Mord um Drei

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Mord um Drei
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Bärbel Junker

Mord um Drei

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Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

PROLOG

UNGEBETENER BESUCH

AHNUNGEN

EIN NEUER FALL

TÄTLICHKEITEN

NOCH ZWEI TOTE

VERGANGENHEIT

ERMITTLUNGEN

VERGELTUNG

TESTAMENTSERÖFFNUNG

ABNEIGUNG

BEGEGNUNG

BESUCH IM WAISENHAUS

SPÄTE ABRECHNUNG

NEUE ERKENNTNISSE

LIEBE

TOXINE

DER UNFALL

EINE BÖSE ÜBERRASCHUNG

PLÄNE

NÄCHTLICHER BESUCH

VEREINBARUNGEN

OBSERVIERUNG

VERTRAUEN

EINER FEHLT NOCH!

SELBSTMITLEID

DER LETZTE TOTE

RÜCKBLICK

UNERWARTETE BOTSCHAFT

EPILOG

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Kriminalhauptkommissar Felix Heckert ahnt es noch nicht, als er die tote Beatrice von Arlsberg vor sich im Sessel sitzen sieht, aber mit ihrem Tod beginnt einer der schwierigsten Fälle seines Lebens.

Ein Fall, in dem viel zu viele Menschen zwar in der Gegenwart sterben, die Ursache dieser Morde jedoch in der Vergangenheit zu finden ist.

Und Hauptkommissar Heckert ermittelt.

Dabei gerät er in einen Sumpf übler, krankhafter, skrupelloser menschlicher Begierden und Gefühle, die ihn an der Menschheit verzweifeln lassen würden, gäbe es nicht auch noch die andere Seite, in der Liebe, Verständnis und Güte die Triebfedern menschlichen Tuns sind.

Als den DREI-UHR-MÖRDER betiteln die Medien den Täter, der die in kurzen Zeitabständen aufeinanderfolgenden Verbrechen begeht.

Welche Schuld haben Anna und Eberhard Münster auf sich geladen?

Welche Charlotte Edwards, die Heimleiterin eines Waisenhauses?

Oder der LKW-Fahrer Anton Böttcher, der die Schuld am Tod des Ehepaars Richter trägt, sich dieser Schuld jedoch nicht stellt?

Und was hat der Sozialarbeiter Kai Frieberg Schlimmes getan?

Der Drei-Uhr-Mörder weiß es, er kennt deren Schuld und straft sie für das, was in der Vergangenheit geschah.

Er tötet mit dem Gift des Schrecklichen Pfeilgiftfrosches für das es kein Gegenmittel gibt. Danach verschwindet er, als hätte er nie existiert. Wer ist dieser Mann?

Ein Schemen? Eine Fata Morgana?

Er hinterlässt weder Spuren, noch einen Hinweis auf seine Identität. Nur einen Fingerzeig, den niemand versteht.

Er entfernt aus der Armbanduhr der Getöteten die Batterie und stellt den Zeiger der Uhr auf Punkt drei Uhr.

Warum? , fragt sich Kommissar Heckert, der keinen Schritt weiterkommt. Er zieht den Psychologen Dr. Erik Bischoff zu Rate, der ihm schon einmal in einem anderen Fall beigestanden hat.

Da geschieht ein Mord, der nicht in das Schema des Drei-Uhr-Mörders passt.

Ein Trittbrettfahrer, der seine Taten diesem unterzuschieben versucht.

Aber Kommissar Heckert stellt ihm eine Falle.

Doch wird sich der Täter darin verfangen?

Und das Töten nimmt kein Ende. Und noch immer keine Spur!

Kommissar Heckert ist frustriert.

„Sollte der Drei-Uhr-Mörder mit diesem Mord seinen Rachefeldzug beenden, dann kommt er davon und geht straflos aus“, sagt Kommissar Heckert zu seinem Kollegen Kommissar Benno Schuster, der ihm unterstützend zur Seite steht.

Wird Heckert Recht behalten?

Oder finden sie zu guter Letzt doch noch die Identität des Täters heraus?

PROLOG

Drei Uhr nachts.

Der kleine Junge sitzt verängstigt in seinem Bett, unter der bis unters Kinn hochgezogenen Zudecke. Seinen zottigen Bär Dogo fest an sich gepresst, lauscht er voller Furcht auf Geräusche, welche die Stille der Nacht durchbrechen.

Schritte vor der Haustür.

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss.

Laute Geräusche im Flur.

