Patricias Geheimnis

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Patricias Geheimnis
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Andreas Richter

Patricias Geheimnis

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Andreas Richter

Liebe Leser*innen,

Endstation Brook

Patricias Geheimnis

Außerdem von Andreas Richter als E-Book und Taschenbuch:

Impressum neobooks

Andreas Richter

Endstation Brook

Patricias Geheimnis

Hamburg Short-Thriller

Endstation Brook

Copyright © Andreas Richter, Ahrensburg.

Erstveröffentlichung 2014.

Überarbeitete Ausgabe 2019.

Alle Rechte liegen beim Autor.

Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit schriftlicher Genehmigung des

Autors wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: edition.noack, Hemmoor

Patricias Geheimnis

Copyright © Andreas Richter, Ahrensburg.

Erstveröffentlichung 2019.

Alle Rechte liegen beim Autor.

Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit schriftlicher Genehmigung des

Autors wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Werbekontor Herrmann, Bargteheide

Der Autor

Andreas Richter wurde 1966 in Hamburg geboren. Heute lebt und arbeitet er als freier Autor und Texter in Ahrensburg vor den Toren Hamburgs. Mehr über Andreas Richters auf www.andreasrichter.info


Liebe Leser*innen,

bevor Sie mit dem Lesen der in den Walddörfern spielenden Kurzgeschichten starten, möchte ich Sie kurz abholen. Was sind die Walddörfer und wie kam es zu den beiden Kurzgeschichten?

Als Walddörfer werden einige aneinandergrenzende Stadtteile im Nordosten Hamburgs bezeichnet. Diese Stadtteile befinden sich bereits seit dem späten Mittelalter in Hamburger Besitz, lagen jedoch bis zum Groß-Hamburg-Gesetz im Jahre 1937 als Exklaven auf preußischem Gebiet. Heute zählen die Walddörfer mit dem vielen Grün und dem vielerorts erhaltenem dörflichen Charme zu den bevorzugten Wohngegenden Hamburgs. Einer der Walddörfer Stadtteile ist Duvenstedt.

Im Jahre 2003 schrieb ich den Roman Friede ihren Seelen, der im Verlag Droemer Knaur erschien. Die Handlung der Geschichte legte ich nach Duvenstedt. Zehn Jahre später erschienen der Roman unter dem Titel Ruhet.Sanft. als überarbeitete digitale Ausgabe. Die in den Walddörfern erscheinende Zeitschrift Duvenstedter Kreisel berichtete darüber und deren Herausgeber fragte mich, ob ich für die in 2014 fünf erscheinenden Ausgaben des Duvenstedter Kreisel eine kurze Fortsetzungsgeschichte schreiben wolle. Und ob ich wollte.

Ich machte mich ans Schreiben und gab der Geschichte den Titel Endstation Brook in Anlehnung an den Duvenstedter Brook, dem 785 Hektar großen Naturschutzgebiet, welches Sie, sofern Sie es noch nicht kennen, bei sich bietender Gelegenheit unbedingt erkunden sollten.

Ende 2018 fragte der Duvenstedter Kreisel für eine weitere fünfteilige Fortsetzungsgeschichte an, die in den 2019er Ausgaben erscheinen sollte. Ich hatte große Lust, eine weitere in den Walddörfern spielende Kurzgeschichte zu schreiben, und es bot sich an, dafür zwei Protagonisten aus Endstation Brook wieder aufleben zu lassen. So kam es zu Patricias Geheimnis, dessen Grundidee bereits seit Jahren in meinem Kopf gespukt hatte, ohne dass ich weiter daran arbeitete.

Nun gibt es beide Kurzgeschichten in einem Band und ich wünsche Ihnen eine ähnlich große Freude am Lesen wie ich am Schreiben hatte.

Andreas Richter, im November 2019


Für A., T. und L.


Endstation Brook

Alle Personen, Begebenheiten und Orte dieser Geschichte könnten frei erfunden sein – doch wer weiß das schon mit Sicherheit.

Duvenstedt, 12. März

Na, das ist ja traumhaft«, murmelt Polizeiobermeister Jörg Krull und verzieht das Gesicht. Er steht alleine am Einsatzwagen. Sein junger Kollege ist erst vor wenigen Sekunden in der Bäckerei unweit des Kreisels im Herzen des Hamburger Stadtteils Duvenstedt verschwunden, um sich etwas gegen den plötzlichen Hunger zu kaufen.

