Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
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Andrea Charlotte Berwing

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

Impressum

©NIBE Media ©Andrea Charlotte Berwing

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Für den Inhalt des Buches ist allein der Autor verantwortlich und muss nicht der Meinung des Verlags entsprechen.

Coverbild: Hannes Berwing

Lektorat: Helge Hoffmann

NIBE Media

Broicher Straße 130

52146 Würselen

Telefon: +49 (0) 2405 4064447

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www.nibe-media.de

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis:

Wüstenhimmel

Der alte Mann über dem Neubau

Krieg und Sehnsucht im Kopf

Der unheimliche Fahrstuhl

Die Schlange, der kleine Drache

Von Halle nach Berlin

Der alte Tuareg

Der kurze Weg über das Gelände des Naturkundemuseums

Autowüste

Böse Jungs

Operation Wüstenbaby

Lügen, Lügen, Notlügen

Die Wüste geht unter

Susanne

Erst mal zurück

An der Mauer Berlins

Der Drache lebt

Geheimnisse der Grenze

Sonnenallee – Arabische Straße

Der Rubin

Frauen

Lügen, Notlügen

Tod in der Wüste

Freiheit

Dämonen

Das Päckchen

Männerfantasien – Kaviar

Heimkehr – Gefängnis

Escort

Erstes Date

Henriette und Frank

Auf einem Spielplatz im Prenzlauer Berg

Frosch auf dem Kopf

Gleitgel

Armes Deutschland

Nonnenwitz

Stalken

Böse Nachbarin

Schweinsteiger vergeigt das Tor für Deutschland

Babett lädt ein

Bruderliebe

Klumpfüße, Spina bifida und Valium

Portemonnaie weg

Kleines Ego

Die lieben Ideen

Der verzauberte See

Winter Warnemünde

Ich kann nicht mehr

Interpartnership – Henriette auf dem Tablett der Vermittlung

Der Teufel auf Interpartnership lässt nicht lange auf sich warten

Immobilienmakler in Berlin

Mit Dir gehe ich überallhin

Cannes

Party bei Mephisto im Prenzlauer Berg

Schönefeld

Streit mit Verlegerin

Henriettes Kinder beim Teufel

Lea und Karstadt

AutorInnen und VerlegerInnen in Amelies Welt

Die geliebten 80er

Die 13. Fee

Lea und die Diebe

Teufelskralle

Vom Nachteil geboren zu sein

Ersatzreligion

Lea und die zwei Frauen aus dem Puff

Der Teufel und klassische Musik in Thüringen

Lea und die Müslitante, voll im Stress

Vier Tage später Meu amor

Lea – Karriere als Putze

Lea – Interpartnership Peter

Irgendwie Wut

Lea und die neue Chance verpufft?

Vom Nachteil der starken Gefühle

Der Sprung ins kalte Wasser

Zeit vergeht in Schuldmorphose

Operation X - Ein halbes Jahr später

Huren halten dicht, Ehrensache

Mephisto steigt auf – mit Hipster-Bart

Lea und Mary

Traum vom Nebeldrachen … der sie umkreist … Schreckliche Magie

 

Mephistos großzügiges Angebot

Jage nicht im Wohngebiet und wohne nicht im Jagdgebiet!

Milkersdorf – Swingerclub

SÉANCE MIT ALEISTER CROWLEY – das Erbe

Sardinien, Sonnenschein

Kosovo und der Skipper

Bonifacio

Schmuck in Sparkasse Schließfach

Henriette und Deep Throat

Dove sono campane sono puttame

Sursum corda

Die Schwaben laufen mit Minibäumen auf dem Kollwitzplatz herum

Das Beste kommt immer zum Schluss

Wüstenhimmel

Lea erwacht; über sich den dunkelblauen Sternenhimmel, der sich über ihren kleinen Körper legt wie eine Bärenmutter sanft über ihr Junges. Ihre Haut schimmert samten dunkel, die dünne helle Wolldecke liegt zwischen ihren Beinen zusammengerollt, eine Hand ruht unter ihrem Kopf, die andere angewinkelt auf ihrem Bauch. Die Grillen zirpen, ansonsten ist es still. Lea denkt im Moment an nichts. Ihr Gesicht wirkt sanft und entspannt, das Augenweiß leuchtet hell wie das Mondlicht, das in der Finsternis eine stille Weisheit verbreitet. Lea fühlt die wärmende Hand ihrer Großmutter auf ihrem Bauch, die sich sonst im kleinen Haus in solchen Momenten des nächtlichen Erwachens auf ihre Stirn legt. Hier und da sieht sie kleine Lichtfetzen in der Dunkelheit. Lea, ein kleines Mädchen von vier Jahren, schließt ihre Augen, um weiterzuschlafen in der Oase Bilma. Afrika.