ER IST NACH HAUSE GEKOMMEN!

Er kommt immer nachts um drei Uhr von seiner Arbeit als Nachtwächter zurück. Der kleine Junge weiß das ganz genau, denn die Angst hat ihn so sensibilisiert, dass er jede Nacht um Punkt drei Uhr aufwacht.

Unten in der Küche wird der Kühlschrank geöffnet und wieder zugeschlagen. Jetzt hat er sein Bier herausgenommen, weiß das Kind. Und dann wieder seine schweren Schritte, die im Wohnzimmer verhallen.

Der kleine Junge zieht sich die Decke hastig ganz über den Kopf. Er verhält sich mucksmäuschenstill. Sein Atem ist ganz flach, fast nur noch ein Hauch.

Vielleicht hat er Glück.

Vielleicht ist er müde von der Arbeit. Vielleicht ist er schon im Sessel eingeschlafen, hofft das Kind.

Doch seine Hoffnung erfüllt sich nicht!

„Komm sofort runter, du kleine Mistkröte“, poltert die laute, gewöhnliche Stimme seines Vaters dröhnend durch das bis eben noch so stille Haus.

„Na, wird‘s bald oder muss ich dich erst holen?“

Der kleine Junge kriecht zögernd unter der Decke hervor.

Er muss gehen.

Es gibt kein Entrinnen vor den Schmerzen, vor dem, was er ihm manchmal antut. Und es gibt niemanden der ihm hilft, niemanden, der sich überhaupt für ihn interessiert.

Ob wohl alle Väter so etwas mit ihren Kindern machen? , fragt sich der Junge nicht zum ersten Mal.

Der Vater von Jens, der im Nachbarhaus wohnt, ist immer nett zu seinem Sohn und auch zu ihm, wenn er ihn mal im Garten sieht. Aber ist er das auch des Nachts, wenn es dunkel ist und die Uhr dreimal in der Frühe schlägt? Wird er dann auch zu so einem Vater wie seiner einer ist? Aber Jens hat noch seine Mutter, die ihm dann sicherlich hilft.

Er hat niemanden!

Für ihn gibt es kein Entrinnen. Erst fünf Jahre alt, vermag er sich den abartigen Forderungen seines Vaters nicht zu entziehen.

Widerstrebend schwingt er seine dünnen Beine über den Bettrand und steht auf.

„Du bleibst besser hier, Dogo, sonst tut er dir auch noch weh“, tröstet er seinen Bären, seinen einzigen Freund, der ihn aus großen, braunen Augen mitfühlend ansieht. Der Junge streichelte ihn liebevoll, dann legt er ihn in sein Bett und deckt ihn zu.

Er bückt sich nach seinen Hausschuhen, findet sie jedoch in der Aufregung nicht.

Er hat Angst, so schreckliche Angst!

„Was ist? Kommst du endlich? Wie lange soll ich denn noch auf dich warten?“, grölt sein Vater.

Vater! Welch ein Hohn!

Dann eben ohne Hausschuhe.

Barfuß tappt der Junge aus dem Zimmer zur Treppe. Vor der ersten Stufe bleibt er stehen. Alles in ihm weigert sich hinunterzugehen.

Aus dem Wohnzimmer fällt Licht. Klirrende Geräusche. Dann lautes Rülpsen.

Das Bier, denkt der Junge verzagt.

Er löst seine kleine Hand von der Holzstrebe des Geländers, an die er sich unbewusst geklammert hat.

 

Langsam, Schritt für Schritt, steigt er die mit einem weinroten Läufer belegten Stufen hinunter. Unten angekommen bleibt er ein letztes Mal stehen.

Glucksende Geräusche. Das Einfüllen in ein Glas. Noch mehr Bier. Das ist nicht gut, denkt der Junge furchtsam.

Er nimmt allen Mut zusammen. Langsam tappt er auf seinen nackten Füßen zu der offen stehenden Wohnzimmertür.

Im Eingang bleibt er stehen.

Dasselbe Bild wie immer. Er kennt es, fürchtet und verabscheut es.

Der Mann hockt in einem Sessel, starrt seinen in der Tür stehenden Sohn böse an und schlürft wie immer Bier aus einem gewaltigen Krug. Seit ihn seine Frau verlassen hat, ist er noch unausstehlicher und noch gewalttätiger geworden.