Lothar Bergmann kommt geradewegs auf Krull zu, die Hände in den Taschen des Kurzmantels. Die strähnigen grauen Haare, die für gewöhnlich zurückgekämmt die kahle Stelle auf dem Hinterkopf bedecken, tanzen im Wind. In Bergmanns müdem Gesicht sprießen die Bartstoppeln und in seinem Mundwinkel hängt die unverzichtbare Zigarette.

»Moin Krull«, murmelt er und reicht dem Beamten die Hand. Dann blickt er kurz in den wolkenverhangenen Himmel und sagt: »Verdammt ungemütliches Wetter, heute. Es wird Zeit, dass der Frühling endlich kommt. Meine alten Knochen vertragen diese nasse Kälte nicht mehr. Neunundsechzig ist ein Mistalter, das einst leichte Ziehen und Ziepen der vergangenen Jahre nimmt jetzt so richtig Fahrt auf. Muss so eine Art Übergangsphase sein von alt zu steinalt. Fühlt sich nicht gerade gut an, Krull, das sage ich Ihnen.«

Krull drückt Bergmanns Hand. »Haben Sie mich gerochen oder gesucht? Kommen Sie mir bloß nicht damit, dass Sie mir zufällig über den Weg laufen. An Zufälle glaube ich bei Ihnen nämlich nicht.«

Bergmann zieht an der Zigarette. »Ich hörte was von einem Leichnam. Lag am Rande des Brooks und wurde gestern Nachmittag von zwei spielenden Jungen gefunden. Erzählen Sie mir davon, Krull!«

»Woher wissen Sie davon?«, fragt Krull. »Wir haben es geheim gehalten.«

»Geheim gehalten …« Bergmann schmunzelt und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. »Hören Sie, Krull: Ich frage Sie oder ich frage andere Leute. Das eine geht schneller und das andere dauert etwas länger, doch am Ende erhalte ich so oder so meine Informationen. Ersparen Sie uns beiden den Stress, mein Junge. Also: ich höre?«

Krull überlegt nicht lange. Er kennt Bergmann gut genug um zu wissen, dass dieser keine Hemmungen haben wird, den Leichenfund umgehend an die große Glocke zu hängen und somit die Ermittlungen gezielt zu stören. Bekommt Bergmann seinen Willen nicht, reagiert er häufig wie ein trotziges Kind.

Krull seufzt, dann sagt er mit gedämpfter Stimme: »Männlich. Identität noch ungeklärt. Anfang bis Mitte Zwanzig. Erschlagen. Seit wann er tot ist, untersucht die Rechtsmedizin noch. Mehr habe ich aktuell nicht. Die Kollegen von der Kripo haben übernommen und heute früh die Fundstelle untersucht. Ich habe keine frischeren Informationen als diese. Das ist mein Kenntnisstand, glauben Sie es oder glauben es nicht.«

Mit einem langen Zug raucht Bergmann die Zigarette bis auf den Filter runter. Dann lässt er sie den Fußweg fallen und tritt sie mit der Hacke seiner abgewetzten schwarzen Schnürschuhe aus.

»Es wird nicht oft gemordet im feinen Duvenstedt«, sagt er dann. »Der Leichenfund dürfte in der Gegend für reichlich Unruhe sorgen. Und soll ich Ihnen was verraten, Krull? Je vornehmer das Getue der Menschen in ihrer Gegend, desto düsterer ihre Geheimnisse. Seien wir also gespannt, welch' tiefe Abgründe sich hier bei uns auftun. Rufen Sie mich an, wenn Bewegung in die Sache kommt.«

Krull verzieht missmutig das Gesicht. »Haben Sie mir nicht zugehört? Die Kripo hat die Ermittlungen übernommen. Halten Sie sich raus und hören Sie endlich auf, überall Ihre Nase rein zu stecken, das bringt nur Ärger. Weshalb gehen Sie nicht nach Hause und kümmern sich um Ihre Katzen?«

In aller Ruhe zündet Bergmann sich die nächste Zigarette an und sagt dann: »Ihr Vater, Krull – Gott hab' ihm selig –, war nicht nur ein verflucht netter Kerl, sondern auch ein verdammt guter Polizist gewesen. Wissen Sie, weshalb er so gut war? Weil er stets das Gegenteil von dem getan hat, was Sie gerade von mir gefordert haben. Er hat sich nämlich nicht rausgehalten, sondern seine Nase umso tiefer in die Dinge reingesteckt, desto mehr es zum Himmel stank. Er hat sich nicht hinter Dienstvorschriften versteckt, sondern sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Anstatt in Akten zu blättern, hat er in den Gesichtern von Menschen gelesen. Ihr Alter hat sich nichts vormachen lassen und ließ sich nicht einschüchtern. Zu schade, dass Sie so anderes sind.«

Mit diesen Worten dreht Bergmann sich um und geht in die Richtung davon, aus der er gekommen war.

