Axel Hacke
Das Beste aus meinem Leben
Mein Alltag als Mann
Verlag Antje Kunstmann
Für Ursula und David
»Bügäln!« 5
Findst du mich denn gar nicht bello? 8
Ein Kühlschrank hat Angst 11
Eine plötzliche Erkrakung 14
Leider nein 17
Blau macht mich so blass 20
Als ich die Bademeisterin fraß 23
Woher kommen die Buchstaben? 26
Wurst 29
Vorhangstangen sind eigentlich doch schön 32
Quauteputzli 35
Hoffentlich behandeln sie uns gut 37
Nachrichten aus dem Flachland 40
Schill und Schiller 43
Na denn 46
Verspannt in alle Ewigkeit 49
Sieht denn keiner uns’re Qual? 52
Können Kühlschränke lieben? 55
Und wo sind die Pinguine? 58
Wegschmeißer und Behalter 61
Wie darf ich es dir machen? 64
Wie fragt man eine Mailbox ab? 66
Versuch über die Müdigkeit 69
Das Geräusch der Unordnung 72
Das Geheimzahlengrab 75
Als ich meinen Kühlschrank küsste 78
Eland 81
Warum ich keine Katze bin 84
Absturz 87
Der Wörterhändler 90
Ich habe das Grauen gesehen! 93
Jesus Beuys 96
Der Große Gesundheitsberater 99
Mach ma dodici 102
Von Wheelmäusen und Menschen 105
Watte hatte ich da 108
Kino, Kino 111
Der Erlediger 114
Mein Leben bringt mich um 117
Der neue Schrank 120
Geldsaft 123
Warum ich das Grillen hasse 126
Eine kleine Herde von Maschinen 129
Große Männer – kleine Männer 132
Falsche Schlangen 135
Wozu ich da bin 138
Servierpolizei 141
Ich kotz’ gleich 144
Ein schimmelblauer Gorgonzola GTI 147
Amerika 150
Von Opti- und Pessimisten 153
Der riesengroße Wahnsinnsstreit 156
Orlando, der Vielfache 159
Wie man glücklich wird 162
Nur einfach mal wohnen wollen 165
Ein Taxifahrerquäler gesteht 168
Reist Herr Hacke in den Süden 171
Wutbomben und Liebesraketen 174
Entscheidungsschwach, ach! 177
Was nach dem Tod kommt – und was davor 180
Männer und Frauen 183
Die Macht der Gewohnheit 186
Die Christbaumkugel 189
Bosch, mein weißer Bruder 192
Als ich auf dem Balkon wohnte 195
Ochsenkäse 198
Cool 201
O Speichelsteinpein! 204
Als es noch Fahrstuhlführer gab 207
Der neue Bademantel 210
Die Liebe in den Sümpfen des Alltags 213
Wollte mich nur mal melden 216
Deutschalienisch 219
München: exuberant, vibrant, tranquil 222
Mein kleines gelbes Schicksal 225
Ein Mann ohne Geruch 228
Können Kühlschränke träumen? 231
Doktor Leibtrost 234
Warum ich Buffets nicht mag 237
Die große Suche 240
Der Feuertopf 243
Der Aldiwagen 246
Malcolm, you sexy thing! 249
Wein oder Nichtwein 252
Das Beratungstaxi 255
Achtung! Huch! Buch! 258
Wenn man im »Roten Ochsen« isst 261
Ich sehe was, was du nicht siehst 264
Der Trainer 267
Vom unaufhaltbaren Vordringen des Apostroph’s 270
Aus wessen Schoß geht das Eis hervor? 273
Wenn es weihnachtet 276
»Sie sind ja sooo wichtig! 279
Wenn du dann noch lebst… 282
Manchmal wache ich nachts auf, der Rücken tut mir weh, ich bin steif wie ein Brett und schweißgebadet und denke, ich schaffe es alles nicht, die viele Arbeit und die Familie und die ganze Verantwortung und das Geldverdienen – ich schaffe es nicht.
