Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch

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Bisherige Studien zur Proaktivität untersuchen vorwiegend die Zeit nach Eintritt in die Organisation. Es ist aber davon auszugehen, dass proaktives Verhalten auch in der Phase der Berufsorientierung oder nach einem Verlust der Arbeitsstelle positive Effekte hat. So zeigt sich beispielsweise, dass sich proaktive Personen intensiver mit Laufbahnfragen auseinandersetzen, die beruflichen Möglichkeiten gründlicher erkunden und es sich eher zutrauen, die eigene Laufbahn erfolgreich zu gestalten (Hirschi, Herrmann & Keller, 2015). Studien bei Arbeitslosen zeigen, dass proaktiv handelnde Personen einen unfreiwilligen Stellenverlust besser bewältigen. Sie geben sich weniger selbst die Schuld, haben ein höheres Selbstwertgefühl und finden eher eine neue Stelle als weniger proaktive Personen (vgl. dazu Crant, 2000).






2.2.3 Fluktuation als Ergebnis misslungener Sozialisation





Wie gezeigt erhöht eine schlechte Passung die Kündigungsabsicht und führt zu häufigeren Kündigungen. Eine hohe Fluktuationstendenz gilt zudem als Ergebnis und Indikator für eine misslungene organisationale Sozialisation. Allerdings lässt sich die Kündigungsabsicht nur mittelmäßig, die effektive Kündigung nur schlecht durch die fehlende Passung bzw. Anpassung voraussagen. Es stellt sich die Frage, ob das Verlassen des Betriebs ein aussagekräftiger Indikator für eine misslungene organisationale Sozialisation ist (Moser et al., 2014). Die Sozialisation scheint dann misslungen, wenn Mitarbeitende kurz nach Stellenantritt freiwillig wieder kündigen, weil die Arbeit nicht ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht oder wenn Betriebe Mitarbeitende wegen ungenügender Leistung oder Fehlverhalten entlassen. In beiden Fällen ist die fehlende Passung zur Arbeit und zum Betrieb eine wichtige Ursache für die Kündigung. In anderen Fällen ist dies jedoch nicht zwingend der Fall. Mitarbeitende kündigen nicht nur dann, wenn die Stelle nicht (mehr) ihren Vorstellungen entspricht, sie unzufrieden sind und sich dem Betrieb nicht zugehörig fühlen (vgl. dazu Semmer, Elfering, Baillod, Berset & Beehr, 2014). Sie verlassen ihre bisherige Stelle beispielsweise auch, weil sie sich beruflich weiterentwickeln wollen oder aus privaten Gründen.



Für Betriebe sind Kündigungen dysfunktional, wenn sie qualifizierte, nur schwierig zu ersetzende Mitarbeitende verlieren und wenn Mitarbeitende bereits wenige Monate nach Eintritt kündigen (Allen et al., 2010; Holtom, Mitchell, Lee & Eberly, 2008). Durch die Kündigung fallen hohe Kosten an, da neue Mitarbeitende rekrutiert und eingearbeitet werden müssen. Auch für Arbeitnehmende kann die Kündigung dysfunktional sein, beispielsweise, wenn sie ihr berufliches Netzwerk verlieren oder nach der Kündigung arbeitslos werden. Sie kann aber auch funktional sein, insbesondere dann, wenn sie geplant ist und zu einer positiven Laufbahnentwicklung beiträgt (Ng, Sorensen, Eby & Feldman, 2007). Dazu gehören Stellenwechsel, die mit einer besseren Position oder einem höheren Gehalt verbunden sind oder die Arbeitstätigkeiten umfassen, die den Interessen der Person besser entsprechen (Mitchell et al., 2001).



Freiwillige Kündigungen und Stellenwechsel können mit traditionellen Fluktuationsansätzen und neuen Laufbahntheorien erklärt werden. Passung bzw. Anpassung spielen in vielen dieser Modelle eine Rolle. Klassische Ansätze gehen davon aus, dass die Unzufriedenheit mit der Arbeitsstelle, eine geringe Verbundenheit mit dem Betrieb und vorhandene beruflichen Alternativen die Absicht von Mitarbeitenden verstärken, eine neue Stelle zu suchen und zu kündigen (Griffeth, Hom & Gaertner, 2000; Holtom et al., 2008; Warr, 2007). Neuere Laufbahntheorien verweisen zudem darauf, dass die Laufbahngestaltung stärker als bisher in den Händen der einzelnen Mitarbeitenden liegt und dass häufige Stellenwechsel zur Normalität werden (Arthur et al., 2005).