Aber nicht alleine das ist für das Kind eine Katastrophe, sondern noch viel schlimmer ist etwas anderes, das ganz besonders verabscheuungswürdig und mit nichts zu entschuldigen ist. Dabei trägt der Junge keinerlei Schuld an dem Scheitern der Ehe seiner Eltern, sondern ist vielmehr der Leidtragende in dieser schrecklichen Tragödie.

„Du siehst genauso aus wie deine untreue Mutter“, knurrt der Mann von einem Hass erfüllt, den er aufs Schändlichste auf den unschuldigen Knaben überträgt.

„Haut einfach ab mit einem anderen Kerl und nimmt dich noch nicht mal mit. Hat sich wohl nicht allzu viel aus ihrem einzigen Kind gemacht“, schürt er das Feuer in der Wunde, die den kleinen Jungen ohnehin ständig schmerzt.

„Komm sofort her zu mir, du kleine Mistkröte“, verlangt er heiser. Dabei mustert er seinen Sohn auf eine Weise wie kein Vater sein Kind ansehen sollte.

„Ja, du wirst ihr immer ähnlicher“, murmelt er rau.

Der Junge setzt sich widerstrebend in Bewegung. Langsam tappt er auf den Mann in dem geblümten Sessel zu, der Bier in sich hineinschüttet und sich an seinem kleinen Sohn vergreift, der sich nicht wehren kann.

Die Hand seines Vaters umklammert ein scharfes Messer, eines von vielen, denn er sammelt Waffen, besonders Stichwaffen, ist regelrecht verrückt danach.

Der kleine Junge weiß das nur allzu gut.

Denn sein Vater fügt ihm gerne winzige Schnitte im unteren Bereich des Rückens zu. Nach jedem Missbrauch einen. Und die Beweise seines schändlichen Tuns mehren sich, bilden bereits einen Bereich so groß wie die Handfläche des Knaben.

Der Junge sieht seinen Peiniger verzweifelt an.

„Bitte nicht“, fleht er.

„Von wegen!

Stell dich nicht immer so an, du Kröte“, stößt sein Vater hervor und gibt ihm einen groben Schubs. Der Junge verliert das Gleichgewicht, stolpert gegen den kleinen Beistelltisch, auf dem säuberlich aufgereiht einige Messer liegen. Der Tisch stürzt um. Die Messer fallen auf den Boden.

Eine harte Hand greift nach dem schmächtigen Jungen.

„Knie dich vor mich hin. Na, wird’s bald, Kröte.“

Der Junge kommt dem Befehl weinend nach.

„Na, geht doch“, knurrt sein Vater zufrieden. „Los, mach voran, ich warte.“

Da überfällt den Jungen eine solche Panik, dass es ihn schüttelt. Unbewusst tastet seine kleine Hand über den Boden. Eine Klinge ritzt seine Haut.

Er greift zu!

„Dann eben anders“, knurrt sein Vater verärgert. „Los, dreh dich um.“

Wütend stemmt er sich aus dem Sessel hoch. Er wird sich diesen Bengel vornehmen, diesen Bengel, der aussieht wie seine verräterische Frau, ihn ständig an die erinnert, die er wie nichts auf der Welt hasst. Die seine Liebe verschmähte, nur weil er manchmal die Beherrschung verlor und sie dann das Krankenhaus aufsuchen musste.

„Ich sagte umdrehen“, befiehlt er hart.

Der Junge starrt ihn an. Und plötzlich bricht alles in und über ihm zusammen. Ekel, Demütigung, Hass und die Furcht vor neuen Schmerzen bestimmen ab sofort sein Handeln.

Er nimmt das Messer fest in seine kleine Hand.

Und dann stößt er zu, so fest er kann!

Instinktiv springt er danach zur Seite, wobei er das Messer eher aus Versehen, als mit Absicht, aus der Wunde reißt. Ein dicker Blutstrahl schießt dicht an dem Jungen vorbei, während sein Vater zusammenbricht.

Das Messer hat die Oberschenkelarterie getroffen.

„Hilf mir“, stöhnt der Schwerverletzte, dessen Blut fontänenartig aus der Wunde spritzt. Es ist verhängnisvoll für ihn, dass das Messer nicht mehr steckt, sondern aus der Wunde herausgezogen wurde.

Der Junge starrt ihn an, starrt auf die Blutlache, die den Teppich tränkt. Er lässt das Messer fallen, dreht sich um und läuft davon.

Der Mann hört ihn noch auf der Treppe und auch noch das Schließen der Zimmertür.

Und dann wird es dunkel um ihn herum und er hört nichts mehr.

Niemals mehr!

