Mein Gotland

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Mein Gotland
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Anne von Canal

Mein Gotland

Erzählungen von Wind, Zeit und Einsamkeit


© 2020 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-387-3

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-623-2

www.mare.de

Für Arndt

Gegen die Einsamkeit scheint es kein anderes Mittel zu geben als das Alleinsein.

John Steinbeck

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Anmerkungen

Literatur

Dank

Über das Buch

An einem unbekannten Ort anzukommen, ist wie der erste Kuss mit einem Fremden.

Die Entdeckung.

Die erste Berührung der Lippen, rau oder weich, feucht oder fest, spröde?

Der Atem, die Wärme.

Der Moment, in dem aus einem Fremden ein Vertrauter wird, lässt sich nicht wiederholen, nicht rückgängig machen, nicht verändern.

Der erste Kuss ist der eigentliche.

Gotland küsste mich zum ersten Mal an einem Novembertag. Schneestürmisch und entschieden.

So ist es zwischen uns geblieben.

Gotland ist meine Winterinsel.

Sie ist wild und seltsam, verschwiegen und oft undurchsichtig, aber auch freundlich und großzügig, wie eine kluge Dame, die alles gesehen und nichts versäumt hat, nicht gefallen will und keine Erwartungen erfüllen muss.

Und manchmal ist sie so still, dass man erschrickt, wenn sie doch plötzlich ihre Stimme erhebt.

1 Fortuna.

Hier liegt das Glück verrostet im Meer; verlassen und aufgegeben zerfällt es langsam im Angesicht der Gezeiten, des Windes und der Jahre. Wird täglich kleiner, poröser, durchlässiger und gibt dennoch nicht auf. Noch nicht.

Fortuna.

Viel mehr als die Bugspitze ist von dem alten deutschen Frachtschiff nicht übrig, doch die ragt hoch aus den Wellen, hält den Namen eisern über Wasser.

Ich muss lachen über so viel Symbolhaftigkeit.

Auf den Rostlöchern im Schiffsstahl pfeift der Novemberwind ein ungestümes Lied, er pflückt die Gischt von den heranrollenden Brechern und trägt sie in wehenden Fahnen davon, zurück aufs Meer. Er war es auch, der mich hergeschoben hat, eine Hand fest in meinem Rücken, über Stein, über Stein, über Stein. Kilometerweite, karge Kalksteinflur. Geh, bis du nicht mehr weiterkannst, geh und sieh dich nicht um!

Das ist Norsholmen: Außenposten des Außenpostens. Der nördlichste Zipfel Fårös, dieser eigensinnigen Schwesterinsel, die wiederum selbst wie ein Zipfel an der Nordspitze Gotlands hängt. Das ist dort, wo selbst die Heide aufgibt, wo auch die trutzige Geröllebene nicht mehr Land sein mag und sich dem Meer ergibt.

Keine Seemöwe krächzt am saphirblauen Himmel, und kein verirrtes Schaf ruft; der Kalksteinbruch, den ich auf halbem Weg passiert habe, lärmt schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Hier ist wochen-, vielleicht sogar monatelang niemand mehr gewesen, seit der Sommer und die wenigen Besucher sich in wirtlichere Gefilde verzogen haben.

Ein Stück weit draußen an der Sandbank, dem Salvorev, brechen sich schwarzblau die Wellen. Ich las, das Riff trage seinen Namen des Passionsgedichts wegen, das schiffbrüchige Matrosen anstimmten, wenn sie dem Tod gottesfürchtig ins Auge sahen und Trost suchten in einem alten, größeren Leiden:

Salve, caput cruentatum,

totum spinis coronatum,

conquassatum, vulneratum,

arundine verberatum,

facie sputis illita.

Rhythmus und Reim. Bangen und Hoffen.

Oh, Haupt voll Blut und Wunden. Fast höre ich die beschwörenden Stimmen, die, auf Rettung harrend, diese martialischen Worte kreisen lassen wie ein Karussell.

Mich schaudert.

Ob die Crew auf der Fortuna ans Beten dachte, in dieser stürmischen Oktobernacht 1969, als sie ihr Schiff verlor?

