschaft zu gestalten, in der allen Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihren individuellen Lern- und Verhaltensvoraussetzungen, die gleiche Akzeptanz und Wertschätzung entgegengebracht wird.

Besondere Situationen – besondere Bedürfnisse

Special Educational Needs (SEN)

Sonderpädagogik beschäftigt sich mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen (Special Educational Needs oder SEN). Im Anschluss an den bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriff der Weltgesundheitsorganisation WHO ist dies die Unterstützung und Förderung von Kindern und Jugendlichen, deren Aktivitäten und Möglichkeiten zur Partizipation im Kontext des schulischen Lernens und Lebens eingeschränkt oder von Einschränkungen bedroht sind. Eine solche Einschränkung ist niemals nur das Ergebnis einer Eigenschaft des betroffenen Kindes, sondern entsteht aus der Wechselwirkung von Eigenschaften des Kindes mit den Anforderungen und Rahmenbedingungen seiner Umwelt in und außerhalb der Schule.

 

Damit wird postuliert, dass es übliche und eben besondere pädagogische Bedürfnisse (englisch: special needs) gibt. Die Frage, was Bedürfnisse besonders macht und sie von gewöhnlichen Bedürfnissen unterscheidet, ist eine normative Frage. Die Bedürfnisse, von denen hier die Rede ist, entstehen im Zusammenspiel von Eigenschaften des Individuums mit Anforderungen und Rahmenbedingungen seiner Umwelt und lassen sich deshalb nicht einseitig dem Individuum zuordnen. Ein Schüler oder eine Schülerin hat nicht besondere pädagogische Bedürfnisse, sondern diese besonderen pädagogischen Bedürfnisse entstehen erst in einer konkreten schulischen Situation, in der die individuellen Eigenschaften des Kindes im Kontext der Anforderungen und Rahmenbedingungen dieser Situation zu einem Problem führen. Dieses Problem betrifft in der Regel alle Beteiligten: das Kind und seine unmittelbare Umwelt (Lehrperson, Peers, Eltern usw.).

Im Anschluss an das in der Einleitung dieses Abschnitts Gesagte bedeutet die Annahme besonderer pädagogischer Bedürfnisse die Konstruktion einer Diversitätsdimension mit einem dazugehörenden Schwellenwert. Unterhalb dieses Schwellenwerts wird ein Bedürfnis als üblich, oberhalb des Schwellenwerts als besonders eingeschätzt. Beispielsweise ist es in der Situation eines Lehrervortrags ein übliches Bedürfnis von Schülerinnen und Schülern, dass die Lehrperson angemessen laut und deutlich spricht, damit sie verstanden wird. Ein Kind mit einer Hörbehinderung hat in dieser Situation besondere Bedürfnisse und ist beispielsweise auf den Blickkontakt mit der Lehrperson oder auch auf die elektronische Verstärkung der Stimme der Lehrperson angewiesen. Ein Kind mit Lese-/Rechtschreibstörung benötigt in Situationen, in denen Lesen oder Schreiben eine Rolle spielt, besondere, üblicherweise nicht notwendige Unterstützung und Förderung, um seine Ziele erreichen zu können.

Welche Diversitätsdimensionen in der Schule in welchen Situationen wichtig sind und wie bedeutsam sie sein sollen, ist nicht per se gegeben, sondern Gegenstand gesellschaftlicher und bildungspolitischer Wahrnehmungs- und Aushandlungsprozesse. → Siehe auch Beitrag von Felkendorff und Luder. Das Gleiche trifft für den jeweiligen Schwellenwert zu, oberhalb dessen bestimmte Bedürfnisse als besonders wahrgenommen werden. Dieser Schwellenwert ist nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den jeweils verfügbaren Ressourcen für Unterstützung und Förderung zu sehen.

Aus einer Betrachtungsweise, die sich nur auf Defizite von Schülerinnen und Schülern bezieht, lassen sich keine Handlungsmöglichkeiten für den konkreten Unterricht oder Maßnahmen für eine Förderung ableiten, denn diese Maßnahmen sind stark situationsabhängig. Dazu braucht es die Analyse von konkreten Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler aufgrund verschiedener Faktoren in ihren Aktivitäten und an ihrer Partizipation eingeschränkt sind. → Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Durch eine inklusive Didaktik und durch die Einbeziehung spezifischer individueller Maßnahmen kann die Partizipation in der Situation gestärkt werden. → Siehe auch Beitrag von Müller Bösch und Schaffner Menn. Die Lehrpersonen brauchen hierfür – neben differenziertem Wissen um mögliche Schwierigkeiten – Wissen um situationsbedingte Faktoren, welche die Partizipation stärken können. Spezifische pädagogische Interventionen richten sich auf Schülerinnen und Schüler in einer bestimmten Situation. In einer Unterrichtssituation zum Beispiel, in der die Lehrperson an der Wandtafel eine neue Arbeitsweise einführt, werden andere Interventionen erforderlich als in einer Situation, in der in einer Gruppe kooperatives Lernen gefordert ist. Die Situationen und dadurch auch die besonderen pädagogischen Bedürfnisse sind im Unterricht in einem stetigen Wandel. Die Lehrperson ist gefordert, diesem Wandel durch adaptive Unterrichtskompetenz nachzugehen und ihre Unterstützung und Lernbegleitung den Situationen anzupassen.

Im Unterricht für alle gibt es unterschiedliche Situationen, die differenzielle Maßnahmen erfordern können. Ziel dieser Maßnahmen ist die Partizipation und Teilhabe aller Lernenden an der aktiven Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten im sozialen Netz der Klasse. Alle Lernenden sollen dabei ihren Voraussetzungen entsprechend gefördert werden.

Dieses oben beschriebene Verständnis lässt sich wissenschaftlich als bio-psycho-soziales Modell bezeichnen. → Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Gesundheit (oder auch Behinderung) ist in diesem Modell ein funktional definiertes Phänomen, das sich nur im Zusammenspiel biologischer, psychologischer oder gesellschaftlicher Faktoren verstehen lässt.

Definition Behinderung

Behinderung ist eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit auf biologischer, psychologischer oder sozialer Ebene, in einem oder mehreren Lebensbereichen, so wie sie von einem Individuum mit einem Gesundheitsproblem in Interaktion mit seiner Umwelt erlebt wird (vgl. Leonardi et al., 2006).

Für die Analyse schulischer Situationen folgen aus diesem Verständnis drei wichtige Prämissen:

1. Funktionsfähigkeit und Behinderung sind konzeptuell zu trennen von Krankheiten und Störungen.

2. Ein mehrdimensionales Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung ist einer eindimensionalen (= kategorialen) Umschreibung von Behinderungen vorzuziehen.

3. Funktionsfähigkeit und Behinderung sind nur im Kontext spezifischer Lebensumstände definierbar.

Nach einem solchen Verständnis haben Lehrpersonen und die Schule als Institution einen zentralen Anteil an der Lernsituation aller Schülerinnen und Schüler und damit auch bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Lehrpersonen agieren (a) als Partizipationspartner der Kinder und Jugendlichen, (b) als Umweltfaktor und Umweltgestalter der Lernprozesse im Unterricht und der Schule und natürlich auch (c) als Individuum mit eigener Funktionsfähigkeit. Bei der Planung von Förderung in der Schule sind diese Anteile am Lernprozess der Schülerinnen und Schüler wichtig.