Nach dem traditionellen Person-Umwelt-Ansatz haben Arbeitnehmende und Organisationen das Ziel, eine optimale Passung zwischen den Merkmalen der Person und der Arbeitsumgebung herzustellen (Dawis & Lofquist, 1984). Liegt eine gute Passung im Sinne eines needs-supplies fits und eines demands-abilities fit vor, sind Mitarbeitende und Betriebe zufrieden und streben danach, die Passung aufrechtzuerhalten. Ist die Passung ungenügend, versuchen Personen und Umwelt, diese (wieder) herzustellen. Mitarbeitende können zum Beispiel ihre Erwartungen senken oder zusätzliche Kompetenzen erwerben, um neue oder anspruchsvolle Arbeitstätigkeiten effektiv auszuführen. Arbeitgebende können den Mitarbeitenden andere Aufgaben oder mehr (bzw. weniger) Verantwortung übertragen oder ihnen ein anderes Pensum anbieten. Wenn die von Mitarbeitenden und Arbeitgebenden initiierten Strategien nicht erfolgreich sind, steigt die Unzufriedenheit weiter an und beide Parteien überlegen sich andere Lösungen. Es kommt zu einer Kündigung oder einer Entlassung.



Alternative Erklärungen für das Kündigungsgeschehen gibt das «Entwicklungsmodell freiwilliger Kündigung» (unfolding model of voluntary turnover) (Lee, Mitchell, Holtom, McDaniel & Hill, 1999). Das Modell berücksichtigt, dass die Kündigungsentscheidung nicht immer nach einem langen Abwägungsprozess, sondern je nach Situation auch kurzfristig erfolgt. Zudem wird angenommen, dass der Kündigungsprozess auch durch besondere Ereignisse im beruflichen oder privaten Bereich ausgelöst werden kann. Diese können erwartet oder unerwartet, positiv oder negativ sein, beispielsweise ein heftiger Streit mit der vorgesetzten Person, Umstrukturierungen im Betrieb, die Geburt eines Kindes oder eine Krankheit der Arbeitnehmenden. Durch das Ereignis wird den Mitarbeitenden bewusst, dass ihnen die Stelle nicht mehr entspricht. Die Unzufriedenheit steigt und die Mitarbeitenden prüfen Alternativen. Sie kündigen, wenn sie eine neue Stelle in Aussicht haben, oder aber verlassen die Stelle ohne Anschlusslösung. Mitarbeitende geben ihre Stelle insbesondere dann kurzfristig und ohne berufliche Alternative auf, wenn ihre Passung zur Arbeitsumwelt außerordentlich schlecht und ihre Unzufriedenheit mit der Stelle sehr hoch ist. In anderen Fällen kündigen Personen bei Eintritt eines Ereignisses auch dann, wenn sie mit ihrer Stellensituation zufrieden sind. Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn Personen unerwartet ein attraktives Stellenangebot erhalten. Insgesamt verdeutlicht das Fluktuationsmodell von Lee et al. (1999), dass eine ungenügende Passung in vielen, aber nicht in allen Fällen eine wichtige Determinante für eine Kündigung ist.



Kündigungen sind mit unterschiedlichen beruflichen Anschlusslösungen verbunden. Mitarbeitende können eine Stelle in ihrem bisherigen Beruf in einer anderen Organisation annehmen. Sie können sich aber auch entscheiden, den Beruf zu wechseln oder vorerst nicht mehr erwerbstätig zu sein. Zudem sind Stellenwechsel auch innerhalb der Organisation möglich, zum Beispiel durch einen Wechsel in eine andere Abteilung, eine Beförderung oder Rückstufung. Zurzeit gibt es nur wenige Studien, die Berufs- und Betriebswechsel oder interne und externe Fluktuation gleichzeitig untersucht haben (Ng et al., 2007; Rhodes & Doering, 1993). Sie zeigen, dass sich Mitarbeitende, die betriebsintern in eine neue Stelle wechseln, nur wenig von Mitarbeitenden unterscheiden, die in ihrer Stelle verbleiben (Doering & Rhodes, 1996). Beide Gruppen sind zufrieden mit ihrer Arbeit und beabsichtigen kaum, sich eine neue Stelle zu suchen. Im Gegensatz dazu sind Personen, die den Beruf und den Betrieb verlassen, vor der Kündigung nicht nur unzufrieden mit ihrer Arbeit, sondern insgesamt mit ihrem Beruf (Blau, Tatum & Ward-Cook, 2003). Die Studien weisen darauf hin, dass es wichtig ist, das Fluktuationsgeschehen im Zusammenhang mit der beruflichen Anschlusslösung zu untersuchen.



