Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Trotz zahlreicher Veröffentlichungen bleibt die Befundlage aus forschungstheoretischer und empirischer Sicht lückenhaft (vgl. dazu Bohlinger, 2002b; Jasper, Richter, Haber & Vogel, 2009; Lamamra & Masdonati, 2009; Uhly, 2015; Vock, 2000). Auftragsbasierte Evaluationsstudien, die nach wie vor das Feld dominieren, stellen meist keinen expliziten Theoriebezug her und sind in der Regel querschnittlich angelegt. Häufig werden Lernende und Betriebe kurz nach der Vertragsauflösung befragt. Auch forschungsbasierte Studien berücksichtigen meist nur eine kurze Phase im Ausbildungsverlauf der betroffenen Lernenden. Sie stützen sich u. a. auf erziehungswissenschaftliche, entwicklungspsychologische, berufspädagogische, soziologische oder bildungsökonomische Ansätze. Studien, die Lehrvertragsauflösungen aus organisationspsychologischer Sicht betrachten, sind bisher rar (z. B. zur Bedeutung des Organisationsklimas vgl. Forsblom, 2015). Im Fokus vieler Evaluationen und Forschungsarbeiten stehen nach wie vor die Ursachen für die Lehrvertragsauflösung. Im Gegensatz dazu sind insbesondere die langfristigen Konsequenzen von Vertragsauflösungen kaum erforscht und es liegt bisher keine Studie vor, die den Ausbildungserfolg nach vorzeitigen Vertragsauflösungen untersucht. So fehlt ein theoretischer Rahmen, der nicht nur erklärt, wie und warum es zu Lehrvertragsauflösungen kommt, sondern auch, unter welchen Bedingungen es Jugendlichen gelingt, nach der Vertragsauflösung eine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II zu finden und einen Berufsabschluss zu erwerben.

Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Forschungslücke an. Im Zentrum stehen die Fragen, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden und welche Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Lernenden hat. Ursachen und Konsequenzen von Vertragsauflösungen werden in ein theoretisches Rahmenmodell gefasst, das sich an passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretischen Ansätzen der Organisationspsychologie orientiert (Allen, Bryant & Vardaman, 2010; Bauer & Erdogan, 2011; Kristof-Brown, Zimmermann & Johnson, 2005; Saks & Gruman, 2012). Mit der Wahl organisationspsychologischer Ansätze wird berücksichtigt, dass die betriebliche Ausbildung in reale Arbeitsprozesse und organisationale Abläufe eingebettet ist, in denen Lernende und Berufsbildende nicht nur Auszubildende bzw. Ausbildende, sondern auch Mitarbeitende bzw. Vorgesetzte sind. Kernelement des Modells ist die Passung der Lernenden zum Beruf und zur Ausbildung in Betrieb und Berufsfachschule. Eine ausreichende Passung zwischen den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Lernenden und den Anforderungen der betrieblichen und schulischen Ausbildung ist eine wichtige Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lehrvertragsauflösungen sind als Konsequenz einer ungenügenden Passung zu verstehen – eine gelingende Neuanpassung als Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lernende und Betriebe tragen gemeinsam dazu bei, dass bereits vor Lehrantritt eine gute Passung besteht und dass diese nach Lehreintritt aufrechterhalten und gefestigt werden kann. Aus der Perspektive organisationspsychologischer Ansätze ist eine fehlende Passung insbesondere auf eine mangelhafte Berufs- und Organisationswahl, eine unzureichende Selektion der Lernenden durch die Betriebe oder eine schlechte Ausbildungsqualität in Betrieb und Schule zurückzuführen.