Am nächsten Morgen wird Lea plötzlich durch laute Stimmen wach. Sie hört, wie sich beide Frauen streiten. Nana und Bernadette. Das ist ungewöhnlich.

„Ja, ich habe es getan, es ist dein Kind und sie braucht Hilfe!“, hört sie Bernadettes ungewöhnlich hart und metallen klingende Stimme.

„Nein, bitte nicht, lass die Nachricht nicht ankommen“, betet Nana, ihre Mutter, inbrünstig.

Plötzlich sind beide Frauen still. Lea kann nicht mehr weiterschlafen, trotz ihrer Müdigkeit setzt sie sich auf ihrer dünnen Strohmatte auf und reibt sich verwundert die Augen. Hat sie nur geträumt? Das alte ruinöse Gebäude, über dem ‚Bureau de Poste’ in abgenutzten Lettern steht, vermittelt nicht den Eindruck, dass der Plan der Großmutter funktionieren könnte. So hofft Nana inständig. Täglich schickt sie böse Wünsche in die Wüste und hin zum Feind, dem Postamt. Doch die Großmutter geht jetzt jeden Tag, wenn die Sonne am höchsten steht, über die trockenen Straßen, um sich nach einer Antwort zu erkundigen. Einer Antwort aus einer Welt, die ihr persönlich völlig abhandengekommen ist und mit der sie noch einmal Verbindung aufnehmen musste. Ihrer Enkelin wegen. Des Herzens wegen.

„Meine Tochter ist nicht krank, meine Tochter ist nicht krank!“ Das dunkelhaarige Mädchen hört den Satz ihrer Mutter immer wieder, und so wird ihr klar, dass es kein Traum war an diesem Morgen. Nur welche Erkrankung? Lea wundert sich. Und versucht nun immer öfter, zu den beiden Frauen hinzuhorchen. Etwas in ihr ist misstrauisch geworden. Und aufmerksam.

„Wie kannst du Ismael vertrauen, er ist ein alter Wüstendoktor, der Schlangenbisse heilen, doch keine Herzfehler erkennen kann!“, klagte Nana ihre Mutter, die Großmutter Leas, an. Die Großmutter jedoch nickt nur, ihre weiße Haut sticht immer noch hervor aus den vielen dunklen Menschen, die sie umgeben. Wenn auch ihre Aura sich den Menschen um sie herum und dem goldenen Licht der Wüste anpasst hat.

„Weißt du, Nana, du bist meine Tochter und Ismael hat uns mehrfach bei deinen Fieberphasen geholfen. Er wittert es wie ein altes Ross, wenn es eine Krankheit gibt, die er nicht heilen kann, und dein Kind, meine einzige Enkelin, braucht Hilfe. Langfristig. Ich habe ihn in meinen vielen Jahren hier Vertrauen gelehrt und ich komme aus einer anderen Kultur als du und Ismael.“

Trotz ihrer ergrauten Haare, die ihr Haupt silberweiß umrahmen, funkeln ihre blauen Augen Nana hell und klar entgegen. Nana hat die braunen Augen und auch alles andere von ihrem Vater geerbt. Nur Lea scheint ihrer Großmutter wieder entgegenzukommen mit ihren helleren braunen Haaren und den grünlich durchbrochenen, braunen Augen. Die Lippen sind genauso samtig und voll wie die von Nana, doch die Form der Augen und der Nase sind eindeutig der deutschen Linie der Großmutter zuzuordnen.

„Und diese, meine alte Kultur, die hat sich weiterentwickelt und die brauchen wir jetzt! Ich habe lange genug diese Verbindung abgeschnitten und damit einen Teil von mir selbst. Damit ist jetzt Schluss!

Lea wird die Reise antreten, wenn Gott es will. Und nicht dein Allah.“

Nana erschrickt vor der Inbrunst ihrer Mutter und reißt die Arme erschrocken nach oben. So hat sie ihre Mutter noch nie erlebt. So überzeugt und aufgewühlt zugleich.