Nirgends ein Licht. Windstärke zehn, und die Wellen schlagen über das Vorschiff. Der Kapitän und der Steuermann navigieren durch die dichte Finsternis, wohl kaum mit einem Lied auf den Lippen. Konzentriert starren sie hinaus und erkennen doch zu spät, dass sie in der Bucht Ekeviken in eine gefährliche Sackgasse geraten sind. Alle Versuche, zurück in offenes Gewässer zu kreuzen, scheitern. Krachend läuft die Fortuna auf Grund, nur dreißig Meter vom Ufer entfernt, und sie können nichts tun. Notraketen! Dreißig Stück schießen sie ab. In der Ferne passiert ein Schiff, doch das Dunkel reißt nicht auf. Kein Scheinwerferkegel, der übers Wasser zu ihnen huscht, nicht mal der zuckende Punkt einer Taschenlampe im nahen Uferwald. Sie lassen das Rettungsboot zu Wasser, entschlossen, es auf eigene Faust zu versuchen, ehe das Leck zu groß wird und die Kraft der Wellen sich ungehindert Bahn bricht, doch sie kommen nicht von Bord. Zu wild die Brandung. Es ist kurz vor vier Uhr morgens, als eine Patrouille des Grenzschutzes das Schiff endlich entdeckt, die Küstenwache informiert und den Hubschrauber zur Bergung anfordert.

In der Zeitung Gotlands Allehanda am nächsten Tag ein Foto der befreiten Crew mit folgender Bildunterschrift: »Die mit dem Helikopter gerettete Besatzung der Fortuna am Kaffeetisch in der Polizeiwache von Visby. Von links: die Köchin Fockra Voss und ihr Mann, Steuermann Walter Ross, Aurich. Der Matrose Käse Hodnstta, Apeldorn, Holland; der befehlshabende Kapitän, Dieter Baschin, Bremen, und der Matrose Nanne Meyer, Emden.«

Käse Hodnstta? Fockra Voss und Walter Ross? Nanne Meyer? Allein die Namen schreien nach einer Kurzgeschichte.

Die Telefonverbindung, über die ihre Daten übermittelt wurden, muss sehr schlecht gewesen sein.

Da steht ein aufgeregter Lokalreporter in der Telefonzelle in Sudersand – dieser einen Telefonzelle, von der aus Staatsminister Olof Palme alle seine Anrufe tätigte, wenn er Sommerferien auf Fårö machte (denn in seiner Hütte hatte er weder fließend Wasser noch Strom noch Telefon) – und schreit in den Hörer: Ich verstehe dich so schlecht! Wie heißt der Kerl?

Und auf der anderen Seite schreit es zurück: Käse, wie ost, nur auf Deutsch!

Was? Wurst?

Nein, Kalle! Käse!

Und der Wind ist noch längst nicht abgeflaut und brüllt immer noch sehr laut, Regentropfen wehen durch die Luft, und für Kalle ist es wahrhaft schwierig, unter diesen Umständen gleichzeitig den Block, den Stift, den Hörer und die Zigarette zu halten.

Wieder an seinem Schreibtisch, betrachtet er unsicher seine Aufzeichnungen. Hm. Ob er lieber zurück zur Telefonzelle geht und noch mal anruft? Ein Blick aus dem Fenster ins Unwetter, dann gibt er seinem Journalistenherzen wahrscheinlich einen Ruck und dichtet diesen fremden Menschen Namen an, die in seinen Ohren deutsch genug klingen, um nicht schwedisch zu sein.

Von Lügenpresse spricht noch niemand.

Es ist nicht genau zu sagen, was »von links« bedeutet, denn die fünf Crewmitglieder sitzen versetzt in zwei Reihen hinter einem Tisch. Erste Reihe, dann zweite Reihe? Oder systematisch von links nach rechts?

Fockra, die Köchin, in gemusterter Bluse unzweifelhaft am linken Rand. Mausezähnchen und ein rundliches Gesicht mit kleinem Doppelkinn. Neben ihr, der massive, vierschrötige Türstehertyp mit dem dunklen Gesicht, dem dunklen Bart, dem dunklen Blick – ist das Walter? Ist der Fockras Mann? Oder doch eher der Schmächtigere schräg hinter ihr? Zwei Männer wie Tag und Nacht.

Ich schaue ihr in die Augen. Aber ihr Blick verrät kein Gefühl, keine Zugehörigkeit, nur eine blitzwache, aufgeschreckte Erschöpfung.

Der Dünne ganz rechts, mit einer Art Seitenscheitel auf dem Kopf und Zigarette in der Hand, ist vermutlich der Holländer Käse, und hinter ihm, der einzige der Männer im Hemd, ist das Dieter, der Kapitän?

