Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells

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Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells
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Table of Contents

Auf der Suche nach H. G. Wells

Einordnung

Prolog

1. Im Zeichen des Bösen

2. La Magie

3. Die Magier von Paris

4. La Maison du Conseil

5. Eine neue Welt

6. Der Hilferuf

7. Stabtanz

8. Verwirrspiel

9. Die Zusammenkunft

10. Flucht

11. Schöne neue Welt

12. Die Schatten der Revolution

13. Wer suchet, der findet

14. Antworten

15. Die Spur von H. G. Wells

16. Ein eisiger Empfang

17. Neue Bekanntschaften

18. Ansatzpunkte

19. Nichego

20. Konfrontation

21. In die Tiefe

22. Allianz aus alter Zeit

23. Der zweite Ritter

24. Entscheidungen

25. Hass

26. Inferno

27. Gestrandet

28. Der geschlossene Kreis

29. Die Verfolgung

30. Der erste Sitz

31. Dein wahrer Name

32. Das letzte Antlitz

33. Abschiede

34. Anfang und Ende

Epilog

Seriennews

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

Die Chronik der Archivarin 2

»Auf der Suche nach H. G. Wells«

von Andreas Suchanek


Die Ereignisse in diesem Roman spielen nach dem Finale der zweiten Staffel (Schattenkrieg) und vor dem Auftakt zur dritten Staffel der Reihe »Das Erbe der Macht«. Es wird empfohlen, die Mutterserie zuerst zu lesen.


Alle Infos und die Reihenfolge findest du auf: www.erbedermacht.de


Die eine Seite der Münze …

Tick, tack. Unbeirrt wanderten die Zeiger über das Rund des Messings, drehten sich die unhörbaren Zahnräder der Zeit. Unbarmherzig. Bedingungslos. Endlich. Mit jeder verstreichenden Sekunde kam die Dunkelheit näher.

Die Menschheit hatte die Kontrolle über ihre eigenen Waffen verloren. Immer wieder sah er es vor sich. Die Pressemeldungen, die vom Sieg kündeten. Einem Sieg, für den Millionen ausgelöscht worden waren. Was er hinterließ, war eine Hoffnung. Vielleicht würde der Richtige jene Worte lesen, die Herbert niedergeschrieben hatte. Sein Vermächtnis war ein Blick zurück auf die Geschichte.

Darüber hinaus konnte er nichts mehr beitragen.

Das Ende seines Lebens nahte mit großen Schritten. Er hustete, schaute durch das Fenster auf das verregnete London. Stets hatte er sich gefragt, wie es wohl passieren würde. Bei einem seiner zahlreichen Besuche in den Ländern der Welt? Während er ein Manuskript tippte? Oder in einer hitzigen Diskussion mit einem Kollegen?

Nichts davon traf zu.

Herbert lag in seinem Bett und spürte die Kraft aus sich herausströmen. Vielleicht war es gut so. Längst war er gezeichnet von der verdammten Krankheit, und doch waren ihm viele Jahre vergönnt gewesen.

»Ich hatte eine Stimme«, flüsterte er.

Mehr, als viele andere seiner Zunft zu Lebzeiten besaßen. Er hatte den Wechsel eines Jahrhunderts erlebt, war Zeuge zweier Kriege gewesen. Den ersten hatten sie noch ›den großen Krieg‹ genannt. Die Titanen waren an ihm zerbrochen, alte Grenzen ausgelöscht und neu gezogen worden.

Den zweiten bezeichneten sie als ›Weltkrieg‹, und das hatte er auch verdient. Unsagbares Grauen war über sie alle hereingebrochen. Ideologien, die dem Gedankenwerk eines Teufels entsprungen schienen. Waffen, die an den Grundfesten des Seins rüttelten.

Im Geist sah Herbert den gewaltigen Pilz emporsteigen, den sie gefeiert hatten. Einer, der den Weltkrieg endgültig beendete und doch eine unsagbare Gefahr für die Zukunft darstellte.

»Sie haben entfesselt, was sie nicht kontrollieren können«, flüsterte er in die Stille.

Moura war fort, würde erst in wenigen Stunden zurückkehren. Zu spät, das fühlte er. Die Dunkelheit kam rasch näher.

Wie gerne hätte er seine Stimme weiter erhoben, gegen die Idioten an den Schalthebeln der Macht angebrüllt. Doch seine Zeit war abgelaufen.