Lea, sich plötzlich sehr verlassen fühlend, versteht, dass sie reisen soll. Weit weg. In den nächsten Tagen nimmt sie ihre Matte und legt sich näher hin zum gelben Sand. Weg vom Haus und seinen Bewohnern. Es beunruhigt sie, dass die Gespräche sich um ihre Person drehen. Sie weiß das Haus mit den Gesprächen ihrer Großmutter und Mutter einige Meter weit weg und hofft, dass die Großmutter niemals eine Antwort aus Deutschland erhält. Niemals.

Der alte Mann über dem Neubau

Der Fahrstuhl fährt höher als das Haus, in dem Henriette wohnt, Stockwerke hat. In den dreizehnten Stock. Die Tür geht auf und ein alter Mann steht vor ihr. Henriette wagt es, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Sie bewegt ihr rechtes Bein über den Spalt, der die wackelnde Fahrstuhlkabine vor der rettenden festen Etage trennt. Der Raum ist in weiches Licht getaucht. Licht, das den sakral wirkenden Raum noch größer erscheinen lässt. Und auch den Mann vor ihr. Groß und hager wirkt er, irgendwie mächtig. Er schaut Henriette sehr ernst an. Und murmelt Worte, spricht mit dem kleinen vorsichtigen Mädchen. Henriette nimmt an den Seiten antike Säulen und alte, wie mit Mehl befüllte Säcke wahr. Sie beschleicht ein Gefühl wie aus einem Märchen. Sie befindet sich in einer anderen Zeit, kann es nicht in Worte fassen und auch nicht in Gedanken. Staunend spürt sie hier das Verschmelzen von Zeit und Raum. Er könnte ihr Großvater sein; so hätte sie ihn sich vorgestellt. Er wirkt, als käme er aus einer anderen Welt zu ihr.

Dann wacht Henriette auf. In ihrem Bett. Das Kopfkissen ist unter ihren Bauch gewühlt, die Beine sind angezogen wie in einer Embryostellung. Gelbe Vorhänge hängen vor den kunststoffumrahmten Fenstern. Dahinter ist es dunkel. Kein einziges Sternenlicht zeigt sich. Henriette schläft wieder ein. Der gelbe Wellensittich neben ihr im abgedeckten Käfig, die kleinen knopfförmigen dunklen Augen verschlossen, ist ganz still. Das weiße Tuch bewegt sich nicht. Kein Luftzug bewegt sich in dem Betonzimmer. In einem Neubau gebaut in den Siebzigern. In Halle.

Am nächsten Morgen liegt eine Feder auf ihrem Kopfkissen; sie ist gelb, wie das Federkleid von Tschibi, ihrem Wellensittich. Sie öffnet den Käfig und hängt ihm einen Hirsekolben hinein. Der Stiel ist widerspenstig und zerbricht bei dem Versuch, ihn zwischen die dünnen Käfigstäbe zu flechten. Tschibi flattert aufgeregt hin und her. Henriette hält dem Wellensittich ihre kleine Hand vor den weichen gelben Bauch, Tschibi hackt einmal mit dem Schnabel in die Hand, wie um sich zu vergewissern, ob sie auch echt ist. Dann setzt er sich darauf. Die kleinen Krallen bohren sich in Henriettes Haut. Es piekst. Sie spürt das Gewicht von Tschibi und wundert sich, wie leicht er ist. Eigentlich nicht existent. Und wie sehr sich so ein kleiner Vogel in ihr Herz hineinkatapultiert hat.

Bevor ihr Vater, der nur jedes zweite Wochenende nach Hause kam, eines Abends erst den Käfig bedeutsam aus Zeitungspapier auswickelte und dann eine kleine Pappschachtel mit Löchern, in dem der kleine Vogel sitzt, aus seiner schwarzen Aktentasche hervorzauberte, versuchte Henriette selbst Eier auszubrüten. Sie stahl ihrer Mutter Hühnereier aus dem Kühlschrank, legte sich diese im Bett vorsichtig zwischen ihre Oberschenkel. Bevor sie sich für die Schule zurechtmachte, wickelte sie die Eier in ihren Schal und ihre Mütze. Sehr gespannt lief sie nach der Schule zu den Eiern, nur noch dieser eine Gedanke. So konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Doch nie, nie krabbelte auch nur ein Küken heraus. Sie hielt die Eier an ihr Ohr, horchte, Stille. Sie befühlte sie, die glatte Oberfläche, kein Schnäbelchen pochte von innen an die dünne Wand. Die weißen Eierschalen starrten sie nur leer an. Doch die Vorstellung von einem eigenen Küken aus dem Ei bewahrte sich Henriette tapfer.