Sie alle wirken unerhört wenig seemännisch; dazu kaum vertraut oder verbunden, als säßen sie rein zufällig hier zusammen bei der Visbyer Polizei, nur vereint in einem Punkt: Resignation. Keiner zeigt auch nur den Ansatz eines Lächelns für die Kamera.

Ob es Streit gegeben hat? Wegen Fockra?

»Frauen an Bord bringen Unglück und Mord«, heißt einer von tausend alten Seemannsaberglauben. Und selbst 1969, als man sich in der Küstenschifffahrt bestimmt für sehr fortschrittlich hielt, werden es manche Seeleute noch als böses Omen gewertet haben, wenn eine Frau zur Crew gehörte.

 

Ob es schon Diskussionen gegeben hatte, ehe sie in Antwerpen ausliefen? Und dann später, in der Sturmnacht, als sie endgültig festsaßen? Ob sie Fockra die Schuld gaben? Offen? Heimlich?

Hat Nanne geschrien: Ich hab euch gewarnt! Ich hab euch ja gewarnt? Und Walter, hat er mit der Faust auf den Tisch gehauen? Hat er den hysterischen Matrosen am Kragen gepackt und ihn an die Wand gedrückt, hat er gezischt: Du kleine Ratte, ich schmeiß dich über Bord, wenn du nicht dein Maul hältst! Haben sie sich geschlagen, ihrer Verzweiflung über die aussichtslose Lage handfest Luft gemacht? Hat der Kapitän eingegriffen, oder hat er vielleicht schweigend zugesehen, weil er insgeheim selbst dagegen gewesen war, die Frau des Steuermannes anzuheuern? Denn, ja, ganz ehrlich, wer war er denn, das Schicksal herauszufordern?

Und Fockra? Saß sie mit klopfendem Herzen zwischen taumelnden Töpfen und Suppenkellen unten in der Kombüse und jammerte: Vater unser im Himmel, mach, dass es nicht meinetwegen passiert ist!

Vielleicht. Vielleicht waren sie aber auch Freunde; erschöpfte Kollegen nach einer langen Nacht, ohne Schiff jetzt, dafür mit einem Haufen Probleme.

Wer kann schon sagen, was sie gemeinsam durchgestanden hatten. Durch wie viele Stürme die Fortuna av Rhaudermoor sie schon sicher geschaukelt hatte, ehe sie, kaum auf der Hälfte des Weges nach Örnsköldsvik, einsehen mussten, dass das Glück nur ein Name war und sie in Wahrheit gerade verließ?

Die Ebbe lässt schöne Trittsteine aus dem Wasser schauen, und ich springe mit großen Schritten von einem zum nächsten, um dem Wrack noch näher zu kommen. Es zieht an mir; hat schon an mir gezogen, seit ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal von ihm reden hörte, zufällig, und heute Morgen, als ich noch in der Küche saß und mir für den Tag eine Thermoskanne mit Tee vorbereitete, da rief es: Komm, komm. Schau dir an, was werden kann.

1917. Als die Fortuna vom Stapel lief, war meine Großmutter fünf Jahre alt und spielte mit ihrer Zwillingsschwester vierhändig auf dem Klavier die Ode an die Freude. Ihr Vater, der Alte Pundt, erhielt laut Marineverordnungsblatt vom 1. Juli den Charakter eines Korvettenkapitäns, obwohl er offiziell bereits außer Dienst war, und wurde eingezogen. Nach drei Jahren endlosen Schlachtens ging dem Krieg langsam die Puste aus, und es wurde jede verfügbare Einsatzkraft gebraucht, selbst die eigentlich Ausgemusterten. Glück und Hoffnung waren in diesen Tagen so selten geworden, dass die Taufe eines Schiffes auf den Namen Fortuna wie ein Pakt mit dem Schicksal erscheint. Er hat lange gehalten, aber nach gut fünfzig Jahren, an jenem stürmischen Oktobertag 1969, verlor er seine Gültigkeit.

Seither stirbt die Fortuna, von der Welt vergessen, an diesem alten Strand ihren langsamen Tod und erfüllt immerhin noch den einen Zweck: in ihrem Verfall die Zeit sichtbar zu machen, die ansonsten weitgehend unbemerkt über die silbergrau schimmernde Steinlandschaft zieht.