Was blieb, waren seine Bücher. Sein Name würde überdauern. Doch auch seine Botschaft?

Er wünschte der Nachwelt alles Glück dieser Erde und versuchte, keine Angst zu haben.

Tick, tack.

In diesem Moment hasste er die Zeit. Und liebte sie. Er wollte mehr davon, doch nicht länger Schmerzen verspüren. Wollte loslassen, doch weiter gestalten. Sie sollten seine Worte lesen, doch seine Stimme nie vergessen.

Die Dunkelheit war heran. Sie kam als sanfte Melodie, die ihn umfing.

H. G. Wells ließ sein irdisches Leben los, um eins zu werden mit der Ewigkeit. Die Zitadelle nahm ihn auf. Und seine Wacht begann.

… die andere Seite der Münze.

»Onna Bugeisha.«

Ihre Worte waren brüchig. Wie das Papier in der Bibliothek, das vom Alter gezeichnet kaum noch lesbare Schrift enthielt. Die Tinte war verblasst, wie es auch mit Tomoes Kraft geschehen war.

Die Mauern des Klosters waren ihr Zuhause geworden, boten Schutz, waren jedoch ebenso Gefängnis. Sie blickte aus der Pagode hinaus auf die weiten Felder. Wie oft hatte sie Nächte unter dem Sternenhimmel verbracht. Wie oft darunter gekämpft und Blut vergossen.

Mit einem Lächeln dachte sie zurück an Sensei Yamamoto. Sein langer weißer Bart, der sich wie ein gefärbter Fluss bis zum Boden schlängelte. Seine hagere Gestalt, die Arme dünn wie morsches Geäst. Doch zog er sein Katana, wurde er zu einem wirbelnden Sturm, dem niemand standzuhalten vermochte.

Damals hatte es begonnen.

Aus dem Mädchen war eine Kriegerin geworden.

Anfangs hatten sie noch ihr Aussehen gelobt. Die alabasterfarbene Haut, das lange schwarze Haar, das bezaubernde Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

Später war es die Kunst gewesen, mit der sie das Pferd an den Zügeln davonpreschen ließ. Die Genauigkeit, mit der sie einen Pfeil durch ein gefärbtes Blatt schoss. Ihre fließenden Bewegungen beim Kenjutsu, wenn sie das Schwert führte und niemals verlor.

Und doch, das hatte sie erst viel später begriffen, war sie stets ein Instrument gewesen. Sie hatte das Haupt gebeugt und gedient. Blut vergossen, flammende Pfeile abgefeuert und die Klinge geführt, um Haut zu teilen.

Das Leben brachte Weisheit, doch ebenso unweigerlich den Tod.

Mit einundneunzig Jahren war Tomoe noch immer in Bewegung, studierte Schriften und meditierte. Das Ende glitt jedoch auf sie zu wie der Meistersamurai aus den Schatten.

Gegen diesen Feind konnte sie kein Katana führen, keinen Pfeil schießen, kein Pferd besteigen und davonreiten. Er fand sie überall.

 

Tomoe trat aus der Pagode und stellte sich in den Wind. In ihren Händen hielt sie eine Schale mit feinem Grüntee. Es war der dritte Aufguss. Sie sog den Duft des Blattes ein, trank mit vorsichtigen Schlucken.

Die Luft war warm, doch der Wind hatte aufgefrischt. In der Ferne verdunkelte sich der Himmel. Mit einem Mal lag die Spannung in der Luft, die sie so sehr liebte. Pure Kraft, die davorstand, sich zu entladen. Die Gewalten der Natur, die den Menschen verdeutlichte, dass sie keine Götter waren.

Es war schön.

Und grausam.

Tomoe schritt zurück zum Haupthaus, den Körper kerzengerade, den Rücken durchgestreckt. Ihr Kimono flatterte. Auf ihn gestickt waren Zeichen des Schutzes. Das Kleidungsstück war das Geschenk eines alten Freundes, der längst gegangen war. Doch während sie ein gewöhnlicher Mensch war, hatte er zu jenen gehört, die Magie in sich trugen.

Gerade noch rechtzeitig erreichte sie den Eingang und trat hinein. Schon fielen die ersten Regentropfen, wurde der Sturm zu einem Raubtier, das seine Wut hinausbrüllte.

»Ich respektierte dich«, sagte sie leise.