Henriette nimmt Tschibi nun vorsichtig mit ins Bad und setzt den kleinen Vogel dort auf die Spiegelablage. Dann wäscht sie sich zuerst das Gesicht und schaut in den Spiegel. Es klingelt an der Tür; Henriette hört, dass ihre Mutter zur Sprechanlage geht. Es brummt und knirscht laut, als sie sie bedient.

„Kommt Henriette runter?“ Lena, ihre blonde Freundin steht unten und möchte auf den Spielplatz gehen. Henriette erkennt ihre helle Stimme sofort.

„Nein, es ist doch noch viel zu früh, Henriette darf erst ab 11.00 Uhr raus!“ Die Mutter lässt den Knopf los und geht in die Küche. Ihre Schritte sind sehr fest für so eine kleine zierliche Person. Henriette schaut sich weiter im Spiegel an; sie hat blaue Augen, stellt sie immer wieder fest. Nicht so schöne braune wie Lena.

Krieg und Sehnsucht im Kopf

Die Hände der Großmutter klopfen den Stein ab, viele Steine für das neue Lagerhaus werden es bis zum Abend. Endlich ein Häuschen für Vorräte. Oft schon ist sie erschöpft und würde sich am liebsten zum Sterben niederlegen. Doch so leicht ist das nicht; ein bisschen noch, sagt sie sich, noch ein bisschen. Lea braucht mich noch. Dann schaut sie in die Wüste hinein, die unergründliche. Sandkorn für Sandkorn, hier und da ein Kaktus, diese Kargheit, diese überwältigende Weite, das soll ihre Zukunft gewesen sein? Die Wüste ihr Schicksal?

Erinnerungen überwältigen sie. Auch in Deutschland war es karg. Vor allem auf dem Standesamt. Auf dem Schreibtisch dort. Den wird sie nie vergessen. So als wäre es heute. Genau jetzt! So sehr sind die Bilder dieser Momente in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Das jedoch lässt sich nicht vorschreiben, welche Bilder die Seele sehen will. Dieser abgedunkelte Raum im zweiten Stock des alten Gebäudes mit den hohen Fenstern, die Eiche davor. Ihre Blätter gelb und braun zotteln im Wind hin und her. Der Stift liegt akkurat neben der Heiratsurkunde. Daneben der Brief. Das Einverständnis ihres zukünftigen Mannes. Handgeschrieben. Inmitten von Blut und Hunger und Durchhaltevermögen. Das Letzte, was sie von ihrem Geliebten sieht: den Stahlhelm. Der wusste wahrscheinlich mehr von den Tagen an der Front und ihrem Werner als sie. Und dann die bedrückende Einsamkeit, sie ist verheiratet, endlich und doch ganz allein mit ihrer stillen Sehnsucht, die überall nagt. Und sie überallhin verfolgt.

Ja, er hat Briefe geschrieben, lange Briefe, sehnsuchtsvolle Briefe. Mit seiner schönen gestochen eleganten Handschrift. Ein Herz druntergemalt, unter seine Briefe. Ein Herz. Sein Herz. Das nie zurückkommen sollte zu ihr. Lange warb er um sie, geduldig. Fast fünf Jahre lässt sie ihn zappeln, werben. Werben um sie. Um eine gemeinsame Zukunft.

Werner, ihr erster Mann. Groß ist er und gutmütig. Zu gutmütig. Zu groß. Zu stark. Er hat die Pferde beschlagen, mit Eisen gearbeitet, später an der Front mit Kanonen. Genau als sie ihn am meisten liebt, wird er ihr entrissen. Durch ein Formular. Einzug an die Front. Für das Vaterland. Auf dem Standesamt dann der Helm, Hochzeit mit dem Stahlhelm. Einsamkeit. Ihre Schönheit wird ihr zum Verhängnis, scheint ihr gerade zum Fluch zu gereichen. Denkt sie manchmal. Später.

 

Nach dem Tod ihres Mannes an der Front interessiert sich Heinz für sie. Er stellt ihr nach. Er versucht sie zu schlagen, als sie ihn nicht einlässt. Doch die Tür ist schneller zu, den will sie nicht. Er sieht hässlich aus in seiner Uniform, hager, zu helle Augen. Irgendwie missgestaltet in ihren Augen. Es muss etwas mit Aufrichtigkeit zu tun haben. Sie sieht immer nur Werner, auch in ihrer Wohnung. Er verblasst nicht. Die Erinnerung bleibt stark. Heinz, erbost und in seiner Ehre verletzt, lässt ein paar Monate später ihre zwei Töchter abholen. Kraft seines Amtes. In ein Heim. Sie sieht sie nicht wieder. Auf dem Formular steht Erbschaden.