Auf einem Felsstück im Wintermeer balancierend, was weder klug noch sinnvoll und dennoch unumgänglich ist, strecke ich den Arm, die Hand, die Finger aus, mache mich lang, ganz lang, um das hundert Jahre alte Eisen zu berühren. Vergeblich. Ein paar Meter fehlen mir.

Arm z’kurz!, höre ich die Stimme meines Vaters und sehe vor mir, wie er sich dabei belustigt mit dem Zeigefinger an die Wange tippt – als könnte seine Hand die Schläfe nicht erreichen, um mir einen Vogel zu zeigen. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich gebraucht habe, um diesen Witz zu verstehen. Gut möglich, dass darüber meine Kindheit vergangen ist.

Eine siebte Welle spült mir Wasser und Tatsachen in den Schuh: Es ist Zeit.

Ich muss zurück zum Wagen, ehe ich zu frieren beginne, ehe die Sonne untergeht und das Ummichherum zu groß wird und ich zu klein. An den Rückweg habe ich, als ich losging, nicht gedacht, nur an das Wrack mit seiner sirenenhaften Anziehungskraft.

Ahoi, Fortuna!, brülle ich zum Abschied, so laut ich kann, dann stemme ich mich gegen den Wind, der mich kaum fortlassen will von hier und mir unablässig ins Gesicht beißt.

An den Kieshaufen im ehemaligen Kalksteinbruch, die sich weiß in den Himmel türmen, ducke ich mich für einen Moment hinter einen Fels, um Luft zu holen. Sie schmeckt nach Salz und Kalk. Knirscht mineralisch.

Aus dem Augenwinkel nehme ich ein Stück entfernt eine Bewegung wahr. Ich schiebe die Kapuze zur Seite. Da ist nichts. Nicht mal ein Vogel.

Als ich endlich ins Auto steige, schmerzen meine Wangen, meine Stirn, meine Zähne.

Es fällt schwer, in diesem Moment nicht über Einsamkeit nachzudenken. Wie es überhaupt schwierig ist, über eine Insel zu schreiben, ohne Einsamkeit zu meinen.

Heißt »Insel« übersetzt nicht »Ich bin allein«?

Die Insel.

Sie ist nicht Meer und nicht Festland.

Sie ist das, was der Negierung von beidem, diesem unscheinbaren »Nicht«, entspringt. Per Definition ein deutlich abgegrenztes, überschaubares Etwas in einer es umschließenden großen Masse.

So denken wir sie: abgeschieden, isoliert, klein.

Ein Ort, an dem Einsamkeit gleichermaßen Voraussetzung wie Möglichkeit ist. An dem sie eine Berechtigung hat.

Das natürliche Einsamkeitsvorkommen auf Inseln.

Ist es das, was mich Winter für Winter wieder nach Gotland zieht?

Hier ist Einsamkeit ein Raum, den ich betreten kann.

Da staple ich ruhig meine wenigen Sachen in den Schrank, streiche die Bettdecke glatt und lege prüfend die Hand an die Heizung. Sie ist warm. Minuten, Stunden, Tage schaue ich über das Meer, das keine zwei Momente dasselbe ist, und habe keine Angst.

2 Es ist ein kontrastloser Tag. Versupptes Dunkelweiß.

Die Straßen sind mit einer unsichtbaren Eisschicht glasiert. Autos tasten sich über Kreuzungen und Kreisverkehre, und zwischen einem ausführlichen Bericht über das Verstricken von gotländischer Lammwolle (Schafe heißen hier Lämmer, und Lämmer heißen Lammkinder, und wer das nicht weiß, ist ein Bockskopf) ruft das Radio die fröhliche Empfehlung zu mir herein: Fahren Sie vorsichtig, dann kommen Sie sicher an!

Einmal durch den Kreisel gekommen, halte ich das Lenkrad fest auf Kurs. Der Toftavägen erspart mir ansonsten Kurven, geht stur geradeaus. Nicht weit, knapp drei Kilometer in südlicher Richtung aus Visby heraus, ist da schon die Visborgsslätt, ein großes Feld, und mitten drauf der Oscarssten, ein mächtiger grauer Stein von vier Kanonen bewacht. Dieses patriotische Monument der gotländischen Heimatwehr mutet in seiner Großspurigkeit seltsam amerikanisch an, hier mitten im Nirgendwo.

Ich biege im Schneckentempo links ab, die Reifen verlieren dennoch die Haftung. Das Feld kommt näher, und näher. Rumpelnd rutsche ich mit dem Heck vom Asphalt, bleibe stehen. Schaue.