Das Holz unter ihren Füßen knirschte, als sie nach oben stieg und ihr Zimmer betrat.

Sie wusste, dass es soweit war.

Das Alter brachte das Ende.

Etwas in ihr erzitterte, als strich eine Feder über ihre Seele.

»So mögen andere die Geschichte gestalten, durch Krieg und Diplomatie«, flüsterte sie.

Tomoe Gozen, Onna Bugeisha, Kriegerin unter der blutigen Sonne, ergab sich dem Ruf der Ewigkeit.

Eine Melodie umfing sie, so sanft und erhaben, dass Tränen unter ihren bereits geschlossenen Lidern auf die Wangen rannen. Sie weinte ein letztes Mal.

Die Zitadelle hieß sie willkommen.

Und ihre Wacht begann.


I


Die Apparatur


1942

Ein Blitz zuckte.

Welch ein Hohn, ausgerechnet.

Ally packte ihren Bruder und zerrte ihn zwischen die Ruinen. Wie war es möglich, dass die verdammten Krauts es hierhergeschafft hatten? Was taten sie hier, in diesem Küstenstädtchen, weitab von allen wichtigen Angriffspunkten?

»Sie haben uns gesehen«, hauchte Harry angsterfüllt.

Was das bedeutete, musste er nicht erst sagen. Die vier trugen Gewehre.

Schüsse peitschten.

Es war gespenstisch, fast surreal. Der Horizont war tiefschwarz, Blitze zuckten bereits, doch kein Donner erklang. Der Sturm war auf dem Weg, aber bis jetzt nicht hier. Wie ein Stillleben wirkte das Meer, so ruhig, die tintige Schwärze, die Spannung in der Luft. Als hielte die Welt den Atem an, im Angesicht des Schreckens.

»In die Ruine!«, befahl Ally.

Ihr Bruder stolperte voran.

Die Welt verwandelte sich mit jedem Tag etwas mehr in die Hölle. Deutschland befand sich im eisernen Griff einer grauenvollen Ideologie. Spanien ächzte unter Franko. Italien hatte Mussolini. Der Faschismus hielt Europa im Würgegriff.

England hielt sich tapfer, doch wurde zunehmend bedrängt. Dass die vier Nazis ungesehen die Küste erreicht hatten, sprach Bände.

»Der Horchposten«, hauchte Harry.

Seine Stimme klang dumpf in der Kirchenruine.

»Vermutlich«, sagte Ally nur.

Das Dorf wirkte unscheinbar, doch sie wusste, dass es einen Horchposten gab, der den Funk der Deutschen auffing und nach London weiterleitete. Dort waren die besten Codeknacker am Werk. Wie gerne hätte Ally etwas dazu beigetragen, den Krieg zu entscheiden. Doch sie besaß keinerlei Fähigkeiten, die nützlich hätten sein können. Im Gegenteil.

Hatte ihre Anwesenheit die Nazis erst hierhergeführt?

»Denkst du, sie hauen wieder ab, wenn sie uns nicht finden?«, fragte Harry.

»Das können die sich kaum leisten«, zerstörte Ally seine Hoffnung. »Wir könnten sie verraten.«

Außerdem sagte man den Deutschen nicht umsonst nach, gründlich und effektiv zu sein. Sogar im Töten waren sie das.

»Nach unten!« Sie deutete auf die Steintreppe.

Ihre Verfolger waren nicht zu hören, doch ein stetiges Tasten in ihrem Inneren ließ Ally aufhorchen. Sie konnte die vier Männer spüren. Auf eine Art, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte, es noch nie gekonnt hatte.

Doch es war nicht das erste Mal.

Dass sie nicht längst in einem Sanatorium gelandet war – einem, das sich um Hysterie kümmerte –, war dem Krieg geschuldet. Beginnend mit dem Tod ihrer Eltern, dann dem ihres Onkels, den Bomben und hassverzerrten Fratzen, die nach Blut und Macht gierten.

»Sie kommen«, flüsterte Ally.

Harrys Augen weiteten sich. Sein schwarzes Haar klebte vor Schweiß an der Kopfhaut. Die sanften braunen Augen wirkten müde, er hatte den Mut verloren. Immer wieder starrte er ins Nichts, hing seinen Gedanken nach und gab auf ihre Fragen keine Antwort. Wenn sie erneut nachhakte, tat er es. Doch der einzige Antrieb war Selbsterhaltung. Der erlöschende Funke, der nach dem Leben schrie.