Warum kann ich nicht einen Schreibwarenladen haben, denke ich dann, einen kleinen Schreibwarenladen, in den die Leute hereinkommen und aus dem sie wieder herausgehen? Dazwischen kaufen sie etwas und lassen dafür ein bisschen Geld da, und ansonsten herrscht Ruhe. Oder warum besitze ich nicht eine Heißmangel, wo es den ganzen Tag nach frischer Wäsche riecht, und abends um halb acht sperrt man zu und geht nach Hause, und Schluss und Tagesschau?
Das sei ja wohl nicht mein Ernst, sagt Paola dann zu mir: Was wüsste ich denn von den Problemen der Schreibwarenverkäufer und Heißmangelbesitzer!? Ich solle nicht immer nach Sicherheit und Ruhe suchen im Leben, sagt sie, ich solle es endlich einmal als Herausforderung sehen. »Das Leben«, rief sie einmal nachts, »ist ein Abenteuer.« Dann nahm sie mich in den Arm und tröstete mich und sagte, ich würde es schon schaffen, alles.
Manchmal wache ich auf, weil mein Sohn schreit, Luis. Er ist gerade zwei Jahre alt, und dann und wann wird er wach und ist ganz verschwitzt und schreit einfach so, und dann und wann schreit er auch nicht einfach so, sondern er schreit: »Bügäln!«
Es hört sich vielleicht komisch an, aber Bügeln ist seine Lieblingsbeschäftigung, jedenfalls das, was er für Bügeln hält. Man holt das Bügeleisen aus dem Flurschrank und das Bügelbrett dazu, und dann bügelt er mit dem kalten Eisen ein Stück Stoff, immer das gleiche Stück Stoff, täglich ungefähr hundertmal.
Neulich ist er mitten in der Nacht aufgewacht und hat »Bügäln!« gebrüllt, und Paola ist zu ihm gegangen, um ihn wieder in den Schlaf zu singen, aber er wollte nicht in den Schlaf gesungen werden. Er wollte bügeln und brüllte »Bügäln!«. Paola sagte, er könne jetzt nicht bügeln, es sei drei Uhr in der Früh, alle Menschen schliefen. Aber er schrie »Bügäln! Bügäln! Bügäln!«, stand in seinem Kinderschlafsack in seinem Bett, rüttelte an den Gitterstäben, weinte – ein kleiner, verzweifelter Mann, der bügeln musste und nicht konnte. Sein Kopf wurde rot, der ganze Mensch wurde Kopf, ein großer, runder, roter, geschwollener Kopf auf einem Schlafsack, ein Kopf, in dem ein einziger entzündeter Gedanke schmerzte, und dieser Gedanke war:
»Bügäln!«
Es half nichts. Paola nahm ihn aus dem Bett, holte das Bügelbrett aus dem Flurschrank und das Eisen dazu, und der Kleine bügelte voller Eifer auf dem üblichen Stückchen Stoff herum.
Wissen Sie, manchmal stelle ich mir vor, dass auch der Bundeskanzler Kohl nachts hochschreckt und verzweifelt in seinem Bett liegt und schwitzt. Oder dass er auf der Matratze steht und »Regierän!« brüllt. Seine Frau sagt dann zu ihm, er könne jetzt nicht regieren, es sei tief in der Nacht. Aber er brüllt weiter: »Regierän!« Dann resigniert sie, geht mit ihm ins Kanzleramt, er setzt sich ein bisschen an den Schreibtisch und regiert eine Viertelstunde. Darauf bringt ihn seine Frau ins Bett, er sinkt wieder in die Kissen und schläft entspannt ein. Oder ich bilde mir ein, Schummel-Schumi-mit-dem-großen-Kinn rufe im Schlaf »Rennenfah’n!«, gehe in die Garage, setze sich in sein Auto und spiele eine Viertelstunde lang Formel 1, bis ihn seine Frau wieder ins Bett bringt.
Na ja, so ist es wohl mal wieder nicht, aber die beiden wären mir sympathischer, wenn es so wäre.