Gleich hinter dem Feld beginnt der Wald.

An dessen Rand, am Ende der Allee, stand früher das Haus.

Dieses Haus.

Mit herrschaftlicher Auffahrt, einer Fahne auf dem Dach und Spitzengardinen in den Fenstern glänzte es so vortrefflich, als der Lagerverwalter des gotländischen Panzerregiments in den Zwanzigerjahren hier Hof hielt: Kinder in Matrosenanzug und Frauen mit Sonnenschirmen auf dem gepflegten Rasen, die feinen Herren auf der Veranda und das Truppenübungsgelände von P18 gleich nebenan.

Ab und zu vibriert der Waldboden. Es ist ein tiefes Grollen, das die Tassen leise zittern lässt, sodass sich im Kaffee feine Wellen kräuseln, und die Bäume schütteln kaum merklich ihre Zweige, gerade so viel, dass das Laub raschelt, als führe ein kleiner Wind hindurch, als erwachte die Erde. Dann dumpfer Kanonendonner. Ach, sie üben wieder Schießen, seufzt jemand, dann fährt man fort, die Sonne zu genießen und die gepflegte Konversation.

Viele Jahre war es ein gutes Haus, mit Ansehen und Bedeutung, doch beides starb mit dem letzten Verwalter, und bald dienten die Räume nunmehr zur Lagerung von Sachen, die niemand mehr brauchte. Das Haus selbst hätte man dort drinnen gelagert, wenn es nur ginge.

Langsam wurde es morsch.

Die Dachrinnen müde, die Fensterläden schief. Ein weißer Flieder wuchs ihm über den Kopf, streckte die Arme und Dolden zu den Fenstern herein wie ein Dieb, der heimlich Geschenke brachte – doch niemand freute sich daran.

1968 sollte es weg.

Für den Herbst waren die Bagger bestellt. Doch statt der Bagger kamen Anstreicher und Zimmerleute. Es kamen Lkws mit Filmequipment und Filmmenschen. Wie ein Bienenschwarm summten sie heran und herum und verwandelten das müde Gebäude in eine kunterbunte, anarchische Insel der Glückseligkeit. Es kamen ein Äffchen und ein Pferd, und im Garten wuchs ein Limonadenbaum. Und es kamen Kinder. Viele Kinder.

Die Allee ist noch da, unverkennbar. Die kahlen Winterbäume stehen in Reih und Glied, am Ende der Fahrspur ein schweres Tor, ein hoher Zaun, gut gesichert.

Ich suche einen Hinweis auf das Grundstück, auf dem die Villa stand. Reste eines Fundaments vielleicht? Oder möglicherweise ist der große Flieder noch da? Ein Stück Gartenzaun?

Irgendetwas muss doch zu finden sein von meinem einstigen Gedankenspielplatz, der Geburtsstätte meiner Vorstellung von Unbeschwertheit und Abenteuer.

Unschlüssig gehe ich hin und her, weiß nicht, wo ich suchen soll. Ein paar Schritte in ein irgendwie symmetrisch aussehendes Gebüsch, ich breche durchs Unterholz, finde jedoch nichts.

Eine Frau, die ihren Hund ausführt, geht vorbei, sieht skeptisch herüber, ich nicke und grüße freundlich. Als sie sich ein wenig später noch einmal umdreht, als hielte sie mich für eine Mörderin, die hier ihre Leichen vergräbt, winke ich ihr zu.

Wer will für ein paar Kronen und einen Haufen Süßigkeiten als Lohn lärmend durch die Straßen rennen? Sich bei einem Gartenfest mit Kuchen den Bauch vollschlagen und mit Torten werfen? Auf Bäume klettern und Geschenke abpflücken und auf tönernen Vogelpfeifen traurige Lieder spielen? In der Wiese liegen und heimlich wilde Erdbeeren auf einen Grashalm fädeln?

Als Regisseur Olle Hellbom und das Filmteam nach Visby kamen und kleine Statisten suchten, mussten die Kinder nicht lange überlegen, was sie in ihren Ferien anfangen wollten. Dabei sein war alles, sagt bis heute jeder, der dabei war.

Was hätte ich darum gegeben, ein Mal auf diesem Pferd zu reiten, in dem rauchenden Backofen Pfefferkuchen zu backen, über Tische und Bänke zu toben, an der Lampe zu schaukeln.

Eines dieser Kinder sein!