»Ich habe nichts gehört«, sagte er fast flehend.

Die letzte Stufe – und sie standen im Keller. Dämmerlicht lag über allem, Schächte in der Wand gingen bis an die Oberfläche, gerade groß genug, um Tageslicht hereinzulassen. Der Putz war feucht, in der Luft lag der typische Geruch von Moder und Schimmel. Halbrund gehauene Durchgänge führten von einem Zwischengang ab in einzelne Kammern.

Ally machte einen Schritt und taumelte.

Da war es erneut.

Etwas in ihr bewegte sich. Das Bild blitzte auf. Ein Symbol, das beständig waberte und Farbe erzeugte. Die Hysterie kehrte zurück. Wie vor zwanzig Jahren, als sie sechs gewesen war. Mit ihm waren die abenteuerlichsten Geschichten in ihrem Geist erschienen. Bewegungen, Worte, Symbole. Ein lebhafter Kindergeist war zu so etwas fähig.

Hätte sie Harry erzählt, dass es dieses innere Wabern war, das sie hierher zur Ruine geführt hatte, vermutlich wäre er im Haus geblieben.

Zweifellos bereute er seine Entscheidung längst.

»Was ist los?«, fragte er.

Wann hatte sie seine Augen zuletzt gesehen, ohne dass Angst darin stand?

»Es ist gut«, erwiderte sie. »Weiter.«

»Warte hier, ich renne voraus und suche einen Ausgang.«

»Aber …«

Schon war er auf dem Weg. Wie immer, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, von der inneren Leidenschaft angetrieben wurde. Sie ließ ihn gewähren, war froh, dass er die Lethargie überwand.

Ally spürte genau, wohin sie gehen mussten. Mit wackligen Beinen schritt sie den Gang entlang auf einen der Durchgänge zu. Dahinter hatte jemand ein Stofftuch über Gerümpel gespannt. Einstmals war es weiß gewesen, doch längst von fingerdickem Staub bedeckt.

Sie griff nach dem Tuch und riss es fort.

Hustend wedelte Ally mit der Hand, der Staub verteilte sich überall. Sie blinzelte, rieb sich die Augen. Im Dämmerlicht stand eine seltsame Apparatur.

Ein wenig erinnerte sie an einen Schlitten. Es gab Hebel, an denen man ziehen konnte, Zahnräder drehten sich zwischen dem Holz. Eine Zeitanzeige war angebracht, erloschene Kristalle an allen vier Seiten.

»Es gibt keinen Ausgang!«, rief Harry und erschien neben ihr. »Was ist das?«

Ally ging schweigend näher. Die Kristalle leuchteten auf, Zahnräder drehten sich schneller. Ein Blitz ging von ihr aus und schlug in der Maschine ein.

Harry sprang zurück. »Was ist das?« Er starrte weiter auf die Apparatur.

Den Blitz hatte er nicht gesehen? So war es auch damals gewesen. Als Ally zum ersten Mal etwas hatte schweben lassen, war sie aufgeregt zu ihrer Mutter gelaufen. Doch die hatte es nicht sehen können. Stattdessen beharrte sie darauf, dass die Puppe an einer Schnur hing.

Das Wabern in Ally wurde stärker. Verschlungene Linien tanzten. »Sigil«, hauchte sie.

»Was?« Verwirrt runzelte Harry die Stirn. »Oh nein. Das hast du damals auch gesagt. Ally, das ist nicht echt. Du hast wieder einen hysterischen Anfall.«

Eine Kugel schlug direkt neben ihrem Bruder in die Wand, Stein spritzte auf.

Er sprang in den Raum. »Es ist vorbei. Sie werden uns erschießen und zwischen dem Gerümpel verschwinden lassen.« Er rannte zu den Kisten und räumte sie beiseite. »Vielleicht finden wir eine Waffe.«

»Im Keller einer Kirche?«, fragte Ally skeptisch.

Doch sie ließ ihn machen.

Seltsam, obgleich die Deutschen in wenigen Sekunden hier sein würden, verspürte sie keine Angst.

»Ich beschütze dich und dann suchen wir einen Arzt«, sagte Harry. »Es wird alles gut.«

»Ja, das wird es.«

Er stieg in den Schlitten, um an die Kisten dahinter zu gelangen. Dass diese seltsame Apparatur bis vor wenigen Sekunden nicht mehr gewesen war als eine Ansammlung von Holz und Metall, war ihm egal.