Was nun den kleinen Luis angeht, so standen Paola und ich eine Viertelstunde lang um ihn herum, während er bügelte, gähnten und dachten, wie merkwürdig doch das Leben sein kann, so merkwürdig, dass es Menschen gibt, die nachts um halb vier um ein bügelndes Kleinkind herumstehen und sagen:
»Fein machst du das! Schön bügelst du!«
Nach einer Viertelstunde hatte er genug. Paola nahm ihn auf den Arm, wir brachten ihn ins Bett, und ich dachte noch, vielleicht macht er ja mal eine Heißmangel auf, er hätte es im Blut. Möglicherweise, dachte ich noch, wird er ja auch Bundeskanzler oder Rennfahrer oder Journalist oder irgendetwas, das ich mir gar nicht vorstellen kann.
Ich flüsterte ihm ins Ohr:
»Du schaffst das schon, alles. Das Leben ist ein Abenteuer!«
Paola sah mich kurz an, gab ihm einen Kuss, sah mich wieder an und fragte müde:
»Was hast du gerade gesagt?«
Wissen Sie, wer mir vollkommen wurscht ist? Alain Delon ist mir vollkommen wurscht.
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie egal mir Alain Delon ist.
Alain wer? ist? das? überhaupt?
Die neue zweite Kraft bei »Serge, le Coiffeur« in der Sendlinger Straße? Der Favorit im dritten Daglfinger Rennen? Ein Deodorant-Stift von Gillette?
Kann mich nicht erinnern.
Einmal kam ein junger Bursche in die Bar des italienischen Dorfs, das wir in den Ferien immer besuchen. Er war anscheinend nicht aus der Gegend und fragte die verrückte Alte, die oft im geblümten Kittel am einzigen Tisch sitzt, ob er sich setzen dürfe, und sie sagte:
»Wenn du Alain Delon wärst…«
»Was wäre dann?«
»Wenn du Alain Delon wärst, dann würde ich mir das Gebiss rausnehmen und dir einen…« (Entschuldigung, für das letzte Wort hat leider mein Italienisch nicht gereicht.)
Toll, was Alain Delon für Frauen haben kann, was?
Na, wie gesagt, mir ist er egal.
Wie komme ich überhaupt auf seinen Namen?
Ich komme darauf, weil ich sehr oft zusammen mit der Frau meines Lebens Filme anschaue, sagen wir, nur ein Beispiel, Die Farbe des Geldes mit Paul Newman. Wir sitzen zusammen auf dem Sofa, und ich schaue und schaue, und Paola schaut und seufzt, und ich schaue zu ihr, und sie schaut zu Paul Newman und seufzt, und ich schaue wieder auf den Bildschirm, und sie auch und seufzt, und ich schaue wieder zu ihr, und sie seufzt, den Blick auf Paul Newman gerichtet. Und ich frage:
»Was seufzt du eigentlich dauernd so?«
Und sie seufzt.
»Sag’s ruhig«, sage ich ruhig, »kannst es ruhig sagen.« Und sie seufzt.
»Ach«, sagt sie dann seufzend und schaut mich an, als Paul Newman einmal kurz nicht auf dem Bildschirm zu sehen ist, »wie souverän er ist…«
Und ich seufze.
Dann nehme ich meine Rhett-Butler-Maske aus dem Schrank, tanze ein paar Schritte durch das Zimmer und singe das Lied aller Männer, die mit ihrer Frau zusammen Filme anschauen:
»Bin nicht Brad, bin nicht Pitt,
bin nur Du-hu-hurchschnitt.
Bin nicht Al, nicht Pacino,
sitz nur neben dir im Kino.
Bin nicht Redford, nicht Marcello –
findst du mich denn gar nicht bello?«
Klasse, oder? Aber jetzt hören Sie den Refrain:
»Bin nicht Clark, bin nicht Gable,
aber ich hab’ einen Faible:
für dich!