»Was ist denn das für ein Vogel?«, fragt der andere Polizist und beißt in ein Rosinenbrötchen. Krull erschrickt leicht. Er hatte nicht mitbekommen, dass sein Kollege bereits wieder neben ihm steht.

»Man merkt, dass du noch nicht lange bei uns hier oben bist«, grummelt Krull. »Fast jeder in Duvenstedt und Umgebung kennt den spleenigen Bergmann.«

 

»Hm, für mich sieht er aus wie ein gewöhnlicher älterer Herr. Etwas ungepflegt, vielleicht, aber ansonsten macht er auf mich einen ziemlich normalen Eindruck.«

»Früher war er vielleicht normal, doch das ist lange her. Heute ist Bergmann einsam, verbittert und geht allen auf den Geist.«

Der junge Polizeimeisteranwärter schiebt sich den Rest des Rosinenbrötchens in den Mund. »Wieso, was ist denn mit ihm geschehen?«

»Bergmann hat als freier Journalist für verschiedene Zeitungen gearbeitet. Er war in der halben Welt unterwegs. Vor etwa acht Jahren erhielt er für eine von ihm aufgedeckte Machenschaft einen renommierten Reporterpreis. Plötzlich war Bergmann eine Art Starjournalist. Doch dann kam heraus, dass er sich die Geschichte von A bis Z ausgedacht hatte. Alles eine einzige Lüge. Das war natürlich ziemlich peinlich, vor allem für die Fachjury und erst recht für Bergmann selbst. Es brachte ihm eine saftige Anzeige ein, und als Journalist war er erledigt. Bergmann hat nie darüber gesprochen, weshalb er sich auf diese Dummheit eingelassen hat. Zu allem Unglück erwischte es kurz darauf seine Frau. Sie stürzte zu Hause die Kellertreppe herunter und erlag wenig später ihren Kopfverletzungen. Bergmann behauptete, es sei Mord gewesen, doch es gab keine Anzeichen von Fremdverschulden, und außerdem nahm ihn nach der aufgeflogenen Schummelei sowieso niemand mehr ernst. Seit dem Tod seiner Frau wittert der alte Narr hinter jedem vom Tierarzt eingeschläferten Hund eine Weltverschwörung. Bergmann ist durch und durch misstrauisch.«

»Tja, das ist bitter für ihn«, sagt der junge Polizist emotionslos. »Arbeitet er denn noch?«

»Gelegentlich berichtet er für eines dieser Anzeigen-blätter, die kostenlos an die regionalen Haushalte verteilt werden. Das ist mit seinen früheren Jobs natürlich überhaupt nicht zu vergleichen. Miniartikel über Adventssingen im Seniorenheim um die Ecke anstelle der großen Weltpolitik Vielleicht steckt Bergmann auch deshalb seine Nase überall rein, weil er auf diese eine besondere Geschichte hofft, mit der er seine Journalistenehre wieder-herstellen kann.«

Die beiden Polizisten sehen Bergmann hinterher, der gelegentlich mit erhobener Hand Passanten grüßt, ohne jedoch stehen zu bleiben oder einige Worte zu wechseln.

»Für die eine besondere Geschichte ist dies definitiv die verkehrte Gegend«, sagt der junge Polizist vor sich hin, öffnet die Fahrertür des Einsatzwagens und steigt ein.

»Da bin ich mir leider nicht so sicher«, murmelt Krull, doch das hört sein Kollege nicht.

Duvenstedt 13. März

Robert Schwarz wurde sechsundzwanzig Jahre alt und stammte aus einem kleinen Ort in Brandenburg. Ledig, keine Kinder, technischer Mitarbeiter eines mittleren Unternehmens in der Spezialdiagnostik. Weshalb sein Leichnam ausgerechnet im Duvenstedter Brook gefunden worden war und ob er einen Bezugspunkt zu den Walddörfern gehabt hatte, wissen die Ermittler bislang noch nicht.