Ally stieg ebenfalls ein.

Die Männer tauchten im Durchgang auf.

»Contego«, sagte sie und malte ein Symbol in die Luft.

So viel hatte sie vergessen, was zuvor klar gewesen war, doch ein paar wenige Worte hatten sich dauerhaft eingeprägt. Wie der Schutz, mit dem sie sich vor den Schlägen der anderen Mädchen so oft verteidigt hatte.

Die Nazis schossen, doch ihre Kugeln schlugen ohne Wirkung in die halb durchsichtige Sphäre.

Harry starrte auf die Mündungen. »Sie können nicht zielen.«

Was in keiner Weise Sinn ergab, denn ihre Häscher standen nur wenige Schritte entfernt.

»Schutzrüstungen«, rief einer der Nazis.

Beinahe hätte Ally die Augen verdreht. Und sie wurde als hysterisch bezeichnet … Doch sie wollte sich nicht beschweren, das Schicksal stand auf ihrer Seite.

Harry hatte einen unterarmlangen Holzleuchter entdeckt, den er wie einen Cricketschläger schwang. »Lasst uns in Ruhe!«

Ally zog an dem Hebel.

Einfach so, weil nur das einen Sinn ergab. Und weil das Sigil ihr zuflüsterte, genau das zu tun. Nicht dass sie viel Hoffnung in einen Schlitten setzte.

Doch die Zahnräder begannen zu klacken und zu surren, die Kristalle verströmten ein überirdisches Licht. Die Umgebung lag plötzlich hinter einem farbigen Wabern, wirkte diffus und surreal.

Ihr Schutz vor dem Raum erlosch. Die Männer legten erneut an, richteten die Mündung der Gewehre auf Ally und Harry. Kugeln lösten sich aus den Läufen.

Doch sie verharrten in der Luft.

Genau wie die Nazis in der Bewegung gefroren.

»Wieso starren sie uns mit diesem debilen Lächeln an?«, fragte Harry, die Stirn gerunzelt, den Schläger erhoben.

»Setz dich.« Ally wartete nicht, bis er Folge leistete, sondern drückte ihn auf den Sitz.

»Deine Hysterie …«, begann ihr Bruder.

Doch als die Umgebung verschwand, farbiges Licht sie umgab und der Schlitten sie davontrug, war er es, der hysterisch brüllte. Die Apparatur trug sie in Sicherheit, wie das Sigil es vermittelt hatte.

Doch was mochte sie am Ziel erwarten?


Harry brüllte noch immer, als die Apparatur bereits herunterfuhr. Die Zahnräder drehten sich langsamer, das Leuchten der Kristalle erlosch.

»Was war das?!« Er sprang aus der Apparatur, sah sich verwirrt um. »Das ist nicht mehr der Keller unter der Kirche!«

Ally stieg ebenfalls aus. Nein, das hier war unebenes Gestein und es stank. Eine Kirche war es sicher nicht. Der Schlitten hatte sie an einen gänzlich fremden Ort getragen.

»Woher wusstest du es?«, fragte Harry.

»Es war Zufall …«

»Hör auf zu lügen. Wir wären gestorben, wenn das Ding uns nicht gerettet hätte. Wie ist das möglich?«

Sie wollte Harry am Kragen packen und ordentlich durchschütteln. Natürlich hätte das sein Hemd zerknittert, die ohnehin schäbige Weste möglicherweise eingerissen und damit Aufmerksamkeit auf sie gezogen.

»Es war wohl ein hysterischer Anfall.«

»Das ist nicht der richtige Augenblick für Witze«, sagte er. »Vielleicht sind wir direkt in Berlin gelandet.«

Die Realität vertrieb jede Art von Neugier.

Sie mussten herausfinden, wo sie waren. Glücklicherweise war der Stollen eindeutig abgelegen. Falls er zu einem größeren Keller oder etwas Gleichartigem gehörte, dann war es kein Problem.