In Anlehnung an die Literatur zu Berufs- bzw. Laufbahnerfolg werden in der vorliegenden Arbeit objektive und subjektive Kriterien beigezogen, um Ausbildungserfolg zu messen (Arthur, Khapova & Wilderom, 2005; Ng, Eby, Sorensen & Feldman, 2005). Als objektiver Indikator wird der Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung auf der Sekundarstufe II untersucht. Dieser ist zur sozialen Norm geworden und gilt als notwendige Bedingung für den erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben und für die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen (OECD & the Canadian Policy Research Networks, 2005). Als subjektive Indikatoren werden die Ausbildungszufriedenheit und die Verbundenheit mit dem Betrieb nach dem Wiedereinstieg in eine Sekundarstufe-II-Ausbildung betrachtet (vgl. Ng & Feldman, 2014). Subjektive Indikatoren von Laufbahnerfolg berücksichtigen, dass Erwerbstätige bzw. Lernende ihre Ausbildungs- und Berufslaufbahn selbst evaluieren und individuell unterschiedliche Kriterien verwenden, um «Erfolg» einzuschätzen (Arthur et al., 2005). Laufbahnerfolg wird dabei nicht nur aufgrund der aktuellen Arbeitstätigkeit erfasst, sondern auch in Abhängigkeit vom Ausbildungs- und Berufsverlauf betrachtet (Gunz & Mayrhofer, 2011). Subjektive und objektive Kriterien von Ausbildungserfolg können miteinander übereinstimmen, müssen es aber nicht zwingend, beispielsweise dann, wenn Jugendliche zwar einen Ausbildungsabschluss erreichen, dieser aber nicht ihrem Wunsch entspricht (vgl. dazu Dette et al., 2004).

Datengrundlage ist das Längsschnittprojekt LEVA (Lehrvertragsauflösungen im Kanton Bern), das von 2004 bis 2008 an der Erziehungsdirektion des Kantons Bern durchgeführt und von 2009 bis 2015 an der Universität Neuenburg und der PHBern fortgesetzt worden ist. Zur Erklärung von Lehrvertragsauflösungen und deren unmittelbaren Konsequenzen wurde ein Mehrperspektivendesign mit einer Befragung von Lernenden und ihren (ehemaligen) Berufsbildenden eingesetzt. Dieser Zugang erlaubt es, das Bedingungsgefüge von Lehrvertragsauflösungen aus der Perspektive verschiedener Akteure zu betrachten (vgl. zur Kritik an der einseitigen Fokussierung auf die Sicht der Lernenden Anbuhl & Gießler, 2012; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Stamm, 2012). Der Ausbildungsverlauf nach der Lehrvertragsauflösung und der Ausbildungserfolg wurden längsschnittlich untersucht. Die Beobachtungsdauer von zehn Jahren ermöglicht es, nicht nur unmittelbare Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen zu prüfen, sondern auch mittel- und langfristige (z. B. Wiederaufnahme der Ausbildung nach langer Unterbrechung, Ausbildungsabschluss, Wiederherstellung des Wohlbefindens).

Das vorliegende Buch stellt ausgewählte, in Projektberichten erschienene Resultate zum Projekt LEVA zusammen (Moser, Stalder & Schmid, 2008; Schmid & Stalder, 2007, 2008a; Stalder & Schmid, 2006a) und vertieft bisherige Ergebnisse zu Entstehungsbedingungen und Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen (Schmid, 2008, 2010, 2012; Schmid & Stalder, 2012; Stalder, 2011a; Stalder & Schmid, 2012a). In Kapitel 2 werden passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretische Ansätze beschrieben, die die theoretische Grundlage für die Arbeit bilden. Die Ansätze werden in Kapitel 3 auf den Kontext der beruflichen Grundbildung übertragen und im Zusammenhang mit Lehrvertragsauflösungen und späterem Ausbildungserfolg erörtert. Das Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» und die Daten des Projekts LEVA werden in Kapitel 4 beschrieben. Ergebnisse zu den Entstehungsbedingungen von Lehrvertragsauflösungen, zum Entscheidungsprozess, zum Wiedereinstieg und zum erfolgreichen Berufsabschluss werden in Kapitel 5 präsentiert und in Kapitel 6 diskutiert.

«Chaque cas est un cas particulier», schrieb Bernard Müller (1993, S. 4) treffend in seiner Waadtländer Studie zu Lehrvertragsauflösungen. Dies illustrieren die Porträts betroffener Lernender, die die empirischen Ergebnisse exemplarisch ergänzen, in aller Deutlichkeit. Darin kommen junge Frauen und Männer zu Wort, deren Lehrvertragsauflösung bis zu zehn Jahre zurückliegt. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte, erklären, welche Gründe aus ihrer Sicht zur Vertragsauflösung geführt haben, wie sie und ihr Umfeld damit umgegangen sind und wie es nach der Vertragsauflösung weitergegangen ist. Alle Namen der porträtierten Personen sind geändert.