Bin nicht Cary, bin nicht Grant,
aber mein Herz, das brennt:
für dich!«
Jedenfalls ist es besser, als es zu machen wie mein Onkel Heinz. Vor vielen Jahren sah meine Tante Elma einmal Omar Sharif in Doktor Schiwago. Wochenlang sprach sie bei jeder Gelegenheit von Omar, seiner Leidenschaft und Männlichkeit, so lange, bis der Onkel mit rotem Kopf in den Keller rannte, sich eine Axt holte und im Garten eine mittelgroße Tanne fällte, bei jedem Hieb brüllend: »Doktor Schiwago! Doktor Schiwago!«
Das ist lange her. Onkel Heinz ist schon tot, Tante Elma lebt bei ihrer Tochter und den Enkeln, und Omar ist wahrscheinlich auch schon Opar.
Wie hieß jetzt noch mal dieser Typ, der mir völlig schnuppe ist?
Richtig: Alain Delon. Was also nun Alain Delon angeht, so hatte ich kürzlich einen kleinen Streit mit meiner Frau, in dessen Verlauf ich mich sehr erregte, zu allerlei Unverschämtheiten verstieg, schließlich sogar das Haus verließ, um in einem Lokal in der Nähe zu trinken, dann zurückkehrte, mich weiter in der Wortwahl vergriff, bis Paola mich schließlich anschrie:
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Alain Delon, oder was?«
Gut, dass mir ausgerechnet Alain Delon so total gleichgültig ist.
Ich saß mal wieder nachts in der Küche und starrte aus dem Fenster in den Hinterhof und auf das gegenüberliegende Haus, in dem gerade das letzte Licht hinter einem Fenster im vierten Stock erloschen war. Es war die Stunde, in der ich mich oft mit Bosch unterhalte, meinem sehr alten Kühlschrank und Freund. Ich trank Rotwein.
»Ich hätte auch gerne mal Rotwein«, sagte Bosch. »Nie stellst du Rotwein in mich rein.«
»Rotwein ist nichts für Kühlschränke«, antwortete ich, »und Kühlschränke sind nichts für Rotwein.«
Sein Motor brummte ein bisschen mürrischer als sonst, und ich fügte hinzu: »Ich habe gelesen, dass es bald Kühlschränke mit eingebautem Computer geben wird. Sie werden an das Internet angeschlossen und können selbständig im Supermarkt Nachschub bestellen, wenn keine Butter mehr da ist oder keine Erdbeermarmelade. Und wenn das Verfallsdatum der Milch abgelaufen ist, bestellen sie auch Milch. Solche Kühlschränke könnten sich auch selbst Rotwein kommen lassen.«
»Und wie kommt die Butter dann hierher und der Wein?«, fragte Bosch.
»Ein Bote bringt sie«, sagte ich.
»Schade«, sagte Bosch. »Es wäre doch schön, wenn die Kühlschränke auch selbst einkaufen gehen würden. Sie könnten in die Geschäfte gehen und Butter, Milch und Marmelade holen, und an der Kasse würden sie ihre Tür öffnen, und die Kassiererin könnte gleich alles in ihren Leib hineinstellen. Sie bräuchten nicht einmal einen Einkaufskorb.«
»Aber wie willst du in den Supermarkt kommen?«, fragte ich. »So ein langes Elektrokabel gibt es nicht.«
»Man bräuchte halt einen Akku, der sich auflädt und zwei, drei Stunden hält«, sagte Bosch. »Ich habe gehört, dass es Akkus gibt. Der kleine Black & Decker hat es mir erzählt, der Tischstaubsauger, weißt du. Er hat selbst einen Akku.« Er seufzte. »Man würde auch mal andere Kühlschränke kennenlernen. Wir könnten uns beim Einkaufen treffen und über alles reden. Ich habe gehört, dass es auch Kühlschränke gibt, die Siemens heißen oder Liebherr. Und ich würde so gerne mal in ein Geschäft gehen und selbst einkaufen. Ich war noch nie in einem Geschäft, außer in dem Laden, in dem du mich gekauft hast, damals.«