Der Junge aber schlüpft oben in seinem Zimmer unter seine Decke und nimmt Dogo in den Arm. Eng an seinen besten Freund gekuschelt schläft er ruhig ein.

UNGEBETENER BESUCH

Beatrice von Arlsberg sank erleichtert in einen Sessel. Die Ruhe hier tat ihr gut. Es war nicht leicht gewesen, für einen Augenblick der Feier zu entkommen. Aber hier, in ihrem eleganten Arbeitszimmer, konnte sie für einen Moment entspannen ohne gestört zu werden.

Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die leichte Brise, die durch die offenstehende Terrassentür hereinströmte.

Einmal jährlich, immer zum ersten Mai, lud sie ihre Freunde und Geschäftspartner zu einer Festlichkeit ein, die stets sehr viel Anklang bei den geladenen Gästen fand. Denn es war eine gute Gelegenheit, sich ungezwungen über geschäftliche Interessen auszutauschen und neue Kontakte zu knüpfen ohne dabei das Feiern und das Amüsieren zu vergessen.

Beatrice von Arlsberg war eine gepflegte, noch immer sehr schöne Frau mit ihren neunundfünfzig Jahren. Sie war hochgewachsen und sehr schlank. Ihr blondes, schulterlanges Haar trug sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Ihr leicht gebräuntes, schmales Gesicht war faltenlos und dezent geschminkt.

Das schwarze, knöchellange Abendkleid zeichnete weich ihren grazilen Körper nach. Ein schwarzer, goldbestickter Seidenschal schützte ihren schlanken Hals vor der nächtlichen Kühle. Ihre schwarzen Pumps lagen vor ihr auf dem Boden, sie hatte sie von ihren schmalen Füßen gestreift.

Außer einer kostbaren Rolex Armbanduhr zierte sie eine perfekt aufeinander abgestimmte Schmuckgarnitur aus Brillantohrsteckern, Kette und breitem Armband. Alles vom Feinsten, jedoch nicht zu überladen.

Beatrice genoss die kurze Zeit der Entspannung, die ihr nicht allzu oft vergönnt war, denn sie hatte nach dem Tod ihres Mannes die Leitung des von ihm gegründeten Immobilienunternehmens übernommen und mit viel Erfolg weiter ausgebaut. Allerdings spannte sie dieser Erfolg auch fest in das Firmengefüge ein, denn ihre Beziehungen waren unverzichtbar für das Gedeihen des Unternehmens.

Jetzt, wo ihre beiden Kinder ihr zur Seite standen, würde sie ja vielleicht etwas mehr Zeit für ihre persönlichen Bedürfnisse finden, hoffte sie.

Sie hatte im Leben viel erreicht, war vermögend, äußerst erfolgreich und mit zwei gut geratenen Kindern gesegnet. Ja, sie konnte wahrlich glücklich und zufrieden sein, war es bis vor nicht allzu langer Zeit auch gewesen.

Doch dann hatten diese Anrufe begonnen!

Hatten sie an ihre Vergangenheit erinnert, an eine Schuld, die sie in den hintersten Winkel ihrer Erinnerungen verbannt hatte.

Nein, sie bereute nichts!

Jeder musste zuerst einmal an sich selber denken, sollte versuchen, sich seine Träume zu erfüllen, war ihre Devise. Das mochte egoistisch sein, doch sie hatte es getan.

Wer sollte ihr das verdenken?

Fast jeder lud in seinem Leben irgendwann Schuld auf sich, man musste nur lernen, sie zu akzeptieren, sich nicht mit Schuldgefühlen zu belasten.

Ihr waren solche Reuegefühle fremd.

Sie war mit sich im Reinen, bereute nichts, stand auch heute noch zu ihren damaligen Entscheidungen.

Aber genug des Rückblicks. Diese unfruchtbaren Gedanken ermüdeten sie. Ihr Kopf sank gegen die Rückenlehne und sie schlief ein.

Und so bemerkte sie auch nicht den ungebetenen Besucher, der geschmeidig und vollkommen lautlos durch die offenstehende Terrassentür eingedrungen war.

Seine Schritte waren unhörbar, wurden gedämpft durch die dicken Orientteppiche, die von Wand zu Wand ausgelegt waren. Nur wenige Schritte entfernt von der Frau im Sessel blieb der Mann stehen und sah sie an.

Sein Gesicht war maskenhaft starr, spiegelte keinerlei Gefühle wieder.

Liebte er? Hasste er? Verlangte es ihn nach Geld?