2 Passung, Sozialisation und Fluktuation

In diesem Kapitel werden passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretische Ansätze der Organisationpsychologie vorgestellt, die die Grundlage für das Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» bilden (Allen et al., 2010; Bauer & Erdogan, 2011; Saks & Gruman, 2012; Wanberg, 2012). In Kapitel 2.1 werden verschiedene Ebenen von Passung dargestellt und es wird gezeigt, welche Konsequenzen eine gute bzw. ungenügende Passung auf arbeitsbezogene Einstellungen und das Verhalten von Mitarbeitenden hat. In Kapitel 2.2 steht die organisationale Sozialisation, das heißt, der Prozess der Anpassung im Vordergrund. Es wird erläutert, welche Faktoren proximale und distale Sozialisationsergebnisse beeinflussen und wie Mitarbeitende und Betriebe zu einer gelingenden Anpassung beitragen. Inbesondere wird auf das Kündigungsverhalten von Mitarbeitenden eingegangen, das als wichtiges Sozialisationsergebnis gilt.

2.1 Passung

Passung wird definiert als generelle Übereinstimmung zwischen einer Person und ihrer Umwelt (person-environment fit) (Edwards & Shipp, 2007; Kristof-Brown et al., 2005). Im Arbeitskontext impliziert eine gute Passung, dass die Eigenschaften von Mitarbeitenden und deren Arbeitsumwelt gut aufeinander abgestimmt sind. Dazu gehören insbesondere die Passung zwischen der Person und ihrem Beruf (person-occupation fit), der Organisation (person-organisation fit), der Arbeit (person-job fit), der Arbeitsgruppe (person-workgroup fit) und der vorgesetzten Person (person-supervisor fit) (Jansen & Kristof-Brown, 2006; Judge & Ferris, 1992; Kristof-Brown et al., 2005). Die Übereinstimmung zwischen Person und Umwelt kann dabei komplementär oder supplementär sein (Kristof-Brown et al., 2005). Bei einer komplementären Passung füllen die Merkmale einer Person eine Lücke in der Arbeitsumwelt und umgekehrt, zum Beispiel wenn eine Mitarbeiterin bzw. ein Mitarbeiter über die Fähigkeiten verfügt, die dem Stellenprofil entspricht, oder wenn der Betrieb einer Person eine Stelle anbietet, die ihrem Bedürfnis nach Weiterentwicklung entspricht. Bei einer supplementären Passung haben Person und Umwelt ähnliche Eigenschaften, zum Beispiel die gleichen Arbeitswerte oder Ziele. Die grundlegende Annahme von Person-Umwelt-Passungstheorien ist, dass eine hohe Passung zu positiven Ergebnissen führt (Chatman, 1989; Dawis & Lofquist, 1984; Holland, 1997; Wanous, 1992). Diese umfassen zum Beispiel eine hohe Arbeitszufriedenheit, eine starke Verbundenheit mit dem Betrieb, gute Arbeitsleistungen und eine geringe Fluktuationstendenz (Edwards & Shipp, 2007).

 

Ob Menschen und ihr Umfeld zusammenpassen, kann bei Mitarbeitenden direkt erfragt (wahrgenommene Passung, subjektive Passung) oder indirekt ermittelt werden (objektive Passung). Im Fall der wahrgenommenen Passung schätzen die Personen direkt ein, ob ihre Fähigkeiten, Werte oder Ziele mit dem Beruf, dem Betrieb oder der Arbeit übereinstimmen (z. B. «Meine eigenen Werte passen gut zu den Werten des Betriebs, in dem ich zurzeit tätig bin»). Von subjektiver Passung wird dann gesprochen, wenn Personen einerseits sich selbst und andererseits ihr Arbeitsumfeld einschätzen und die Passung indirekt durch einen Vergleich ermittelt wird (z. B. «Ich bin handwerklich geschickt» und «Die Tätigkeiten, die ich ausübe, verlangen hohes handwerkliches Geschick»). Bei der objektiven Passung wird die Passung über verschiedene Informationsquellen erschlossen, z. B. indem die Person zu ihren Fähigkeiten befragt und ihre Selbsteinschätzung mit einer Einschätzung durch ihre Vorgesetzten verglichen wird. Auch wenn sich die verschiedenen Messungen von Passung inhaltlich auf dasselbe beziehen, stimmen wahrgenommene, subjektive und objektive Passung häufig nur in geringem Ausmaß überein (Cable & Judge, 1997; Cooper-Thomas, Van Vianen & Anderson, 2004; Harris & Schaubroeck, 1988). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Menschen dazu neigen, Hinweise aus der Umwelt so zu deuten, dass sie ein stimmiges und positives Selbstbild aufrechterhalten können (Endler & Magnussen, 1976). Stellen Menschen zum Beispiel fest, dass die Arbeit nur schlecht zu ihren Interessen passt, sie aber trotzdem zufrieden sind, führt dies zu kognitiver Dissonanz (Festinger, 1957). Die beiden Wahrnehmungen stehen im Widerspruch zueinander, was als unangenehm erlebt wird und einen Druck erzeugt, die Dissonanz zu reduzieren. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass Personen die positiven Aspekte der Arbeit hervorheben und andere eher negative Aspekte ausblenden (Kristof-Brown & Jansen, 2007). Personen, die über eine hohe Arbeitszufriedenheit berichten, dürften damit eine hohe Passung wahrnehmen, selbst wenn diese in Realität nur mittelmäßig ist.