Ich machte seine Tür auf, um mir ein Stück Käse zu nehmen. Er atmete mich kühl an, wie immer, aber irgendwie kam es mir vor, als leuchte er besonders hell, wenn er so erzählte. Er hat ja wirklich nur mich zum Reden und ein paar Elektrogeräte in der Küche. Aber die meisten mag er nicht: Der Herd sei ein Idiot, sagt er immer, alle Herde seien Idioten, und die Mikrowelle sei schon gar nicht sein Fall, ein hysterisches junges Ding, das ihn anschwärme, weil er so cool sei, immer so herrlich cool. Ich hatte auch gelesen, dass ein Professor in den USA beabsichtige, nicht mehr bloß Herzen und Lebern, sondern auch Köpfe zu verpflanzen. Eines Tages wird es soweit sein, dass man Köpfe auf Kühlschränke verpflanzt, dachte ich, und Beine wird man auch dranmachen, und dann wird so ein Bosch mit ins Wohnzimmer kommen können, wenn ich Fußball sehe, und ich muss nicht mehr aufstehen zum Bierholen. Andererseits: Wenn man manchmal gewisse Managertypen im Flugzeug sieht – vielleicht machen sie das alles ja schon längst, das mit den Köpfen auf Kühlschränken. Und wir wissen es nur nicht.
Ich war wieder zum Fenster gegangen und blickte ins Dunkel hinaus. »Ich bin schon zu alt für diese Computer und dieses Internet«, sagte Bosch leise. »Für mich kommt das alles zu spät. Manchmal fühle ich mich krank, und der Kompressor tut so weh, und ich habe Angst vor Kühlmittelkrebs.«
»Ach was«, sagte ich. »So jammerst du schon seit Jahren. Du bist noch bestens in Schuss und so schön rund, und du brummst so sonor und bist nicht so ein dämlicher, unauffälliger Einbaukühlschrank wie die anderen.«
»Du wirst mich nicht verkaufen?«, fragte er noch leiser als vorher. »Du wirst mich nicht, ähm, entsorgen, nicht wahr? Du wirst dir nicht so ein junges Internet-Ding zulegen?«
»Nie im Leben!«, rief ich. »Keiner kühlt mein Bier wie du! Und jetzt lass uns schlafen gehen!« Ich gab ihm einen Klaps auf die Tür. Er hörte auf zu brummen. Ich ging auf den Flur hinaus und zum Schlafzimmer, aber auf halbem Wege kehrte ich noch einmal zurück, nahm die angebrochene Flasche Rotwein vom Tisch, öffnete den Kühlschrank und stellte sie hinein.
Manchmal begegnet einem ein schönes, unbekanntes Wort so unverhofft, wie man bei einem Spaziergang durch den Dschungel vielleicht plötzlich einem seltenen und schillernd bunten Schmetterling gegenübersteht.
So geschah es mir, als ich vom Mittagessen in mein Büro zurückkehrte und ein Eilt!-Eilt!-Fax auf meinem Schreibtisch vorfand, abgesandt vom Sekretär des Herrn O., eines berühmten und bedeutenden Mannes, mit dem ich am nächsten Morgen verabredet war. Herr O., teilte mir sein Sekretär mit, könne unseren Termin leider nicht einhalten – und zwar »wegen einer plötzlichen Erkrakung«.
Fassungslos bedachte ich das Schicksal des O., welches so unerwartet über ihn hereingebrochen war. Eine Erkrakung! Schlimm wäre ja schon eine unvorhergesehene Erkrankung gewesen. Aber eine Erkrakung? Das klang wie etwas Unheilbares, Nichtwiederrückgängigzumachendes.