Was wollte dieser Mann, der regungslos vor der schlafenden Frau stand?

Sein Blick saugte sich fest an ihrem aparten Gesicht, wanderte über den Schmuck und das elegante, aus einem teuren Modesalon stammende Kleid bis hin zu den vor ihr auf dem Teppich liegenden Schuhen.

Sie hat kleine Füße, dachte er.

Rührte ihn das? Nein, das tat es nicht.

Wieso auch? Er hatte sich entschieden.

Er griff in seine Hosentasche und nahm das kleine Lederetui heraus. Er öffnete es vorsichtig. Leise, ganz leise schnappte es auf.

Doch nicht leise genug, denn es drang in den Schlaf der Frau. Etwas war hier, etwas, das nicht hierhergehörte.

Beatrice von Arlsberg schlug die Augen auf.

AHNUNGEN

Isabella von Ayschhofen, Beatrices Tochter, wurde unruhig. Zu lange, bereits seit fast einer Stunde, war ihre Mutter verschwunden, wo sie sich doch nur einen kurzen Moment lang hatte ausruhen wollen.

„Hast du Beatrice gesehen?“, fragte sie ihren Bruder Matthias, der mit einem Glas Sekt in der Hand gerade an ihr vorbeiging. Beide sprachen ihre Mutter stets mit dem Vornamen an, sie hatte es so gewollt. Vielleicht glaubte sie, es würde sie jünger erscheinen lassen. Wer weiß.

„Ich sah sie vorhin in Richtung ihres Arbeitszimmers gehen, wenn ich nicht irre“, erwiderte Isabellas Bruder. „Wahrscheinlich ging ihr der Krach hier auf die Nerven“, fügte er schmunzelnd hinzu.

„Kann schon sein. An und für sich hat sie für derartige Feiern ja nicht allzu viel übrig. Und heute finden die Gäste ja überhaupt kein Ende“, erwiderte seine Schwester.

„Vielleicht sollten wir mal nach ihr sehen“, meinte Matthias. „Ihr kann ja auch schlecht geworden sein.“

„Beatrice? Niemals!“, winkte seine Schwester ab. „So etwas wie das Wort Krankheit, existiert doch für sie überhaupt nicht.“

„Ich sehe trotzdem mal nach. Kommst du mit, Isabella?“

„Natürlich“, erwiderte diese und hakte sich bei ihm ein.

Die Feier war noch voll in Gange. Die beiden Angehörigen der Gastgeberin vermisste man da nicht. Die Gäste hatten mit sich selbst zu tun. Das Buffet war ein Gedicht und zog immer wieder aufs Neue Interessierte an.

Isabella und Matthias schlenderten indessen den Gang entlang, der zum Arbeitszimmer ihrer Mutter führte. Isabella wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen.

„Was soll das denn?“, fragte sie überrascht.

„Beatrice! Beatrice, bist du da drin? Ist alles in Ordnung?“, rief Matthias besorgt.

Keine Antwort.

„Verstehst du das?“, fragte Isabella, bis jetzt nur verwundert, aber keineswegs besorgt.

„Das sieht ihr aber gar nicht ähnlich. Sie schließt die Tür doch nie ab“, meinte Matthias, der nun doch beunruhigt wirkte.

„Ich versuche vom Garten aus in das Zimmer zu gelangen. Warte du besser hier“, empfahl er seiner Schwester.

Isabella nickte. „Aber beeil dich. Ich habe plötzlich ein ganz komisches Gefühl“, erwiderte sie nervös.

Matthias nickte und eilte davon.

Isabella trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Irgendetwas stimmte da nicht. War Beatrice etwas passiert?

Sie hatte sich gerade dazu entschlossen ihrem Bruder zu folgen, da drehte sich der Schlüssel im Schloss.

Die Tür schwang auf.

Isabella musterte ihren Bruder, der kreidebleich im Gesicht vor ihr stand.

 

„Was ist passiert?“, flüsterte sie.

Matthias gab zögernd den Eingang frei.

Mit einem mulmigen Gefühl trat Isabella ein.

EIN NEUER FALL

Kriminalhauptkommissar Felix Heckert, fünfundfünfzig, mittelgroß, etwas untersetzt, kurzes graumeliertes Haar, intelligente graue Augen, musterte aufmerksam die Tote, die im Sessel saß und aussah, als schliefe sie.

„Ist sie eines natürlichen Todes gestorben?“, wollte er von dem Rechtsmediziner Dr. Eugen Roth wissen.