2.1.1 Ebenen von Passung

In der organisationspsychologischen Forschung wird hauptsächlich die Passung mit der Organisation, der Arbeit, der Arbeitsgruppe und der vorgesetzten Person diskutiert (Kristof-Brown et al., 2005). Die Passung mit dem Beruf ist Kernthema berufs- und laufbahntheoretischer Ansätze (Bergmann, 2007; Brown & Associates, 2002), findet aber auch in der Personalauswahl zunehmende Beachtung (Schuler, Höft & Hell, 2014).

Passung Person-Beruf

Die Passung Person-Beruf umfasst die Übereinstimmung zwischen den Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person und den Merkmalen und Anforderungen ihres Berufes (Vogel & Feldman, 2009). Berufe sind sozial konstruiert und umfassen objektivierte, standardisierte Bündel von spezialisierten Tätigkeiten und Kompetenzen, die von Berufstätigen erworben werden müssen und für die Ausübung des Berufs vorausgesetzt sind (Heinz, 1991; Lempert, 2006). Klassische Berufswahltheorien wie z. B. der persönlichkeitstypologische Ansatz von Holland gehen davon aus, dass Menschen ein berufliches Umfeld wählen, das ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht und dass eine hohe Übereinstimmung zwischen Interessen und Berufsumfeld zu einer hohen Zufriedenheit, guten Arbeitsleistungen und beruflicher Stabilität führt (Hirschi, 2013; Holland, 1959; Spokane & Cruza-Guet, 2005). Auch in aktuellen Laufbahntheorien, wie z. B. der konstruktivistischen Theorie der Laufbahnentwicklung (Savickas, 2002, 2005), ist die Passung ein zentrales Element. Mit der Wahl eines Berufes wird das berufliche Selbstkonzept ausgedrückt und bestätigt, was zum Erleben von Sinnhaftigkeit im Leben führt. Laufbahnentwicklung wird als kontinuierlicher und aktiver Anpassungsprozess verstanden, in dem die Passung zwischen Person und Umwelt über die Zeit der gesamten Berufslaufbahn optimiert wird (Hirschi, 2013). Zwei Metaanalysen bestätigen, dass eine hohe Übereinstimmung zwischen beruflichen Interessen und aktueller Berufstätigkeit zu höherer Arbeitszufriedenheit und einem höheren Wohlbefinden, stabilen Berufslaufbahnen und besseren Trainings- und Arbeitsleistungen führt (Assouline & Meir, 1987; Van Iddekinge, Roth, Putka & Lanivich, 2011). Eine schlechte Passung mit dem Beruf hat vor allem dann negative Auswirkungen auf die Berufslaufbahn, wenn Individuen wegen einer falschen Berufswahl längere Zeit arbeitslos sind (Feldman, 2002).