Die gerichtsmedizinische Obduktion hatte ergeben, dass Schwarz von hinten durch einen Schlag mit einem Spaten getötet worden war, dessen Kante einen tiefen Spalt in die Schädeldecke getrieben hatte. Brüche von Zungenbein und Kehlkopf sowie Male am Hals verrieten, dass Schwarz nach dem Hieb gewürgt worden war; aller Wahrscheinlichkeit nach um sicherzustellen, dass er auch tatsächlich tot war. Die Spurensicherung hatte festgestellt, dass Schwarz' Leichnam von nur einer Person von der Straße zu der rund fünfzig Meter entfernt gelegenen Fundstelle getragen worden war – eine stolze Leistung, denn Schwarz hatte bei einer Körperlänge von knapp einen Meter neunzig stolze fünfundneunzig Kilogramm gewogen. Auf dem Weg zurück zur Straße, wo vermutlich ein PKW abgestellt worden war, waren die auf dem Hinweg hinterlassenen Fußabdrücke weitestgehend unkenntlich gemacht worden. Offen blieb die Frage, wann all dies geschehen war. Während der Dunkelheit ist es kaum möglich, denn dann kann man im Duvenstedter Brook nicht die Hand vor Augen sehen. Ebenso ist es nahezu unmöglich, am helllichten Tag einen Toten tief ins offene Feld hinein zu tragen, ohne dass es jemand mitbekommt.

»Schreckliche Sache«, murmelt Klaus Anger. Er setzt die Lesebrille ab, faltet das Boulevardblatt zusammen und schiebt es eine Tasche seiner Jacke, die über der Rückenlehne des Stuhls hängt, auf dem er sitzt. Anger ist ein Jahr älter als Bergmann. Die beiden Männer sind seit Jahrzehnten befreundet.

Bergmann leert in einem Zug das Glas Bier, auf das Anger ihn in die ganztägig geöffnete Gaststätte eingeladen hatte. Es ist kurz nach elf Uhr am Vormittag.

»Noch eins?«, fragt Anger.

Bergmann schüttelt den Kopf. Seitdem er Blutverdünnungstabletten einnehmen muss, trinkt er gezwungenermaßen nur noch wenig Alkohol. Bergmann bestellt sich einen Kaffee.

»Was ist los?«, fragt Anger. »Du bist gedankenversunken.«

»Nein, eher grübelnd. Ein paar Dinge passen nicht zusammen, es ergibt sich kein klares Bild. Laut Kriminalaktennachweis wurde über den Toten keine Polizeiakte geführt. Der Junge war so sauber wie ein frisch gebadetes Baby. Dennoch hält die Polizei Informationen über ihn zurück, etwa das versteifte Bein. Ich frage mich, weshalb.«

»Er hatte ein versteiftes Bein?«

»Motorradunfall. Das linke Knie war vollkommen im Eimer. Nach mehreren erfolglosen Eingriffen wurde es operativ versteift. Der Kerl muss einen Gang gehabt haben wie Kapitän Ahab in Moby Dick.«

»Woher weißt du davon?«

Bergmann nippt am Kaffee. »Ich bin zwar für viele Leute eine Persona non grata, doch einige gute Kontakte sind mir schon noch geblieben.«

Anger knetet seine Unterlippe und denkt angestrengt nach. Dann schüttelt er den Kopf, um die letzten Zweifel zu vertreiben.

»Lass' uns rüber gehen zu Ingo«, sagt er.

Bergmann sieht Anger fragend an. »Ingo Reimers vom Getränkemarkt?«

Anger nickt und gibt dem Wirt das Zeichen, dass er zahlen möchte.

»Und was gibt´s für uns bei Ingo? Außer Getränke, natürlich.«

»Ich hoffe, dass er es noch hat.«

»Dass er was noch hat? Verdammt, Klaus, wovon sprichst du?«

Anger beugt sich nach vorne und sagt mit gedämpfter Stimme: »Wenn ich nicht völlig falsch liege, war der erschlagene Kerl bereits zuvor in unserer Gegend gewesen. Niemand hier scheint ihn zu kennen – und dennoch musste er ausgerechnet hier sterben. Ziemlich seltsam, wenn du mich fragst.«

»Was soll der Blödsinn?«, blafft Reimers Anger an. Dann wirft er Bergmann einen giftigen Blick zu, der keinen Zweifel daran lässt, dass er ihn nicht ausstehen kann.