Nicht Pippi. Nein, niemals Pippi. Wer war schon so frech, stark und mutig? Vorlaut, das bekam ich noch hin, aber derart furchtlos? Nein, das war ich nie.

Natürlich beneidete ich die Piratentochter um ihre scheinbar endlosen Ressourcen von Süßigkeiten und Gold und ihre Souveränität, doch um deren Kehrseite beneidete ich sie nicht. In all der lauten Schrägheit nahm ich auch schon als Kind deutlich eine flächige, blasse Leerstelle wahr – eine unleugbare tiefe Verlassenheit, die große Ähnlichkeit hatte mit dem namenlosen Gefühl, das mich manchmal nachts unversehens überfiel und knebelte –, und das machte mir Angst. Im Licht der auf- und untergehenden Sonne war und blieb Pippi, das wusste ich, eine Insel. Frei, aber allein.

In mir wohnte vielmehr eine Bedenken tragende Annika, mit Socken in den Sandalen und farblich zur Hose passenden T-Shirts, die das verrückte Dasein, das Pippi kreierte, gerne teilte, aber abends lieber wieder ins sichere Zuhause ging und sich die Ohren wusch.

Die meisten anderen wollten Pippi sein. Behaupteten sie.

Traumtänzer, Hochstapler, Angeber! Niemand kann Pippi sein!

Niemand außer der kleinen Inger Nilsson, die als Neunjährige ganz freimütig und unbedarft einer Kunstfigur ihr Gesicht lieh und es niemals mehr zurückbekam. Ihr Lächeln, ihre Grübchen gehören einer anderen, seit über fünfzig Jahren schon. Ein Leben hinter einem entfremdeten Gesicht, wie muss das sein?

Ich bin es! Inger! Ich bin Inger, Inger, Inger Nilsson!, ruft sie allmorgendlich in den vom Duschen beschlagenen Spiegel, doch sobald sich der Nebel lichtet und das Spiegelbild langsam auftaucht, verhöhnt es sie, und die Welt straft sie Lügen, kaum dass sie das Haus verlässt, und erwidert erbarmungslos: Ich kenne keine Inger. Du bist Pippi. Wer sonst sollte denn Pippi sein? Du trägst doch ihr Gesicht!

 

Und Inger senkt den Kopf und wünscht sich ein neues Antlitz, eine neue Chance.

Doch von dieser späteren Verzweiflung wusste sie damals nichts, als sie das Casting gewann. Obwohl sie eher ängstlich und schüchtern war, ließ sie sich wieder und wieder von der aggressiven Meerkatze bepinkeln und kratzen; sie lernte reiten, zungenbrechende Worte und komplizierte Sätze und schwamm eine Weile zu Recht ganz oben auf der schäumenden Woge der Begeisterung und des Erfolgs, des noch unbekannten, lockenden Ruhms, der öffentlichen Liebe, die ihr – also Pippi – entgegengebracht wurde.

Ein Sommermärchen.

Kaum war die letzte Klappe gefallen, verließ das Filmteam die Insel ebenso plötzlich, wie es sie eingenommen hatte; das Rampenlicht, das ganz Visby – seine brave Stadtmauer, seine Gassen, seine Häuser, seine Menschen – kurios in Szene gesetzt hatte, erlosch, und alles war wieder nur Stein und Alltag.

Und das Haus an der Visborgsslätt? P18?

Grell geschminkt und äußerlich herausgeputzt, stand es am Waldrand und wusste nicht, wohin mit sich.

Die Frau mit dem Hund winkt mir nicht zurück, sie geht einfach weiter durch froststarren Laubwald, der vorgibt, sich an nichts mehr zu erinnern.

Hat sie denn noch nie nach Spuren ihrer Kindheit gesucht? Hat sie noch nie gedacht, sie könnte etwas aufspüren, das ihr einmal sehr wichtig war? Hat sie noch nie gehofft, im Nachhinein etwas von sich zu begreifen und sich selbst dadurch ein bisschen näherzukommen? Etwas, das ganz am Anfang in ihrem dicken Gedächtnisbuch steht – diese ersten Seiten, die, auch wenn sie nicht mehr so gut lesbar sind, entscheidend waren für die Richtung ihrer Geschichte.

Ich winke noch ein bisschen weiter. Nicht mehr ihr, sondern der Zeit, dem Haus. Wie die Kinder damals.