Passung Person-Organisation

Die Passung Person-Organisation umschreibt die Übereinstimmung zwischen einer Person und ihrem Betrieb. Eine hohe Passung wird dann erreicht, wenn Mitarbeitende und Betriebe in ihren grundlegenden Werten und Zielen übereinstimmen (Chatman, 1989; Kristof-Brown et al., 2005). Arbeitsbezogene Werte wie z. B. Autonomie, Sicherheit, Beziehungen und Fairness am Arbeitsplatz sind ein wesentlicher Bestandteil des Selbstkonzepts (Super, 1962). Sie bestimmen, wie Menschen ihr Umfeld und die Verhaltensweisen anderer Personen interpretieren und beurteilen (Dose, 1997; Jin & Rounds, 2012). Das Erreichen einer Wertekongruenz zwischen Person und Organisation ist damit entscheidend für die Entwicklung und Stabilisierung des beruflichen Selbstkonzepts und eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration am Arbeitsplatz (Ashforth, Sluss & Saks, 2007; Edwards & Cable, 2009; Judge, 2007). Eine gute Übereinstimmung von Person und Organisation erleichtert die Kommunikation und Kooperation unter den Mitarbeitenden (Edwards & Shipp, 2007; Meglino & Ravlin, 1998). Gut passende Mitarbeitende richten ihr Verhalten stärker auf die Erwartungen der Organisation aus, bauen eine engere Verbundenheit zur Organisation auf und sind zufriedener mit ihrer Arbeit. Sie erreichen bessere Leistungen, werden eher befördert und bleiben länger im Betrieb (Bretz Jr & Judge, 1994; Lauver & Kristof-Brown, 2001; O’Reilly, Chatman & Caldwell, 1991; Tak, 2011).

Selbst- und Fremdselektion führen im Wechselspiel dazu, dass Personen und Organisation bereits beim Eintritt in den Betrieb über ähnliche Merkmale verfügen. Gemäß dem Attraction-Selection-Attrition-Modell (Schneider, 1987; Schneider, Goldstein & Smith, 1995) fühlen sich Menschen von Organisationen angezogen, die dieselben Werte haben wie sie und die sie darin unterstützen, eigene Ziele zu erreichen (attraction). Umgekehrt wählt die Organisation unter den Bewerbenden diejenigen aus, die am besten zu ihr passen (selection). Gelingt es einer Person nicht, eine Passung zur Organisation herzustellen, wird sie langfristig nicht im Betrieb bleiben, sondern aus eigenem Antrieb kündigen oder vom Betrieb entlassen werden (attrition).

Passung Person-Arbeit

Die Passung Person-Arbeit beschreibt die Kongruenz zwischen der Person und ihren Arbeitstätigkeiten an einer bestimmten Arbeitsstelle (Bretz Jr, Rynes & Gerhart, 1993; Edwards, 1991; Lauver & Kristof-Brown, 2001). Dabei werden zwei Arten von Passung unterschieden. Die erste beschreibt die Übereinstimmung zwischen den Anforderungen der Arbeitstätigkeit und den Fähigkeiten einer Person (demands-abilities fit). Die zweite bezieht sich auf die Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen der Person und deren Erfüllung durch die Arbeitstätigkeit, so zum Beispiel das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder finanzieller Sicherheit (needssupplies fit). Eine insgesamt gute Passung mit der Arbeit besteht dann, wenn die Person die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften für die Ausübung der Arbeitstätigkeit hat und wenn die Arbeitstätigkeit den Ansprüchen und Wünschen der Person genügt. Eine gute Übereinstimmung wirkt sich positiv auf die Arbeits- und Laufbahnzufriedenheit und die Arbeitsleistung von Mitarbeitenden aus und verstärkt deren Absicht, im Betrieb zu verbleiben (Cable & DeRue, 2002; Edwards & Shipp, 2007; Lauver & Kristof-Brown, 2001; Riordan, Weatherly, Vandenberg & Self, 2001; Vogel & Feldman, 2009).

Die Passung Person-Arbeit unterscheidet sich von der Passung Person–Beruf: Letztere beschreibt die Übereinstimmung eines Individuums mit dem Beruf auf übergeordneter, objektivierter Ebene. Die Passung Person-Arbeit berücksichtigt hingegen, dass Menschen im gleichen Beruf je nach Stellenprofil unterschiedlichen Aufgaben nachgehen und unterschiedliche Arbeitsbedingungen haben. Eine hohe Passung zum Beruf ist nicht zwingend mit einer hohen Passung zur aktuellen Arbeit verbunden (Vogel & Feldman, 2009). So ist es zum Beispiel möglich, dass eine Person die beruflichen Kompetenzen hat, um als Koch zu arbeiten und auch Erfüllung in diesem Beruf findet (Passung Beruf). Dieselbe Person erreicht aber eine schlechte Passung mit ihrer Tätigkeit an einer bestimmten Arbeitsstelle, z. B. wenn die Arbeitszeiten an dieser Stelle nicht ihrem Wunsch entsprechen oder sie von den Vorgesetzten nicht unterstützt wird.