»Ingo, sei' vernünftig«, sagt Anger mit ruhiger Stimme. »Wenn du die Aufnahme noch hast, musst du sie der Polizei geben. Jetzt erst recht. Die Aufnahme könnte wichtig sein.«

»Was denkst du dir eigentlich?«, zischt Reimers. »Du kommst hier rein mit diesem … diesem ... mit ihm da, diesem Aufschneider und Lügner, und sprichst in seiner Gegenwart über Dinge, die ich dir im Vertrauen erzählt habe? Scheiße, dass hier geht niemanden etwas an. Das ist allein meine Angelegenheit, nur mein Kram – verstanden?«

»Wenn der Kerl auf der Aufnahme der Tote ist, ist das nicht mehr allein dein Kram«, sagt Bergmann.

»Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt, du Verlierer?«, blafft Reimers. »Du weißt gar nichts, nicht das Geringste.«

Bergmann verzieht keine Miene. Er sagt: »Vor sechs Wochen ist in deinen Laden eingebrochen worden. Offensichtlich wussten die Einbrecher nicht, dass während der Nacht eine Überwachungskamera läuft, zumal du kein Hinweisschild angebracht hast. Es waren zwei Männer, und einer hatte ein versteiftes Bein. War es der Tote aus dem Brook? Und wenn ja, wer war der andere?«

»Keine Ahnung, ich kenne beide nicht.«

»Und die Polizei?«, fragt Anger. »Was sagt sie dazu?«

»Die Bullen? Nichts sagen sie.«

»Er hat es nicht gemeldet«, sagt Bergmann an Anger gewandt. »Ingo hat dir von dem Einbruch erzählt und hatte zu dem Zeitpunkt vielleicht auch noch vor, die Polizei zu informieren, hat es dann aber doch nicht getan. Man kann sagen, er hat die Sache unter den Teppich gekehrt.«

Anger versteht nicht. »Ehrlich, Ingo? Weshalb?«

Bergmann übernimmt das Antworten: »Weil ihn jemand darum gebeten hat. Und um der Bitte Nachdruck zu verleihen, gab es vermutlich Bargeld. Ein Betrag, der um einiges höher gewesen sein dürfte als der tatsächliche entstandene Schaden in Ingos Laden. Und garantiert gab es die Kohle auf die Hand und somit am Finanzamt vorbei – also so, wie uns allen die Kohle am liebsten ist.«

»Raus hier«, zischt Reimers.

»Wer hat ein Interesse daran, dass der Einbruch nicht publik wird?«, fragt Bergmann ruhig. »Nun sag' schon: An wen hast du dein Schweigen verkauft?«

»Raus!«, brüllt Reimers und deutet mit dem Zeigefinger nacheinander auf Bergmann und Anger. »Und zwar Beide! Und damit ihr es wisst: Es gab keinen Einbruch und es gibt kein Band, auf dem etwas zu sehen ist. Alles nur ausgedacht, versteht ihr? Genauso wie damals bei dir, Bergmann, als du mit deiner erlogenen Geschichte um die Ecke gekommen bist, du blöder Wichtigtuer!«

Anger zupft Bergmann am Ärmel und deutet mit dem Kopf zur Tür. Bergmann versteht. Hier kommen sie nicht weiter.

Kaum stehen sie draußen, sagt Anger leise: »Vor irgendetwas oder irgendjemanden hat Ingo Angst, und zwar nicht zu knapp.«

Bergmann nickt. »Er weiß etwas, das er besser nicht wüsste. Hauptsache, er endet nicht wie unser toter Freund aus dem Brook – denn der wusste definitiv mehr, als am Ende gut für ihn war.«


Duvenstedt, 14. März

Genau hier lag er«, sagt der rothaarige Junge und deutet auf die Stelle vor seinen Füßen.

Lothar Bergmann drückt die Zigarette an der Sohle seines Schuhs aus und lässt die Kippe in der Jackentasche verschwinden. Dann steckt er den zwei zwölfjährigen Jungen jeweils einen Zehn-Euro-Schein zu.

»Wir haben uns nie gesehen und waren nicht zusammen hier«, sagt der eine Junge mit filmreifer Miene. Er schiebt den Geldschein tief in die Hosentasche.