Neue Laufbahntheorien betonen, dass Berufslaufbahnen infolge grundlegender Veränderungen im Arbeitsmarkt offener und unsicherer geworden sind (Arthur et al., 2005). Globalisierung, technologischer Wandel und Konkurrenzdruck erhöhen die Arbeitsbelastung und verlangen, dass Mitarbeitende ihre beruflichen Kompetenzen stetig weiterentwickeln. Gleichzeitig hat sich die Verantwortung für eine erfolgreiche Laufbahngestaltung weg von den Organisationen hin zu den einzelnen Mitarbeitenden verschoben (Hall, 2002). Im Vordergrund stehen Mobilität, Flexibilität und Selbstverantwortung, d. h. eine ständige und aktive Anpassung der Mitarbeitenden an ein sich rasch wandelndes Umfeld. Der Antrieb für die Laufbahnentwicklung geht von den einzelnen Individuen aus, die ihre Karriere selbstbestimmt und nach eigenen Wertvorstellungen vorantreiben (Briscoe & Hall, 2006). Durch die zunehmende Flexibilisierung von Laufbahnen werden Selbstverwirklichung in der Arbeit und die Erfüllung persönlicher Ziele immer wichtiger. Traditionelle Werte wie Pflichterfüllung und Loyalität gegenüber dem Betrieb scheinen hingegen in den Hintergrund zu treten. Mit Bezug auf Passung und Fluktuation bedeutet dies, dass Selbsterfüllung und Weiterentwicklung zu zentralen Inhalten von Passung werden und das Kündigungsverhalten beeinflussen (Briscoe & Hall, 2006).



Zwei Metaanalysen bestätigen, dass eine geringe Arbeitszufriedenheit und Verbundenheit mit dem Betrieb, häufige Kündigungsgedanken und die Suche nach Alternativen die Wahrscheinlichkeit von Kündigungen stark erhöhen (Allen et al., 2010; Griffeth et al., 2000). Proximale Sozialisationsergebnisse (z. B. Beziehung zu Vorgesetzten, Rollenklarheit bzw. Rollenkonflikte) sowie Arbeitsbedingungen (z. B. Mitbestimmungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz, Belastung) leisten einen wenn auch eher geringen direkten Beitrag zur Voraussage von freiwilligen Kündigungen. Individuelle Merkmale wie Alter, Ausbildung, kognitive Fähigkeiten oder ein Migrationshintergrund sagen eine Kündigung hingegen kaum oder gar nicht voraus. Insgesamt bestätigt sich, dass Fluktuation vor allem mit distalen Sozialisationsergebnissen (Fluktuationstendenz, Arbeitszufriedenheit, Verbundenheit mit dem Betrieb) zusammenhängt. Proximale Sozialisationsergebnisse (Rollenklarheit, soziale Beziehungen) beeinflussen das Kündigungsverhalten von Mitarbeitenden vor allem indirekt, vermittelt über die distalen Sozialisationsergebnisse.

 







3 Lehrvertragsauflösung: Von fehlender Passung zum Ausbildungserfolg





In diesem Kapitel wird die Bedeutung passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretischer Ansätze für die berufliche Grundbildung und das Phänomen «Lehrvertragsauflösung» erörtert.

Kapitel 3.1

 zeigt, wie sich die Sozialisation von Lernenden von derjenigen erwachsener Erwerbstätiger unterscheidet. In

Kapitel 3.2

 werden mit Bezug auf bisherige Forschungsarbeiten Gründe von Lehrvertragsauflösungen dargestellt. Die Berufs- und Lehrstellenwahl von Lernenden, die Selektion durch die Betriebe und die betrieblichen Ausbildungsbedingungen werden ausführlich besprochen, da sie gemäß passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretischen Ansätzen für eine gelingende Anpassung von neuen Mitarbeitenden zentral sind. In

Kapitel 3.3

 werden bisherige Forschungsergebnisse zum Wiedereinstieg nach einer Lehrvertragsauflösung zusammengefasst. Der Wiedereinstieg in eine gut bzw. besser passende Ausbildung auf der Sekundarstufe II ist eine entscheidende Voraussetzung für den späteren Ausbildungserfolg.