Passung Person-Arbeitsgruppe und Person-Vorgesetzte

Die Passung Person-Arbeitsgruppe bzw. Person-Vorgesetzte/Vorgesetzter umschreibt die Übereinstimmung zwischen Mitarbeitenden und anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe bzw. ihren Vorgesetzten (Ferris, Youngblood & Yates, 1985). Eine hohe Passung besteht dann, wenn eine Person und ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen bzw. Vorgesetzten gemeinsame Ziele, Werte, Einstellungen oder Persönlichkeitsmerkmale haben.

Eine hohe Passung zu anderen Mitarbeitenden fördert die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt unter den Mitgliedern der Arbeitsgruppe und wirkt sich positiv auf die Gruppenleistung aus (Kristof-Brown et al., 2005; Seong, Kristof-Brown, Park, Hong & Shin, 2012). Mitarbeitende, deren Werte und Ziele mit der Gruppe übereinstimmen, richten ihr Verhalten an in der Gruppe existierenden Normen aus (Feldman, 1984). Mitarbeitende, die gut zu ihren Teamkolleginnen und -kollegen und gut zu ihren Vorgesetzten passen, sind zufriedener mit den sozialen Kontakten am Arbeitsplatz und mit der Arbeit, erzielen bessere Arbeitsleistungen, fühlen sich stärker ihrem Betrieb verbunden und haben eine geringere Fluktuationstendenz als schlechter passende Personen (Kristof-Brown et al., 2005; Van Vianen, 2000).

2.1.2 Wirkung von Passung im Vergleich

In der Passungsforschung wurde früher häufig davon ausgegangen, dass die positiven Auswirkungen von Passung universell sind, d. h. unabhängig von der Art der Passung (supplementär vs. komplementär) und von der Ebene (Passung mit Beruf, Betrieb etc.) (Bretz Jr & Judge, 1994; Mitchell, Holtom, Lee, Sablynski & Erez, 2001; Saks & Ashforth, 1997). Kristof-Brown et al. (2005) zeigten jedoch in ihrer Metaanalyse, dass Art und Ebene der Passung in unterschiedlichem Ausmaß mit arbeitsbezogenen Einstellungen, der Arbeitsleistung oder dem Kündigungsverhalten zusammenhängen. Die verschiedenen Ebenen von Passung haben zudem stärkere Auswirkungen auf die Einstellungen als auf das Verhalten von Mitarbeitenden. Die Passung zu Organisation, Arbeit und Vorgesetzten steht in einem starken Zusammenhang mit der Arbeitszufriedenheit und der organisationalen Verbundenheit. Die Passung zur Arbeit hängt zudem in starkem, die Passung zur Organisation in mittlerem Ausmaß mit der Fluktuationstendenz von Mitarbeitenden zusammen. Alle Ebenen der Passung wirken sich hingegen nur in geringem Ausmaß direkt auf die Arbeitsleitung und nur in sehr geringem Ausmaß auf das effektive Kündigungsverhalten aus. Dies deutet darauf hin, dass ein Teil der Personen trotz schlechter Passung zur Arbeit oder zur Organisation im Betrieb verbleiben oder trotz guter Passung den Betrieb verlassen (vgl. Kapitel 2.2.3).

 

Detaillierte Analysen zum Einfluss der Passung Person-Arbeit auf die Arbeitszufriedenheit zeigen, dass die Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen von Mitarbeitenden und deren Befriedigung durch die Arbeit (needs-supplies fit) einen stärkeren Einfluss hat als die Übereinstimmung zwischen Arbeitsanforderungen und Fähigkeiten (demands-abilities fit) (Kristof-Brown et al., 2005). Es wird angenommen, dass eine gute Passung zwischen Arbeitsanforderungen und Fähigkeiten indirekt auf die Arbeitszufriedenheit wirkt (Edwards & Shipp, 2007). Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Mitarbeitende Arbeitsanforderungen internalisieren und deren Erfüllung zu einem eigenen Bedürfnis machen oder wenn eine gute Übereinstimmung zwischen Fähigkeiten und Anforderungen zu einem Kompetenzerleben führt, welches einem individuellen Grundbedürfnis entspricht. Auch in Bezug auf die Arbeitsleistung und entgegen der Erwartung zeigt sich ein etwas stärkerer Zusammenhang mit dem needs-supplies fit als mit dem demands-abilities fit. Insgesamt wird aber davon ausgegangen, dass beide Passungen vorhanden sein müssen. Gute Arbeitsleistungen werden dann erzielt, wenn die Mitarbeitenden ausreichende Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringen und antizipieren, dass gute Leistungen auch zu einer Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Arbeitsplatzsicherheit führen (Edwards & Shipp, 2007).