‚Was für ein Erbschaden?’, überlegt sie. Lange. Es findet sich keine Antwort auf das Absurde. Das musste sie nicht verstehen. Ihre Tränen sind jetzt versiegt; es waren einmal so viele, dass sie sie der Wüste nicht antun wollte.

Dann lernt sie Bernard kennen. Er ist Deportierter, irgendwann fliehen sie in die Wüste. Über Ungarn, Paris, dann mit dem Schiff. Sie schaffen das Unmögliche. Unterwegs, erinnert sie sich, essen sie alles. Sie gehen in die Nähe von Restaurants, schnappen sich Essensreste von Tellern, wenn die Gäste sich zum Gehen erheben. Niemand wird gefragt. Dass es sie ihre Würde kosten würde, zu fragen, das ist es nicht. Die Würde, die ist erst anwesend nach dem Schmerz im Gedärm. Er Franzose, sie Deutsche. Nana wird ihr die beiden verlorenen Töchter nie ersetzen. Das weiß sie so genau, darüber ist sie nicht bitter geworden. Nein, bitter nicht. Eher noch schöner in ihrer Einsamkeit. Eine Frau, ein Wort. Eine Frau, die nichts zu verlieren hat, denn alles, was sie jemals dachte zu besitzen, wurde ihr auf grausame Art und Weise genommen. Sie weiß, wie es ist, leer zu sein. Noch ganz jung weiß sie es. Auch wenn sie sonst nicht zu den Begnadetsten gehört. Die Sprache in Bilma, zungenbrecherisch. Doch auch das. Sie wird sich verständigen. Vor allem mit ihren Lieben. Und manchmal muss sie auch gar nicht reden. Wozu noch? Allein ihre Anwesenheit genügt. Mit ihr geht niemand respektlos um. Niemand. Jetzt gibt es noch Lea. Lea. Lea. Ihr Herz. Und eine Art Frieden, der sich in ihr ausgebreitet hat, in jeder ihrer Körperzellen spürt sie eine müde Entspannung, die ihr niemand mehr nehmen wird.

An diesem schicksalshaften Morgen wacht Lea auf, als ihr Land, die Sahara schon vollends der Sonne ausgesetzt ist. Die Luft über dem Sand flirrt vor Hitze und lauter kleine Fata Morganen lassen sich, wenn die Augen dort verweilen, ausmachen. Lea sieht die Salzbrote und die noch größeren Salzkegel, die ihre Mutter gerade für ihren Vater und die anderen Männer verpackt. Sie werden in den nächsten Tagen aufbrechen, nach Timia. Noch bevor der Harmattan, der stürmische Wind aus der Sahara, der noch viele wilde Kinder hat, den Sahel mit undurchdringlichem rotem Staubnebel überziehen wird. Das Brot für die Reise ist schon gebacken, Brot und Datteln sind der unverzichtbare Reiseproviant für die Männer mit ihren hochnäsig wirkenden Kamelen. Zerklüftete Felswände in der Ferne lassen die langatmigen trockenen Wege durch die Wüste erahnen. Ihr Vater wird sich auf seiner Route an die Sterne, die die Richtung gen Westen anzeigen, halten.

„Ajuan“, begrüßt sie ihre Mutter Nana, die kaum den Blick hebt, so sehr nimmt die körperlich schwere Arbeit ihre Konzentration in Anspruch. Dann sieht Lea ihre Großmutter mit ungewohnt großen Schritten auf sich und ihre Mutter zueilen. Sie kneift die Augen zusammen, erst nach genauerem Hinsehen sieht sie Papier in der linken Hand der Großmutter flattern. Als würde es sich sträuben, mit dem Tempo der alten Frau mitzuhalten. Weit hinter der Großmutter macht sie die Silhouette einer Karawane der Kel Ewey aus, die sich durch den Sand schlängelt. Sie brauchen bestimmt noch zwei Stunden, bis sie in der Oase Bilma eintreffen.

„Nana, Nana, schau nur, heute ist es endlich angekommen, zwei Monde habe ich gewartet!“ Lea hört aus der Stimme der Großmutter große Freude heraus. Leas Herz rutscht sonst wohin, doch es schlägt nicht mehr in ihrer Brust.