3.1 Besonderheiten der beruflichen Grundbildung





Organisationspsychologische Forschungsarbeiten untersuchen primär die Sozialisation, die Passung und das Kündigungsverhalten erwachsener Mitarbeitender, die bereits über eine gewisse Arbeitserfahrung verfügen (Allen et al., 2010; Bauer et al., 2007; Bauer & Erdogan, 2011). Studien, die sich auf junge Mitarbeitende konzentrieren, sind rar und untersuchen mehrheitlich Personen, die ihre berufliche oder akademische Ausbildung bereits abgeschlossen haben. Im Gegensatz dazu stehen im vorliegenden Buch Lernende in der beruflichen Grundbildung im Zentrum. Deren Sozialisation geschieht unter besonderen Rahmenbedingungen, die sich von der Sozialisation erwachsener Mitarbeitender unterscheiden. Zu nennen sind insbesondere folgende Besonderheiten:



•Im Gegensatz zu erwachsenen Erwerbstätigen stehen Jugendliche, die in die berufliche Grundbildung eintreten, in der Regel vor ihrer ersten Berufswahl, sind meist noch nicht volljährig und haben wenig oder keine Arbeitserfahrung. Sie müssen den Beruf und die damit verbundenen Arbeitstätigkeiten erst kennenlernen und eine berufliche Identität aufbauen (Klotz, Billett & Winther, 2014). Anders als erwachsene Stellensuchende, die in einem unbefristeten und ungekündigten Arbeitsverhältnis sind, stehen alle Jugendlichen beim Übergang von der obligatorischen in die nachobligatorische Ausbildung unter einem von außen gegebenen Entscheidungsdruck (Herzog, Neuenschwander & Wannack, 2006). Das Bildungssystem gibt vor, in welchem zeitlichen Rahmen der Übergang zu bewältigen ist. Der Entscheidungsdruck führt dazu, dass ein Teil der Jugendlichen kurzfristig auf einen allenfalls weniger passenden Beruf oder Betrieb ausweicht (Heinz, Krüger, Rettke, Wachtveitl & Witzel, 1985; Neuenschwander et al., 2012). Die Berufsorientierung und Entscheidung für einen Beruf dürfte damit einen größeren Einfluss auf eine gelingende Sozialisation haben als bei Erwachsenen.



•Im Unterschied zur Selektion von erwachsenen Erwerbstätigen kommen bei der Selektion von Lernenden neben Kosten-Nutzen-Überlegungen und der antizipierten Passung zur Arbeitstätigkeit und zum Betrieb auch andere Kriterien zum Tragen. Dazu gehören die langfristige Sicherung des beruflichen Nachwuchses und die soziale Verantwortung vieler Betriebe, die schulisch schwächeren Lernenden eine Chance geben wollen (Hunger, Jenewein & Sanfleber, 2002; vgl. kritisch dazu Müller & Schweri, 2006; Stalder, 1999). Zudem haben die Betriebe bei der Besetzung von Lehrstellen einen anderen Entscheidungsspielraum: Sie können Lehrstellen länger unbesetzt lassen oder statt einer lernenden Person eine unqualifizierte Arbeitskraft einstellen. Im Jahr 2012 blieben in der Schweiz rund 7 % der Lehrstellen unbesetzt – hauptsächlich, weil Betriebe keine oder nur schlecht geeignete Bewerbungen erhalten hatten (BBT, 2012). Da in der Schweiz die meisten Lernenden direkt aus der Volksschule oder einem Brückenangebot, d. h. ohne Arbeitserfahrung, in die berufliche Grundbildung eintreten, haben die Betriebe nur wenig Informationen, um die Produktivität der Lernenden einzuschätzen (Imdorf, 2010). Der schulische Leistungsausweis und der allgemeine Eindruck, den Jugendliche in der Bewerbungsphase hinterlassen, dürften damit einen größeren Stellenwert haben als bei erwachsenen Bewerberinnen und Bewerbern (vgl. auch Forsblom, Negrini, Gurtner & Schumann, 2014).



•Anders als erwachsene neue Mitarbeitende treten Lernende nicht nur in einen neuen Betrieb, sondern auch in eine neue Schule ein. Als dritter Lernort kommen die Ausbildungszentren dazu, in denen die überbetrieblichen Kurse stattfinden. Lernende sind herausgefordert, sich an alle drei Lernorte anzupassen und sich an allen drei Orten zu integrieren. Dies ist keine leichte Aufgabe. Die Sozialisationsbedingungen und -erfordernisse in Betrieb, Berufsfachschule und Ausbildungszentrum sind nicht dieselben (vgl. dazu Horstkemper & Tillmann, 2008; Neuenschwander & Nägele, 2014). Die fachlichen und berufspraktischen Lerninhalte sowie die Einstellungen und Verhaltensweisen, die zu erwerben sind, sind verschieden.