Im Gegensatz zur Auswirkung von (ebenenspezifischer) Passung sind Effekte fehlender Passung bisher schlecht untersucht. Fehlende Passung wird häufig als Gegenteil von Passung betrachtet und hat, so die Annahme, generell negative Auswirkungen auf Arbeitseinstellungen und das Verhalten von Mitarbeitenden (Edwards, Cable, Williamson, Lambert & Shipp, 2006). Diese Sicht impliziert, dass die Richtung der fehlenden Passung keine Rolle spielt. Dementsprechend wäre zum Beispiel eine Person, die an der Arbeitsstelle unterfordert ist, ebenso unzufrieden wie eine Person, die überfordert ist. Obwohl beide einen schlechten demands-abilities fit haben, scheint diese Annahme zumindest fraglich. Insgesamt stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen das Erreichen einer hohen Passung wichtig ist und wie sich nicht nur eine fehlende Passung, sondern auch verschiedene Richtungen von fehlender Passung auf die Einstellungen und das Verhalten von Mitarbeitenden auswirken (Edwards, 2008).

2.1.3 Stabilität und Veränderung von Passung

In der Passungsforschung stand lange die Frage im Vordergrund, wie relativ stabile Dispositionen einer Person und relativ statische Arbeitsumwelten miteinander interagieren und die Passung zwischen Person und Umwelt beeinflussen (Kammeyer-Mueller, 2007). Forschungsarbeiten beruhen zudem meist auf querschnittlichen Designs, geben also eine Momentaufnahme der Passung wieder (Judge, 2007). Passung ist aber nicht stabil, sie verändert sich mit der Zeit (Chatman, 1989). Menschen entwickeln sich weiter und die Umwelt ist nicht konstant. Passung erfordert kontinuierliche (Wieder-)Anpassung, nicht nur vor und bei Stellenantritt, sondern über die Dauer der gesamten Anstellung (Caplan, 1987; Kristof-Brown & Jansen, 2007).

Wenn Mitarbeitende neu in einen Betrieb kommen, gewinnen sie neue Kenntnisse über den Betrieb und erwerben neue Kompetenzen, um ihre Aufgaben effektiv ausführen zu können. Sie verändern allenfalls ihre Einstellungen und Werte, um sich in die Arbeitsgruppe und den Betrieb zu integrieren. Sie bringen neue Ideen ein und verändern damit ihr Arbeitsumfeld. Die Organisation passt sich nach Bedarf und Möglichkeit an die Bedürfnisse der neuen Mitarbeitenden an. Auch im späteren Verlauf der Anstellung verändern sich sowohl die Umwelt als auch die neu angestellte Person. Ihre Arbeitsaufgaben werden allenfalls komplexer oder vielseitiger, sie übernimmt beispielsweise ein neues Aufgabengebiet, im Betrieb werden neue Technologien eingeführt oder die Zusammensetzung des Arbeitsteams ändert sich. Die Person erwirbt nicht nur neue Kompetenzen, sondern entwickelt, ausgehend von Veränderungen im beruflichen oder privaten Lebensbereich, neue Interessen und setzt sich allenfalls neue beruflichen Ziele (Ashforth, 2012; Kristof-Brown & Jansen, 2007). Je nach Art und Ausmaß der Veränderungen von Person und Umfeld kann sich damit auch die objektive, die subjektive und die wahrgenommene Passung verändern (Kammeyer-Mueller, 2007; Schneider, 1987; Van Vianen & De Pater, 2012).