»Selbstverständlich nicht«, entgegnet Bergmann und schmunzelt in sich hinein.

Der Junge schlägt seinem Freund leicht auf den Oberarm, und schon laufen sie zu ihren Fahrrädern zurück, die achtlos am Straßenrand liegen.

»Das Geld für die Bengels ist rausgeschmissen«, sagt Anger. »Du findest im Leben nichts, das die Spurensicherung nicht bereits entdeckt hat.«

Bergmann sieht sich um. »Dies hier ist wahrlich kein gutes Versteck für eine Leiche«, murmelt er vor sich hin. »Der Brook bietet so viele Möglichkeiten, jemanden auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen. Weshalb wurde Schwarz mitten auf offenem Gelände abgelegt? Das verstehe ich nicht.«

Anger zuckt mit den Schultern. »Vielleicht musste es schnell gehen. Oder der Täter wurde panisch und wollte die Leiche einfach nur noch los werden. Oder er kennt sich hier nicht gut aus.«

Bergmann wiegt den Kopf. »Möglich wäre auch, dass der Mord entweder eine Botschaft ist oder der Mörder sich dermaßen sicher fühlt, dass es an Überheblichkeit grenzt.«

Einen Moment lang schweigen beide, dann sagt Anger: »Ich fasse zusammen: Ein Mittzwanziger aus Brandenburg ohne Polizeiakte und mit gutem Job bricht in einen Duvenstedter Getränkemarkt ein. Wochen später wird er hier an dieser Stelle tot aufgefunden. Dem Foto in der Zeitung nach zu urteilen sah Schwarz nicht aus wie jemand, der während der Nacht in einen Getränkemarkt einsteigt und für bestenfalls eine Handvoll Hartgeld und etwas flüssige Beute eine deftige Strafe riskiert. Was passt da nicht zusammen?«

»Vielleicht war er es nicht gewesen, sondern jemand anderes ist dort eingebrochen.«

»Aber Ingo erzählte doch, dass einer der zwei gefilmten Einbrecher das Bein hinterher zog.«

»Es gibt eine Menge Menschen mit einem kaputten Bein. Letztendlich kann nur Ingo die Frage beantworten, ob es tatsächlich unser Toter war, der in seinen Laden eingestiegen ist.«

Anger seufzt. »Weshalb zerbrechen wir uns darüber den Kopf? Das ist alles Sache der Kripo. Ich werde denen von dem Einbruch in Ingos Laden erzählen, sollen die sich doch mit Ingo auseinandersetzten.«

»Nein, Klaus – kein Wort darüber zur Polizei.«

Anger sieht Bergmann verwundert an. »Na, hör' mal! Ingo hält schließlich eine Information zurück, die für die Ermittlungen in einem Mordfall von Bedeutung sein könnte.«

 

»Ingo hat die Filmaufzeichnung aus der Nacht des Ein-bruchs nicht mehr, die hat er längst gegen Schweigegeld eingetauscht. Klaus, wir wissen nicht, ob der Einbruch und der Mord im Zusammenhang stehen oder nicht. Tatsache ist, dass die Polizei nicht alles wissen muss. Zumindest im Moment nicht, verstehst du? Lass uns diese kleine Extra-Information vorerst für uns behalten, es schadet doch niemanden.«

Anger mustert Bergmann eindringlich. Bergmann tut so, als bekäme er es nicht mit. Stattdessen klopft er die nächste Zigarette aus dem Softpack heraus und schiebt sie sich zwischen die Lippen.

»Lothar, was hast du vor?«, fragt Anger streng.

Bergmann zündet die Kippe an, inhalierte tief und pustet den Qualm Richtung Himmel. Dann sieht er Anger an. »Was trieb unser Freund aus Brandenburg hier oben im Norden? Und weshalb ist er getötet worden? Ist er jemanden zu heftig auf die Füße gestiegen oder hat er einen Bogen so stark überspannt, dass er dafür mit dem Leben bezahlen musste? Es gibt einige spannende Fragen, die beantwortet werden wollen.«

Anger legt die Stirn in Falten. »Aber nicht von dir.«

»Für mich riecht das nach einer verdammt guten Story mit ziemlich tiefem Sumpf.«

»Lass' es gut sein, Lothar. Du bist nicht einer dieser beiden Watergate-Reporter. Ich komm‘ gerade nicht auf deren Namen, aber du weißt schon.«