•Anders als bei der Sozialisation erwachsener Erwerbstätiger sind Betriebe nicht frei zu entscheiden, ob sie für die Sozialisation von Lernenden institutionalisierte oder individualisierte Sozialisationstaktiken einsetzen. Auf übergeordneter Ebene schreiben die Bildungspläne eine institutionalisierte Vorgehensweise vor. Sie legen fest, welche Kompetenzen in welchem Lehrjahr und an welchem der drei Lernorte zu erwerben sind (Wettstein et al., 2014). Zudem sind die Berufsbildenden gesetzlich verpflichtet, Lernende im Ausbildungsprozess zu unterstützen. Ansonsten ist die betriebliche Ausbildung stark individualisiert. Jugendliche lernen meist getrennt von anderen Auszubildenden, im Rahmen der täglichen Arbeit und in der Gruppe erwachsener Mitarbeitender. Dies gilt insbesondere für Kleinbetriebe, die nur eine lernende Person ausbilden. Unter diesen Rahmenbedingungen ist entscheidend, ob bzw. wie die Berufsbildenden das betriebliche Lernen strukturieren. Es ist in ihrer Verantwortung, Lernschritte und einen Zeitplan festzulegen und den Lernenden Mitarbeitende zur Seite zu stellen, die als Rollenmodelle dienen und den Lernprozess unterstützen (vgl. dazu Fillietaz, 2010). Eine strukturierte Vorgehensweise ist wichtig, damit sich die Lernenden rasch zurechtfinden, Unsicherheiten reduzieren und sich in den Betrieb integrieren.



•Auch wenn die Sozialisation von Lernenden als interaktiver Prozess zu verstehen ist, in dem Lernende und betriebliche Akteure in einer Wechselbeziehung stehen (Lempert, 2006), ist der Gestaltungsspielraum für Lernende kleiner als für erwachsene neue Mitarbeitende. Lernende haben nicht dieselben Möglichkeiten, über Arbeitsprozesse und Arbeitsinhalte mitzubestimmen, und tragen nicht dieselbe Verantwortung für ihre Arbeitsergebnisse wie erwachsene Erwerbstätige. Die Bildungspläne geben die Lerninhalte vor und definieren die Rollen von Lernenden und Berufsbildenden. Die konkreten Arbeitstätigkeiten werden von den Berufsbildenden und anderen Ausbildungsverantwortlichen festgelegt. Das Erfahrungslernen, das Modelllernen und das Lernen durch Instruktion hat Vorrang (Wettstein et al., 2014). Damit sind Lernende vor allem gefordert, Anpassungsstrategien anzuwenden, die auf ihre Person ausgerichtet sind. Anpassungsstrategien, die auf die Veränderung der Umwelt abzielen, können Lernende nur in beschränktem Ausmaß einsetzen.



•Organisationale Sozialisation zielt letztlich darauf ab, neue Mitarbeitende zu vollwertigen Mitgliedern der Organisation zu machen (Bauer & Erdogan, 2011). Dies trifft für Lernende nur bedingt zu. Auch wenn sie zunehmend dieselben Aufgaben übernehmen wie qualifizierte Mitarbeitende, bleiben sie – vertraglich geregelt und in der Wahrnehmung anderer Organisationmitglieder – immer in der Rolle von Lernenden. Sie werden in diesem Sinne während der Lehrzeit nicht «vollwertige», d. h. qualifizierten Mitarbeitenden gleichgestellte Mitglieder der Organisation.



Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten ist davon auszugehen, dass die Passung zu Beruf, Betrieb, Ausbildungstätigkeit sowie Vorgesetzten für eine gelingende Sozialisation von Lernenden ebenso zentral ist wie für erwachsene Personen (Nägele & Neuenschwander, 2014; Neuenschwander et al., 2012). Ebenso ist anzunehmen, dass die Passung zwischen Lernenden und der betrieblichen Ausbildung als proximales Sozialisationsergebnis mit distalen Ergebnissen wie der Ausbildungszufriedenheit und der Verbundenheit mit dem Betrieb zusammenhängt und sich auf den Ausbildungsverlauf auswirkt (Nägele & Neuenschwander, 2014). Eine ausreichende Passung zum Beruf vor Lehreintritt und zur betrieblichen und schulischen Ausbildung nach Lehreintritt ist eine wichtige Voraussetzung für das Erreichen eines Berufsabschlusses.