Sie winkten, oder sie standen einfach da; an der Hand ihrer Eltern, mit offenen Mündern, schauten zu, wie die Villa Villekulla sich langsam von der Erde hob; dieses kunterbunte Haus, in dem sie eben noch so viel Spaß hatten, es knackste und quietschte und krachte im Gebälk, als wollte es aufgeben und auseinanderbrechen, zu alt für Abenteuer. Zu müde. Doch es hielt, es schwebte, dreißig Zentimeter über dem Boden vielleicht. Wer bitte hatte so etwas je gesehen? Ein schwebendes Haus?

Applaus brandete auf, Hurra! Hurra!, als es sich in Bewegung setzte.

Es begann zu schneien, leise und tanzend, während das Unfassbare passierte: Das Haus zog um.

Im Schildkrötentempo verließ es seinen Grund, den Ort, an dem es jahrzehntelang gestanden hatte; die Leitungen wie Wurzeln gekappt, nichts hielt es mehr hier.

Der kluge Geschäftsmann Kronefalk hatte es nach Ende der Dreharbeiten gekauft und vor dem Abriss bewahrt; er hatte andere, größere Pläne.

Die Lkws und Raupen keuchten unter der Last, die sie schleppten, und alle Zuschauer liefen mit, begleiteten dieses seltsame Ungetüm; zwei Kilometer, drei Kilometer, dann war das Ziel, dann war die Zukunft, dann war der Vergnügungspark Kneippbyn erreicht, wo die Villa Villekulla von nun an zum Erlebnis für jedermann werden sollte. Alle, Groß und Klein, trallallalla, lad ich zu mir ein.

Ein Riesenkrake erhebt sich aus einem hochpeitschenden Meer, um Schiffe und Menschen zu verschlingen, gleich nebenan reißt eine Schlange ihr Maul so weit auf, dass ganze Achterbahnzüge in ihrem Schlund verschwinden könnten – doch nichts dergleichen passiert. Im Novemberlicht, wenn keine bunten Lampen blinken, keine Musik aus den Lautsprechern gellt und niemand da ist, der sich fressen lassen oder gruseln könnte, niemand außer mir und ein paar Bauarbeitern, dann bleiben die wildesten Tiere zahnlose Sperrholztiger.

Das Sommerland ist eingewintert.

Ich gehe durch die Stille der ruhenden Fahrgeschäfte und geschlossenen Attraktionen, und obwohl ich gerade das Morbide und Brüchige so mag, beschleicht mich ein trauriges Wurstelprater- und Reeperbahngefühl: Wie wenig Vergnügen den Dingen selbst anhaftet, wenn kein amüsierwilliger Gast da ist.

Ich bin zu früh.

Hüpfend bewege ich mich vor der Rezeption auf und ab, während ich auf Bobbo warte, den König über diese Insel der Kurzweil. Hüpfend überlege ich mir Antworten auf die üblichen Fragen nach meiner Arbeit, eine überzeugende Begründung für mein Ansinnen, mitten im Winter Pippis Haus besichtigen zu müssen. Hüpfend bemerke ich, halb verdeckt von einem hohen Zaun und einem Hamburgerrestaurant im Diner-Stil, die unverkennbare Dachformation von P18. Zweifel macht sich breit.

Bobbo fährt mit dem Auto vor, reicht mir aus dem Fenster eine warme Hand.

Mein Herz klopft bang, als er kurz darauf mit einem mächtigen Schlüsselbund das Tor öffnet. Er fragt mich nichts. Wahrscheinlich weiß er auch so, was ich hier suche.

Sommer. Wochen wie ein einziger endloser Tag, sirrend von dicken schwarzen Brummern und jener süßen Langeweile, die nichts anderes ist als die missverstandene Freiheit, nichts zu tun, unterbrochen allein vom täglichen Betteln ums Kinderferienprogramm, dem ein, höchstens zwei Mal in der Woche – mehr ist ungesund – gnädig nachgegeben wird: Ausnahmsweise. Aber nur ein Film, dann ist Schluss!

Ich knie auf dem beigefarbenen Teppichboden in unserem Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat.

Magische Bilderwelt. Alles ist so echt, so nah, so wahrhaftig.

Die Mattscheibe ist noch schwarz (einen schemenhaften Moment lang sehe ich darin mein Spiegelbild von damals, offene Augen, weite Pupillen, und hinter mir das dunkelgrüne Cordsofa und dahinter den Durchgang ins Esszimmer und darin den Hund), da ertönt ein durchdringender, unverkennbarer Drehleierton. Vier Mal der gleiche, dann setzen gut gelaunte Streicher ein und kurz darauf die hohe Singstimme der kleinen Eva Mattes.