 

Trotzdem gab sie dem inneren Drang erneut nach, malte ein Zeichen in die Luft und sagte: »Generate Mirage.«

Noch während die Apparatur das Aussehen eines gewaltigen Steinbrockens annahm, sprang Harry zurück. »Was war das?! Die Luft, sie hat gebrannt. Und die Apparatur!«

»Du … hast es gesehen?«

»Wie kann man so was nicht sehen?!«

»Genau das frage ich mich seit Jahren!«, rief Ally. »Ständig hast du gesagt, ich wäre hysterisch.«

Nun wirkte Harry traurig. »Aber das war doch nicht ich.«

Es stimmte, ihre Eltern hatten es gesagt. Harry, nur zwei Jahre älter als sie, hatte es aufgegriffen mit seinen acht Jahren.

»Deshalb haben sie uns nicht getroffen«, realisierte er. »Die Kugeln der Nazis. Aber wieso kann ich es jetzt sehen?«

Ally zuckte nur mit den Schultern. Etwas hatte sich verändert. Nicht nur lagen wieder mehr magische Worte offen in ihrem Geist bereit, die Zauber gingen auch leichter von der Hand. Als würde ein Druck von ihr abfallen. Sie fühlte sich befreit.

»Weißt du, was für eine Apparatur es ist?«, fragte Harry.

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich konnte sie spüren. Als hätte sie mich gerufen.«

Die Skepsis stand Harry ins Gesicht geschrieben, doch er war gerade Zeuge davon geworden, wie real sich ›Hysterie‹ auswirken konnte.

»Wenn wir uns also umschauen und angegriffen werden, kannst du etwas tun?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Ally. »Seit zwanzig Jahren habe ich nicht mehr daran gedacht. Erst als dieses Wispern erklang, das Rufen der Apparatur, hat sich mein S… das Wabern in mir gemeldet. Ich kann es nicht erklären.«

»Dann müssen wir es wohl darauf ankommen lassen.« Harry ging in die Knie.

Mit den Fingern wollte er den Stein betasten, zu dem die Apparatur geworden war. Doch sein Arm versank im Nichts. Es war nur ein Trugbild.

»Also, wenn uns jemand sieht, machst du das einfach noch mal. Dann denken alle, wir sind Steine.« Er lächelte.

Zum ersten Mal seit Langem wirkte er nicht ängstlich. Das löste auch den Knoten in ihrer Brust. Die erfolgreiche Flucht war Hoffnung.

Sie gingen ein paar Schritte.

Und blieben stehen.

Bisher war die Umgebung hell erleuchtet gewesen, doch das war von der Apparatur gekommen. Direkt vor ihnen endete der Lichtkreis. Dahinter lauerte Schwärze.

Erwartungsvoll blickte Harry zu ihr herüber.

Und tatsächlich, da war etwas. Ally fragte sich, woher die Worte kamen, das Wissen darum, wie die Symbole gezeichnet werden sollten. »Fiat Lux.«

Eine farbige Leuchtsphäre schwebte in die Höhe und verströmte Licht.

»Vielleicht liegt es in der Familie«, hauchte Harry mit großen Augen und Hoffnung in der Stimme.

Ally lächelte. »Vielleicht.«

Sie schritten durch den Gang, über staubigen Boden und vorbei an Wänden, die aus dem Stein gehauen worden waren. Sie hatte noch nie zuvor von einem solchen Ort gehört, er musste riesig sein. Selbst nach einer gefühlten Ewigkeit begegneten sie keinem Menschen. Es gab enge Durchgänge, schmale Schächte und breite Passagen. Immer wieder mussten sie auf Händen und Füßen entlangrobben, die Luft anhalten und den Bauch einziehen, um sich durch Spalten zu quetschten.

Irgendwann stieg der Boden leicht an.

Längst war Harrys Gesicht von einem dünnen Schweißfilm bedeckt, Staub hatte sich wie eine zweite Haut auf jede freie Stelle seines Körpers gelegt. Vermutlich machte Ally keinen besseren Eindruck. Ihr hüftlanges schwarzes Haar fühlte sich schwer an, die stickige Luft raubte ihr den Atem.

Nicht nur das, auch in ihrem Inneren geschah etwas.

Je länger das Licht leuchtete, desto weniger wurde die Magie in ihr. Das Sigil bewegte sich stärker, erschuf frische Kraft. Noch gab es genug, aber für wie lange?

Irgendwann mischte sich ein anderer Geruch unter den von Staub und Dreck. Ally wurde übel, Harry kreidebleich.