Vor Lehreintritt stellen Lernende und Betriebe eine antizipierte, ungefähre Passung her. Lernende sollen sich für einen möglichst passenden Beruf und Betrieb entscheiden, Betriebe möglichst passende Lernende auswählen. Selbst- und Fremdselektion wirken sich gleichermaßen darauf aus, ob nach Lehreintritt eine hohe Passung erreicht werden kann (Herzog et al., 2006). Eine ungenügende Passung kann nicht nur auf eine «gescheiterte» Berufs- und Betriebswahl, sondern ebenso auf eine «gescheiterte» Selektion durch die Betriebe zurückzuführen sein (Granato & Ulrich, 2014; Stamm, 2012; Stampfli, 2004; Uhly, 2015).



Nach Lehreintritt müssen Lernende ihre Erwartungen mit der Ausbildungsrealität abgleichen, das Arbeits- und Lernverhalten entwickeln und die Leistung erbringen, die Berufsbildende und Lehrpersonen von ihnen erwarten (Nägele & Neuenschwander, 2015). Berufsbildende und Lehrpersonen sollen die Anpassung der Lernenden mit geeigneten Sozialisationsmaßnahmen und insbesondere lernförderlichen Ausbildungsbedingungen unterstützen (Schumann, Gurtner, Forsblom & Negrini, 2014). Eine schlechte Passung ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass Lernende den Anforderungen der Ausbildung nicht genügen, sondern ebenso darauf, dass die Ausbildung den Erwartungen der Lernenden nicht entspricht (vgl. dazu Piening, Hauschildt, Heinemann & Rauner, 2012).



Spätestens mit der Entscheidung für die Vertragsauflösung stellt sich die Frage nach der Anschlusslösung. Betrifft die fehlende Passung den Lehrberuf, müssen sich Lernende grundsätzlich neu orientieren und sich allenfalls für einen anderen Beruf oder eine schulische Ausbildung entscheiden. Ist die Passung mit der vorzeitig beendeten beruflichen Grundbildung ausschließlich auf der Ebene Betrieb oder Schule ungenügend, ist beispielweise ein Betriebswechsel oder ein Niveauwechsel im Berufsfeld denkbar. Art und Ausmaß der fehlenden Passung mit der bisherigen beruflichen Grundbildung wirken sich nicht nur auf den Wiedereinstieg in eine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II aus, sondern auch auf die Chance, einen Berufsabschluss zu erreichen (Stalder, 2009).



Die wahrgenommene, subjektive oder objektive Passung zwischen (angehenden) Lernenden und ihrem Beruf und Lehrbetrieb ist bisher nur wenig erforscht (Düggeli & Neuenschwander, 2015; Nägele & Neuenschwander, 2015). Rar sind insbesondere Studien, die die Auswirkung fehlender Passung im Zusammenhang mit Lehrvertragsauflösungen und deren Konsequenzen für den späteren Ausbildungsverlauf untersuchen. Studien zu den Gründen von Lehrvertragsauflösungen deuten jedoch verschiedentlich auf Passungsprobleme zwischen Lernenden und ihrem Ausbildungsumfeld hin (Bohlinger, 2002a; Piening et al., 2012; Stalder & Schmid, 2012a).






3.2 Gründe für Lehrvertragsauflösungen





Befragungen bei betroffenen Lernenden und Betrieben zeigen, dass Lehrvertragsauflösungen mit Einflussfaktoren vor und nach Lehrantritt sowie mit Merkmalen der Lernenden, der betrieblichen und schulischen Ausbildung und deren Ausbildungsverantwortlichen zusammenhängen. Die genannten Gründe sind als subjektiv gefärbte, retrospektive Interpretation des Geschehens zu verstehen, das zur Vertragsauflösung geführt hat. Obwohl solche Begründungen die Komplexität von Vertragsauflösungen und die zeitliche Abfolge der Einflussfaktoren nur unzureichend abbilden, liefern sie wichtige Hinweise auf mögliche Ursachen von Lehrvertragsauflösungen.

 



Vertragsauflösungen sind in der Regel nicht auf einen einzelnen Grund, sondern auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Sie sind meist Ergebnis eines längeren Prozesses, in dem verschiedene Problemsituationen auftreten und sich zuspitzen (Bohlinger, 2002a; Faßmann & Funk, 1997; Lamamra & Masdonati, 2008b). Folgende Gründe werden von betroffenen Lernenden und Betrieben besonders häufig aufgeführt: falsche Berufs- und Lehrstellenwahl, unzureichende Selektion durch den Betrieb, schlechte Ausbildungsqualität im Betrieb, ungenügende Leistungen in Betrieb oder Berufsfachschule und persönliche Probleme der Lernenden (Beinke, 2011; Frey, Ertelt & Balzer, 2012; Hauschildt, Piening & Rauner, 2010; Mischler, 2014; Piening et al., 2012). Diese werden im Folgenden ausführlicher erörtert.