Je länger Mitarbeitende im Betrieb sind, umso stärker gleicht sich die wahrgenommene Passung auf einer Ebene (Betrieb, Arbeit usw.) an die Passung auf einer anderen Ebene an. Die ebenenspezifischen Passungswahrnehmungen verstärken sich gegenseitig, sodass eine insgesamt gute Passung noch besser, eine insgesamt schlechte Passung noch schlechter wird (sogenannte Abweichungs-Verstärkungs-Spiraleffekte, Lindsley, Brass & Thomas, 1995). Je größer die Übereinstimmung zwischen der Passung mit dem Betrieb, der Arbeit, der Arbeitsgruppe und der vorgesetzten Person insgesamt ist, umso besser ist eine Person in ihr Umfeld integriert. Sie ist weniger gestresst und produktiver. Im Gegensatz dazu ist eine insgesamt wenig oder schlecht passende Person weniger gut integriert, wird vermutlich weniger gute Leistungen zeigen und immer schlechter in den Betrieb passen. Schlecht passende Menschen bewegen sich in ihren Einstellungen und ihrem Verhalten in einer Art Negativspirale immer weiter von der Arbeitsumwelt weg, bis sie schließlich den Betrieb verlassen (müssen).

2.2 Organisationale Sozialisation

Passung entsteht und verändert sich durch berufliche und organisationale Sozialisation (Van Vianen & De Pater, 2012; Winzen, 2007). Sozialisation ist der Prozess, in dessen Verlauf sich ein Individuum die nötigen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Werte, Einstellungen, Rollen und Verhaltensweisen aneignet, um sich erfolgreich in einer spezifischen sozialen Umwelt zu bewegen (Feij, 1998). Im Arbeitskontext wird zwischen der beruflichen und der organisationalen Sozialisation unterschieden. Berufliche Sozialisation umfasst die Aneignung und Veränderung arbeitsbezogener Kenntnisse, Fähigkeiten und Wertorientierungen (Heinz, 1995) und die Entwicklung von damit verbundenen individuellen Persönlichkeitsstrukturen (Lempert, 2006). Berufliche Sozialisation ist Sozialisation für den Beruf durch den Beruf (Heinz, 1995). Sozialisation für den Beruf bezieht sich auf die durch Familie und Schule geprägte Entwicklung berufsbezogener Fähigkeiten und Interessen, die erste Berufswahl und die Berufsausbildung. Sozialisation durch den Beruf umfasst die Erfahrungen, die Erwerbstätige in der Arbeitstätigkeit über die gesamte Berufslaufbahn machen. Organisationale Sozialisation ist ein Teilgebiet der beruflichen Sozialisation und bezieht sich auf die Integration neuer Mitglieder in den Betrieb (Lohaus & Habermann, 2015; Winzen, 2007). Sie steht im Vordergrund des vorliegenden Buches.

Organisationale Sozialisation beschreibt den Prozess, in dem neue Mitarbeitende die Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen erwerben, um ihre Arbeitsrolle effektiv auszuführen und so von Außenseitern zu vollen Mitgliedern der Organisation werden (Bauer, Bodner, Erdogan, Truxillo & Tucker, 2007; Feldman, 1981; Louis, 1980; Saks, Gruman & Cooper-Thomas, 2011). In einem enger gefassten Begriffsverständnis stehen die Vermittlung und das Erlernen der Kultur, der Normen und Werte der Organisation im Vordergrund (Moser, Soucek & Hassel, 2014; Winzen, 2007). Betriebe ermöglichen, fördern und steuern den Anpassungsprozess von neuen Mitarbeitenden (Saks & Gruman, 2012). Neue Mitarbeitende gestalten den Prozess aktiv mit, indem sie sich mit sich selbst und der Umwelt auseinandersetzen (Cooper-Thomas, Anderson & Cash, 2012; Kammeyer-Mueller, 2007). Dabei verwenden sie unterschiedliche Anpassungsstrategien (Cooper-Thomas et al., 2012): 1. Strategien, die auf die Veränderung der Umwelt abzielen, zum Beispiel durch die Veränderung der Arbeitsinhalte und -prozesse; 2. Strategien, die auf die Veränderung der eigenen Person ausgerichtet sind, zum Beispiel indem nach Feedback gesucht wird, um die für die Arbeit nötige Kompetenz zu erweitern; 3. Strategien, die eine gemeinsame Entwicklung von Person und Umwelt bezwecken, zum Beispiel durch den Aufbau positiver Beziehungen zu anderen Mitarbeitenden oder das Neuaushandeln der Arbeitsrolle mit der vorgesetzten Person. Je nach Anpassungsstrategie verändern Mitarbeitende also nicht nur sich und ihre Verhaltensweisen, sondern erwirken auch Veränderungen in der sozialen Umwelt (Cooper-Thomas et al., 2012; Hoff, 2004).