Sie sagten kein Wort, jeder begriff die Bedeutung. Hier hatte der Tod zugeschlagen. Verwesung lag in der Luft. Es war also kein Ort der Rettung.

Kurz darauf stießen sie auf die ersten Totenschädel. Eine ganze Wand war angefüllt mit Fächern, in denen die bleichen Knochen verwahrt lagen.

»Aber die sind schon lange hier«, stellte Harry klar.

Der Geruch musste von etwas anderem kommen.

Entgegen jedem Instinkt folgten sie ihm. Und stießen auf weitere Totenschädel. Hier unten waren Menschen begraben worden. Der Gedanke, irgendwo in Deutschland gelandet zu sein, drängte Ally sich auf. Was würden sie mit ihnen beiden machen, wenn sie dort auftauchten?

Von Kopf bis Fuß in englischer Kleidung steckend. Sie würden sofort erkennen, dass sie keine Deutschen waren. Dann folgte eine Verhaftung, eine Untersuchung. Die unausweichliche Entlarvung.

»Halte dich bereit«, flüsterte Harry.

Die Angst war wieder da.

In der Ferne zeichnete sich Tageslicht ab, endlich traten sie hinaus ins Freie. Ally ließ die Lichtkugel erlöschen.

Es war nicht Deutschland.

Leider blieb der Gestank auch über der Erde bestehen. Etwas Ähnliches hatte Ally noch nie gerochen. Als hatte jemand den Müll der Welt überall verteilt.

»Sind das … Kutschen.« Harry deutete auf eine nahe Straße.

Und tatsächlich.

Menschen schritten zügig aus, Kutschen ratterten vorbei, Unrat lag überall.

Ally hatte nur Augen für die weiten Röcke der Frauen, die Sonnenschirme und Droschken. All das wirkte wie einer längst vergangenen Zeit entsprungen.

Sie musste nur eines der Gesichter betrachten, um zu erkennen, in welchem Land sie sich befanden. »Das ist Frankreich.«

Paris konnte es nicht sein, denn der Eiffelturm hätte alles überragt. Aber wo waren sie dann?

Und noch etwas fiel ihr auf.

Es gab keine deutschen Flaggen.

»Stand in der Zeitung nicht, dass die Deutschen Frankreich schon lange eingenommen haben?«, fragte ihr Bruder leise. »In Paris wehen an jeder Ecke Hakenkreuzfahnen.«

»Vielleicht ist das hier eine Stadt der Résistance?«

Nun bedachte sie Harry wieder mit dem Hysterie-Blick. »Eine gesamte Stadt? Wie soll das denn gehen?« Er schaute zurück auf die Menschen. »Wir fallen schon auf.«

»Du liebst die Geschichte doch so sehr?«, sagte Ally. »Sag du es mir.«

»Ich habe keine Ahnung«, flüsterte Harry.

Hälse wurden gereckt, Finger gezeigt.

»Mach es noch mal«, bat ihr Bruder. »Deinen Trick mit diesem Trugbild. Aber verpasse uns dieses Mal bessere Kleidung damit.«

Ally malte erneut Symbole in die Luft, kurz darauf schimmerte sauberer Stoff mit französischem Einschlag auf ihren Körpern.

Sie betraten die Stadt, ließen sich von der Menge treiben.

Nach einigen Minuten trafen sie auf einen Jungen, der Zeitungen schwenkte. Ein gut gekleideter Herr bezahlte eine davon und eilte weiter. Nach kurzem Blick auf die Titelseite warf er das Blatt jedoch kopfschüttelnd beiseite.

Ally rannte zu der Stelle und hob sie auf.

Sie konnte Französisch, doch was sie interessierte, hätte sie in jeder Sprache erkannt. Am rechten oberen Rand standen der Ort und die Zeit.

Harry trat neben sie. »Was ist?«

»Wir sind in Paris«, hauchte sie.

»Das kann nicht sein. Wo ist der Eiffelturm?«

Ally ließ das Papier sinken. »Noch nicht gebaut. Die Apparatur hat uns nicht nur an einen anderen Ort getragen.«

»Wie meinst du das?«

»Schau auf das Datum. 1744. Wir sind über zweihundert Jahre in die Vergangenheit gereist.«

Ally schaute auf all die Männer und Frauen.

Sie wussten nichts von Krieg und Verderben, lebten einen uralten Frieden, der längst gestorben war.

»Zweihundert Jahre«, hauchte sie.