Ich stellte mir vor, wie O. noch sein Frühstück gemeinsam mit der Ehefrau verzehrte, die Hand mit der Marmeladensemmel zum Mund führte… Wie aber dann im Laufe des Vormittags aus eben dieser Hand und dem dazugehörigen Arm ein Tentakel wurde mit Saugnäpfen sonder Zahl, wie auch der andere Arm sowie die Beine sich in Fangarme verwandelten, wie der Mund zu einem Schnabel wurde, der ganze O. zu einem schleimig-weichen Polypen, ein erkrakter Mann, der seine Umgebung anstarrt »mit seinen hasserfüllten, menschenähnlichen Augen, während seine pneumatische Haut von Grau zu Violett wechselt, seine Saugorgane auf- und zuklappen, aus seinem Maul Wasserstrahlen sprudeln«, getreu Vilém Flussers Krakenbeschreibung in seinem Buch Vampyrotheutis infernalis.
Gut, dass man die Verabredung noch abgesagt hatte, dachte ich, sonst hättest du mit ihm kämpfen müssen, wie einst die Besatzung der »Nautilus« in Jules Vernes 20000 Meilen unter dem Meer mit dem Kalmar kämpfen musste. Oder du wärst von ihm verzehrt worden, wie Odysseus’ Freunde von der zwölffüßigen, sechsköpfigen Skylla verzehrt wurden, »das Ärgste von allem, was je meine Augen gesehen«, berichtete Odysseus.
Dann dachte ich an Alfred Polgars Geschichte über das Urich. Polgar blieb einmal beim flüchtigen Zeitungslesen an einem Satzstück hängen, das lautete: »…so spürt das Urich sich seiner übermächtigen Leidenschaften beraubt…« Gleich trat vor sein inneres Auge ein gewaltiges, elefantengroßes Urich mit langem, drahtigem Schweif, den es benutzte, sich selbst die Flanken zu peitschen, ein Tier mit scharfem Gebiss und tückischen Augen, gewöhnt, seine übermächtigen Leidenschaften an Hirschkuh und Gazelle, ja selbst an Löwinnen auszutoben. Nun aber schrie dieses Tier in des Autors Träumen immerzu jammervoll, es fühle sich seiner übermächtigen Leidenschaften beraubt.
Dann las Polgar den Zeitungsartikel noch einmal und entdeckte, dass dort nicht von einem Urich, sondern vom Ur-Ich die Rede gewesen war, dem reinen, der menschlichen Natur eingepflanzten Ego.
Ich nahm mir meinerseits den Faxbrief ein zweites Mal vor, sah aber, dass ich mich keineswegs verlesen hatte. Zwar hatte der Sekretär möglicherweise von der »Erkrankung« des O. Mitteilung machen wollen, geschrieben hatte er indes eindeutig »Erkrakung«. Und so sandte ich O. meine besten Wünsche an sein Krakenlager. Mit ein bisschen Krakengymnastik und einer guten Krakenversicherung werde alles schon wieder werden, schrieb ich. Aber ich weiß bis heute nicht, ob er sich wieder entkrakt hat. Weder O. noch sein Sekretär haben sich nach meinem Brief je bei mir gemeldet.
Also, wir haben hier nun zuerst einen sehr höflichen Zweijährigen, welcher anscheinend, ohne es zu wollen, in eine frühe Trotzphase geraten ist.
»Lieber Luis, hast du Hunger?«, fragt Paola.
»Leider nein«, sagt Luis.
»Möchtest du nicht eine Semmel mit Marmelade zum Frühstück?«
»Leider nein«, sagt Luis.
»Oder hättest du gerne ein paar Cornflakes?«
»Leider nein.«
»Ja, aber du musst doch irgendetwas essen!«
»Leider nein.«
Man sieht: Er bedauert sehr, dass er seinen Eltern solche Ungelegenheiten machen muss, doch die Trotzphasen kommen und gehen, da kann man nichts machen als kleiner Mensch. Aber die Zeit schreitet fort, und es liegt in der Natur von Trotzphasen, dass sie sich mit der Gewalt von Hurrikanen entwickeln. Alle Höflichkeit wird hinweggefegt, und jedes vom Trotz zermürbte, porös gewordene Leider verfliegt im Wind – auch bei diesem kleinen Herrn hier.
»Luis, schau, hier ist so schöner Griesbrei, davon musst du etwas essen«, sagt Paola.