»Bob Woodward und Carl Bernstein. Großartige Journalisten, absolut integer.«

»Mag sein, aber sie waren jung und die Sache geschah mitten in Washington D.C., doch du bist alt und dies hier geschieht am Stadtrand von Hamburg.«

Bergmann zieht seelenruhig an der Zigarette. Dann zwinkert er Anger zu und sagt: »Der alte Mann hat nach wie vor ein gutes Näschen für Sachen, an denen was faul ist. Ich habe noch lange nicht fertig, egal was die Leute denken und quatschen, ganz abgesehen davon, dass mich deren dummes Gerede null interessiert. Die Sache mit dem Toten aus den Brook stinkt zum Himmel, soviel steht fest. Die Frage ist nur, wer zuerst herausfindet, was gelaufen ist.«

Der Boulevard nennt ihn Hamburgs JFK, weil er ein junger und außerordentlich gutaussehender sowie ein aufstrebender und charismatischer Politiker ist, mit einer ebenso hübschen wie gebildeten Ehefrau und zwei entzückenden kleinen Kindern an der Seite.

Magnus Peters tut stets so, als sei das berühmte Kürzel viel zu groß für ihn, doch insgeheim schmeichelt es ihm. Ebenso wie John F. Kennedy es war, ist Peters ein Menschenfänger, für den Beliebtheit ein Bedürfnis und eine Notwendigkeit zugleich ist. Peters ist intelligent und wissbegierig, hat eine schnelle Auffassungsgabe und ein sicheres Gespür für kritische Situationen. Mit seinen vierunddreißig Jahren hat Peters es als Wissenschaftssenator und stellvertretender Landesvorsitzender seiner Partei bereits beachtlich weit gebracht, doch seine Förderer sehen in ihm Hamburgs größtes Polittalent mit dem Potenzial für weit größere Ämter über die Stadt hinaus. Peters sieht das genauso.

Peters ist im Süden Hamburgs aufgewachsen, während seine Frau Melissa in Duvenstedt groß geworden ist. Melissas Eltern hatten mit dem Handel von Immobilien in den Walddörfern ein beträchtliches Vermögen gemacht. Mittlerweile genossen sie ihren Lebensherbst auf Mallorca, und bevor sie dorthin gezogen waren, hatten sie Melissa das Haus überschrieben, in dem sie aufgewachsen war. Dort, nur einen Steinwurf vom Freibad entfernt, lebte sie nun mit Magnus und den Kindern.

Obgleich Demut für Peters ein Fremdwort ist, hat er eine gute Antenne für Stimmungen. Er riecht es förmlich, wenn in seiner Nähe Unruhe aufzieht und Nervosität aufkommt, und ihm ist klar, dass er von falschen Freunden umgeben ist. Politik ist ein schmutziges Geschäft, in dem man niemanden nicht mehr vertrauen darf als sich selbst. Es gibt viele Menschen, die ihm seinen Erfolg neiden und ihn fallen sehen wollen. Peters weiß das und er lernt schnell. Bislang hat er jede Stolperfalle rechtzeitig erkannt und alle Heckenschützen frühzeitig identifiziert, und er hofft, dass das auch weiterhin so bleibt.

Wie an jedem zweiten Tag besucht Bergmann auch heute das Grab seiner Frau auf dem Waldfriedhof Wohldorf. Es ist ein Ritual, mit dem er nicht bricht – ganz gleich, wie lausig das Wetter ist und wie elendig er sich fühlt. Für gewöhnlich bleibt er nur einige Minuten lang, doch heute sitzt er bereits länger als eine halbe Stunde auf der Bank, von wo aus er die Ruhestätte sehen kann. Es ist ihr Hochzeitstag und er hat Blumen auf das Grab gelegt.

Heike und er hatten gute Jahre gehabt. Es war keine Bilderbuchehe gewesen und er hatte während der Jahrzehnte mehrere kurze Affären gehabt, von denen sie gewusst hatte, doch als Team waren sie durch dick und dünn gegangen. Mit Heikes Tod hat Bergmann seinen Anker verloren, seine Leitplanke. Alles hat sich verändert. Er sich auch.

»Gestatten Sie?«

Bergmann wird aus seinen Gedanken gerissen. Vor ihm steht ein gepflegter Mann in den Vierzigern. Bergmann sieht ihn zum ersten Mal. Der Mann trägt einen schwarzen Anzug und deutet fragend auf den Platz neben Bergmann. Ohne ein Wort rückt Bergmann ein wenig zur Seite. Der Mann setzt sich. Beide schweigen eine Zeit lang.