Zwei mal drei macht vier, widdewiddewidd, und drei macht neune.

Ich kann noch nicht rechnen, gehe ja noch nicht zur Schule, erst nach dem Sommer, aber ich will, ja, ich widdewiddewill es dringend lernen!

Ein rotzopfiges Mädchen, das ohne Sattel auf einem ziemlich großen Pferd an einer Stadtmauer entlangreitet, kommt ins Bild. Close-up auf ihr Gesicht. Sie blinzelt neugierig in die Sonne, während dicht neben ihrer Wange der Kopf einer kleinen Meerkatze auftaucht. Klappklapp, klappklapp, machen die Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster, und alle auf den Straßen sehen ihr nach. Ich auch. Ich bin schon mittendrin.

Meine Knie brennen, so aufgeregt rutsche ich auf dem Teppich hin und her.

Geh nicht so dicht ran, mahnt meine Mutter im Vorbeigehen, und dann bleibt sie hinter mir stehen und schaut still eine Weile selbstvergessen mit.

Doch ich kann gar nicht dicht genug dran sitzen, will am liebsten hineinkriechen in die Flimmerkiste und mit all den Kindern spielen, die dort drinnen wohnen. Will ihnen zu Hilfe eilen und sie warnen, wenn Gefahr aus einem Hinterhalt droht, wenn ich Dinge sehe, die ihnen entgehen – warum hört mich auch niemand, wenn ich doch: Achtung, hinter dir!, rufe?

Wie ich das Fernsehen liebte.

Es brachte meine ausgeprägte Sucht nach Geschichten auf eine neue Ebene. Neben dem täglich Vorgelesenen und dem abendlich Erzählten, dessen Protagonisten ohnehin den Großteil meiner Gedankenwelt bevölkerten, setzten sich die bewegten Bilder, Stimmen und Erkennungsmelodien zu unwiderstehlichen Lebenswelten zusammen, die ich nicht immer von meiner eigenen unterscheiden konnte. Und wollte.

Ich baute in meinem Kopf Paläste, Burgen und Häuser der Erinnerung für sämtliche Fernsehhelden meiner Generation. Pippi, Michel, die rote Zora, Silas, Timm Thaler, Luzie und Pan Tau. Sichere Räume, in denen sich nichts veränderte, wo die Parameter, die Bedingungen und das Wetter verlässlich dieselben blieben. Genau wie ich und die Kinder auf dem Zelluloid.

Komm rein, sagt Bobbo und tritt vor mir durch die Tür im Zaun.

Da ist das Haus. Bekannt und fremd.

Blickt mir ruhig aus seinem eingezäunten Gehege entgegen, wie ein altes Tier im Zoo. Umringt von Zuschauertribüne, Restaurant und Piratenschiff steht es da und ist ganz das Gegenteil von anarchischer Freiheit.

Ich hätte es lieber drüben im Wald gefunden. Wild.

Bobbo schließt die Haustür auf.

Voilà, sagt er, und sein Tonfall meint nicht die Villa Villekulla, sondern alles andere. Voilà deine Erinnerung, voilà deine Illusionen, voilà der lang verlorene Teil von dir, voilà dein alter Traum. Voilà, da guckst du.

Das Kind macht große Augen, als es den Fuß über die Schwelle setzt. Ist bereit zu staunen, zu glauben.

Es ist alles da, wo es hingehört.

Auf der Hutablage liegt der große alte Taucherhelm, im bekannten Bett – die Füße auf dem Kissen, die Decke über den Kopf gezogen – Pippi. Im Halbdunkel gehe ich langsam durch die Räume. Esszimmerstühle, Schrank und Sofa, Lampe. Ich erkenne die Dinge genau wieder, lasse die Fingerspitzen vorsichtig über die Wände streichen, gebe dem Schaukelstuhl einen leichten Schubs und bemerke vor lauter Bestätigung den Durchzug in meinem Kopf nicht.

Eine Tür geht auf und eine andere fällt zu. Es ist alles zum ersten Mal da und gleichzeitig für immer weg.

Nicht eine Sekunde der Pippi-Langstrumpf-Filme wurde im Haus gedreht. Sämtliche Innenszenen sind Studioaufnahmen aus Stockholm.

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