Berufs- und Lehrstellenwahl von Lernenden



Die Wahl eines möglichst passenden Berufs und Betriebs ist eine wichtige Voraussetzung für eine später gelingende Anpassung an den Betrieb und an die Arbeits- bzw. Ausbildungstätigkeit. Sind Jugendliche vor Lehreintritt überzeugt, dass sie sich für den richtigen Beruf und die richtige Lehrstelle entschieden haben, sind sie nach Lehreintritt zufriedener und haben eher die Absicht, ihre Ausbildung abzuschließen, als andere Jugendliche (Nägele & Neuenschwander, 2015).



Ob Jugendliche einen ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechenden Beruf ergreifen und eine Lehrstelle mit hoher Ausbildungsqualität erhalten, ist von vielen Faktoren abhängig. Die Berufs- und Lehrstellenwahl von Jugendlichen ist durch das Bildungssystem und das Lehrstellenangebot vorbestimmt und wird stark durch Eltern, Schulen und Lehrpersonen beeinflusst. Bildungssysteme und regionale Angebotsstrukturen steuern Ausbildungsverläufe, eröffnen und verschließen Zugänge zu nachobligatorischen Ausbildungen und schränken das Spektrum möglicher Ausbildungsoptionen ein (Hupka-Brunner & Wohlgemuth, 2012; Seibert, Hupka-Brunner & Imdorf, 2009; Seifried, 2006). Eltern statten ihre Kinder mit unterschiedlichen materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen aus. Sie beeinflussen die schulischen Leistungen, die Entwicklung beruflicher Interessen und vorberufliche Entscheidungen ihrer Kinder bereits sehr früh (Fend, 2014; Neuenschwander et al., 2005). Lehrpersonen vermitteln den Schülerinnen und Schülern Fach-, Selbstund Sozialkompetenzen, die für den Einstieg in eine berufliche Grundbildung nötig sind. Sie unterstützen sie bei der Berufsorientierung und sollen sie befähigen, sich für einen passenden Beruf zu entscheiden (Düggeli & Kinder, 2013). Im Verlauf der Berufsorientierung auf der Sekundarstufe I erkunden Schülerinnen und Schüler ihre beruflichen Interessen, setzen sich mit Berufsfeldern auseinander und stimmen ihre Interessen und Fähigkeiten mit den Anforderungen der verschiedenen Lehrberufe ab (vgl. dazu Zihlmann, Jungo & Voigt, 2009). Sie prüfen Alternativen, treffen erste Vorentscheidungen, machen Schnupperlehren und Eignungstests und bewerben sich auf Lehrstellen. Die Schnupperlehre soll Gelegenheit bieten, im Sinne einer «realistischen Tätigkeitsvorschau» den Beruf bzw. die Arbeitsund Lernumgebung und den Betrieb kennenzulernen (Wettstein et al., 2014). Standardisierte und auf spezifische Berufsfelder ausgerichtete Eignungstests geben zusätzlich zu den Schulnoten Hinweise darauf, ob die Jugendlichen den schulischen Anforderungen des Lehrberufs genügen (vgl. Siegenthaler, 2011).



Verschiedene Faktoren können die Wahl eines passenden Berufs oder Betriebs erschweren. Dazu gehören beispielweise Unsicherheiten bezüglich der eigenen Interessen und Fähigkeiten, ungenügende Informationen über Berufe und Betriebe, eine fehlende soziale Unterstützung durch Eltern und Lehrpersonen oder ein beschränktes Lehrstellenangebot. Finden Jugendliche keine Lehrstelle im bevorzugten Beruf oder Betrieb, sind sie gefordert, sich an die erreichbaren Optionen anzupassen, Kompromisse zu schließen und allenfalls auf weniger erwünschte und weniger passende Alternativen auszuweichen (Herzog et al., 2006; Hirschi & Vondracek, 2009). Gemäß Befragungen des Schweizer Lehrstellenbarometers liegt der Anteil der Lernenden, deren Lehrstelle nicht ihrem ursprünglichen Wunsch entspricht, seit Beginn der 2000er-Jahre bei rund 30 % (BBT, 2005, 2012). Insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund, aus bildungsfernem Elternhaus, aus Schultypen mit Grundanforderungen und mit schlechten schulischen Leistungen sehen sich gezwungen, ihre Ansprüche zu senken und auf nicht erwünschte Alternativen auszuweichen (Diehl, Friedrich & Hall, 2009; Hirschi & Vondracek, 2009; Imdorf, 2005, 2014; Meyer, Stalder & Matter, 2003).