»Idyllisch«, sagt der Mann dann. »Im Sommer ist es hier zauberhaft. Aber auch während der anderen Jahreszeiten herrscht hier eine schöne Atmosphäre.«

Bergmann entgegnet nichts.

Der Mann sagt: »Mit Gevatter Tod muss man immer rechnen. Ständig umschleicht er uns, jede Sekunde kann er zuschlagen. Deshalb habe ich vorgesorgt. Haben Sie auch vorgesorgt für den Tag, der unweigerlich kommen wird?«

Bergmann verzieht den Mund. Er hat keine Lust auf eine Unterhaltung. Kapiert der Kerl denn nicht, dass er einfach nur seine Ruhe haben will?

Der Mann nickt vor sich hin. »Ich wette, Sie haben für ein Doppelgrab vorgesorgt. Um eines Tages Seite an Seite zu ruhen mit Ihrer geliebten Heike.« Er zeigt geradewegs auf die Ruhestätte von Bergmanns Frau. »Ein Unfall, sagen die Leute, aber Sie sagen etwas anderes. Leider glaubt Ihnen niemand. Weil man Sie für einen Wichtigtuer hält.«

Bergmann bleibt die Luft weg.

Der Mann wendet sich Bergmann zu. »Ihre Neugierde rund um den Toten im Duvenstedter Brook spricht sich rum«, sagt er mit ruhiger Stimme. »Ihr Schnüffeln ist keine gute Idee, mein lieber Herr Bergmann. Fischen Sie nicht in zu tiefen Gewässern, Sie könnten hineingezogen werden und nie wieder an die Oberfläche gelangen.«

Bergmann starrt den Mann an.

Wie nebenbei streicht der Mann einen Fussel von Bergmanns Schulter, ganz so, als seien sie alte Vertraute. Dann sagt er: »Vor einigen Minuten erfuhr ich, dass die Staatsanwaltschaft Schwarz' Leichnam freigegeben hat. Seine trauernde Familie wird ihn heimholen. Ich rate Ihnen, Schwarz zu vergessen. Ihre geliebte Heike dürfte es vorziehen, noch eine Zeit lang alleine hier zu ruhen. Ich denke, Sie haben verstanden.«

Mit diesen Worten steht der Mann auf und geht davon. Bergmann sieht ihm hinterher. Sein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Er wartet, bis der Mann aus seinem Sichtfeld verschwunden ist. Dann steht er auf, wirft dem Gedenkstein seiner Frau einen Handkuss zu und verlässt den Friedhof.

Anger sitzt am Tresen seiner Stammkneipe. Er kippt den Klaren runter und spült mit einem Schluck Bier nach.

»Mach' bitte noch mal voll, Toschi.« Er deutet auf das Schnapsglas.

Torsten, wie Toschi richtig heißt, schenkt nach. »Was stimmt nicht, Klaus?«, fragt er. »Das letzte Mal bereits am Nachmittag bei mir Korn getrunken hattest du an dem Tag, als du vor einigen Jahren deine Firma verkauft hattest und dich zur Ruhe gesetzt hast. Aber heute siehst du nicht halb so melancholisch aus wie du damals ausgesehen hast. Eher siehst du genervt aus.«

Toschi ist ein alter Hase. Als erfahrener Gastwirt weiß er, wie er die Gäste zum Reden bringt.

Anger unterstreicht sein leichtes Nicken mit einem Seufzer. »Lothar Bergmann will den Fall des Toten aus dem Brook lösen. Auf eigene Faust. Glaubt wohl, er sei Sherlock Holmes.« Er trinkt den Klaren.

Toschi wischt mit einem feuchten Lappen über den Tresen. »Bei Lothar wundert mich nichts mehr«, sagt er. Dann, nach einer kurzen Pause: »Hast du schon das von Ingo gehört?«

In Angers Gesicht schlägt die Neugierde ein wie ein Blitz. »Nein, was denn?«

»Der räumt heute seine Bankkonten und schließt den Abholmarkt ab. An der Tür hängt ein Zettel mit der Nachricht, dass er auf unbestimmte Zeit nicht erreichbar ist. Bin gespannt, ob wir den noch mal wiedersehen.«

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