»Nein«, sagt Luis.
»Aber wenn du nichts mehr isst, wirst du ganz dünn, hast keine Kraft und kannst nicht mehr spielen«, sagt Paola.
»Nein«, sagt Luis.
Sein Mund bildet einen dünnen Strich.
»In der Trotzphase entdeckt das Kind seinen eigenen Willen«, sage ich. »Es experimentiert damit, ohne Sinn dafür, wo es angebracht ist und wo nicht.«
»Ach ja?«, seufzt Paola.
»Pass auf!«, sage ich und nehme einen Löffel Griesbrei. »Dies hier ist ein Feuerwehrauto, und es will in die Garage: Tatütata!«
Der dünne Strich klappt auf, und das Feuerwehrauto fährt in die Garage, das erste Feuerwehrauto der Welt, das mit Martinshorn in die Garage fährt.
»Siehst du!«, sage ich zu Paola. »So macht man das. Jedes trotzige Kind kann man mit einem netten Spiel überzeugen.«
Ich nehme einen zweiten Löffel Griesbrei.
»Achtung!«, rufe ich, »hier ist noch ein Feuerwehrauto. Tatütata!«
Der Mund bleibt hart. Ich wiederhole das Tatütata. Die Garage bleibt zu. Tatütata zum dritten. Nichts.
»Kannst du es mir noch mal zeigen?«, fragt Paola lächelnd. »Ich habe es beim ersten Mal nicht gesehen.«
»Tatütata!«, rufe ich, ein letztes Tatütata.
Der Mund öffnet sich.
»Nein!«, sagt der Mund. Außerdem entquillt ihm der Griesbrei vom ersten Löffel.
»Er hat halt keinen Hunger«, sage ich.
»Nein«, sagt der Mund.
»Ich kann das Wort Nein nicht mehr hören«, sagt Paola. »Wenn ich mit ihm spazierengehe, springt er aus dem Buggy, und wenn ich ihn rufe, sagt er ›Nein‹. Wenn ich ihn wickeln muss, windet er sich auf der Kommode und schreit ›Nein!‹. Wenn ich ihm Schuhe anziehen will, macht er sich steif wie ein Brett und brüllt ›Nein!!‹. Und jetzt muss ich mit ihm in den Drogeriemarkt… Kannst du nicht mit ihm gehen?« Sie fügt leise hinzu: »Ich… schaffe… es… nicht.«
»Ich, ähm, habe eine sehr dringende Arbeit zu erledigen«, sage ich.
»Bitte!«, sagt sie.
»Also gut«, sage ich. Ich habe alle Trotzphasen hinter mir und bin gereinigt von eigenem Willen.
So mache ich mich mit Luis auf den Weg zum Drogeriemarkt. Als ich ihn in den Kindersitz des Einkaufswagens setzen will, schreit er »Nein«. Als ich ihn daran zu hindern trachte, das Regal mit der Zahnpasta auszuräumen, brüllt er »Neinnein«. Als ich ihm erkläre, er solle sich nicht mitten im Geschäft auf dem Boden wälzen, kreischt er »Neinneinnein«. Ich versuche, Babynahrung aus dem Regal zu nehmen, er öffnet währenddessen eine Packung Präservative. Ich überlege, welche Windelmarke ich nehmen soll, er versprüht derweil Glasreiniger über die Kräutertees. Ich laufe schnell zum Toilettenpapier, er untersucht den Schrank mit den teuren Pudern. Ich haste nervös wieder zu ihm, er pudert sich die Nase. Ich rutsche auf einer Dose Haarspray aus, die er auf den Boden geworfen hat, krache fallend in das Sonderangebot von Kölnisch Wasser und brülle: »Hör endlich auf damit und bleib bei mir!«
»Nein«, sagt er.
Über mir erscheint das Gesicht einer Verkäuferin. Sie sagt: »Es ist doch ein kleines Kind! Können Sie sich denn gar nicht beherrschen?«
Und ich murmele: »Leider nein.«