Studien zu Lehrvertragsauflösungen zeigen, dass Jugendliche mit vorzeitiger Vertragsauflösung in der Wahl des Berufs und des Betriebs flexibler gewesen sind als andere Jugendliche. Sie haben sich häufiger auf Lehrstellen beworben, weniger auf das Image und die Krisensicherheit des Betriebs geachtet und häufiger Absagen erhalten als andere Jugendliche (Keck, 1984; Neuenschwander, Stalder & Süss, 1996). Jugendliche, die ihre Ausbildung nicht im Wunschberuf beginnen oder unrealistische Erwartungen haben, sind gefährdet, ihren Lehrvertrag vorzeitig aufzulösen (Beinke, 2011; Berweger, Krattenmacher, Salzmann & Schönenberger, 2013; Hauschildt et al., 2010; Mischler, 2014; Piening et al., 2012). Sie haben ein deutlich größeres Risiko, die berufliche Grundbildung nicht linear zu durchlaufen und die Ausbildung ohne Abschluss zu beenden, als Lernende mit einer Ausbildung im Wunschberuf (Beicht & Walden, 2013; Berweger et al., 2013). Auch das Ausweichen auf einen nicht gewünschten Betrieb birgt ein Risiko einer späteren Vertragsauflösung (Deuer & Ertelt, 2001). In einer Studie von Mischler (2014) begründen mehr Lernende die Vertragsauflösung damit, dass sie die Ausbildung nicht im Wunschbetrieb aufnehmen, als damit, dass sie nicht den Wunschberuf erlernen konnten. Piening et al. (2012) finden hingegen, dass die meisten Lernenden den Lehrbetrieb zunächst als vielversprechend eingeschätzt und kaum daran gezweifelt haben, dass der Betrieb für sie geeignet sei. Die Autoren schließen daraus, dass die Mehrheit der Lernenden für die Ausbildung motiviert gewesen sei, dass aber ungenügende Informationen sowie falsche Erwartungen an die berufliche Grundbildung mit zur Vertragsauflösung geführt haben.



Selektion durch die Betriebe



Betriebe beeinflussen die zukünftige Passung von Lernenden durch den Einsatz geeigneter Selektionsinstrumente und -kriterien. Bei der Auswahl von Lernenden sind sie gefordert, nicht nur die Passung zum betrieblichen Umfeld, sondern auch die Passung zur schulischen Ausbildung zu prüfen – Letzteres stellvertretend für die Berufsfachschulen (Imdorf, 2009). Die am häufigsten benutzten Selektionsinstrumente sind die Bewerbungsunterlagen der Lernenden, eigene oder branchenspezifische Eignungstests, Einstellungsinterviews und die Erfahrungen während der Schnupperlehre (Gericke, Krupp & Troltsch, 2009; Imdorf, 2014; Stalder, 2000). Ähnlich der Selektion qualifizierter Mitarbeitender kommen damit biografieorientierte, eigenschaftsorientierte und simulationsorientierte Verfahren zum Einsatz (Forsblom et al., 2014). Potenziell schlecht passende Jugendliche werden bereits aufgrund der Bewerbungsunterlagen abgelehnt. Betriebe stützen sich dabei auf die Schulnoten sowie die in den Schulzeugnissen enthaltenen Angaben zu unentschuldigten Absenzen und zum Lernverhalten (Imdorf, 2009; Protsch & Solga, 2015). Immer häufiger werden auch branchenspezifische Eignungstests eingesetzt (z. B. Multicheck, Basic-Check). Diese wurden u. a. eingeführt, weil die Schulnoten als nicht mehr aussagekräftig genug galten, um die Leistungsfähigkeit von zukünftigen Lernenden einzuschätzen (Siegenthaler, 2011). Der auf der Sekundarstufe I besuchte Schultyp und die Noten sind entscheidende Kriterien bei der Selektion für anspruchsvolle Lehrberufe. Bei weniger anspruchsvollen Lehrberufen stützen sich die Betriebe stärker auf nicht kognitive Fähigkeiten und Informationen zum Lern- und Arbeitsverhalten, wie Pünktlichkeit, Sorgfalt, Pflichtbewusstsein und Lernmotivation (Hunger et al., 2002; Imdorf, 2009; Stalder, 2000; Stalder & Stricker, 2009). Betriebe schli

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