„Ich kann Ihnen das noch nicht beantworten, Felix. Aber die Wunde am Hals, dieser kleine Schnitt, lässt mich eher das Gegenteil vermuten“, erwiderte der Mediziner.

„Wahrscheinlich haben Sie recht. Also gehen wir mal vom Schlimmsten aus“, entschied der Kommissar.

„Eine gute Entscheidung. Denn nach Aussage der Tochter, war ihre Mutter nicht nur kerngesund, sondern hat sich erst vor zwei Wochen von ihrem Arzt gründlich durchchecken lassen.“

„Und wenn sie so gesund war, woran ist sie dann gestorben?“, fragte Kommissar Markus Jansen, ein durchtrainierter, schlanker Mann mit dunkelblondem Haar und warmen braunen Augen, Heckerts Freund und Kollege.

„Gute Frage, Markus. Was meinen Sie dazu, Eugen?“

„Ich meine noch gar nichts dazu, liebe Kollegen. Von mir erfahren Sie erst nach der Obduktion etwas. Wie Sie wissen, halte ich nichts von irgendwelchen vorschnellen Spekulationen“, verweigerte sich der Arzt.

„Nun sperren Sie sich doch nicht so. Wir möchten doch nur nicht unnötig in einem Fall ermitteln, dem eine ganz normale Todesursache zugrunde liegt“, erwiderte der Kommissar.

„Also, seien Sie nett, Doktor, und geben Sie mir einen Tipp. Starb sie eines natürlichen Todes oder eher nicht? Kommen Sie Eugen. Nun geben Sie ihrem Herzen schon einen Stoß“, bat Heckert.

„Also gut, Felix. Aber ich habe nichts gesagt“, baute der Arzt vor. „Meiner Meinung nach hat man sie vergiftet. Womit, das kann ich im Moment allerdings nun wirklich noch nicht sagen.“

„Und was bringt Sie zu dieser Annahme?“

„Nichts wirklich Konkretes, nur ein Gefühl, die Wunde am Hals, ihr maskenartiger Gesichtsausdruck, der auf Atemlähmung hinweisen könnte. Nervengifte rufen ähnliche Symptome hervor.

Allerdings könnte natürlich aber auch ein ganz normaler Herzinfarkt der Auslöser gewesen sein“, hielt sich der Rechtsmediziner wie immer eine Hintertür offen.

„Aber Sie glauben nicht wirklich an einen Herzinfarkt, oder?“, fragte Heckert.

„Das haben Sie gesagt“, erwiderte der Mediziner lächelnd.

„Also doch ein neuer Fall“, seufzte der Kommissar.

„Aber falls es Mord war, dann bestimmt kein Raubmord“, meinte Kommissar Jansen. „Beraubt wurde sie nämlich ganz offensichtlich nicht. Die Rolex an ihrem Handgelenk ist mindestens sechzigtausend Euro wert, wenn nicht noch mehr. Ich frage mich nur, wieso eine so kostspielige Uhr einfach stehenbleibt.“

„Wieso? Was meinst du damit?“, fragte Heckert verwundert.

„Die Uhr ist um Punkt drei Uhr stehengeblieben, aber wieso?“

„Vielleicht hat jemand die Batterie herausgenommen“, meinte der Kommissar mehr im Scherz.

Markus Jansen sah seinen Chef nachdenklich an. „Das lasse ich überprüfen“, sagte er und eilte davon.

Kommissar Heckert sah ihm kopfschüttelnd hinterher.

„Du hattest recht, Felix“, rief Kommissar Jansen schon von weitem, als er wieder zurückkam. „In der Uhr fehlt tatsächlich die Batterie.“

„Aber was soll das? Wer trägt am Handgelenk eine Uhr, die nicht funktioniert? Noch dazu eine so kostspielige?“, fragte Heckert verblüfft.

„Vielleicht hat ja der Täter die Batterie entfernt“, dachte Jansen laut. „Aber warum?“

„Vielleicht, um uns auf genau diese Uhrzeit aufmerksam zu machen“, meinte der Hauptkommissar nachdenklich.

„Du meinst, Mord! Punkt drei Uhr?“

„Ja, das meine ich. Und ich hoffe, dass es nur bei diesem einen Mord bleibt“, erwiderte Heckert. „Denn das mit dieser Uhr gefällt mir überhaupt nicht.“

„Hoffentlich artet das nicht wieder zu einem dieser kniffligen Fälle aus, Felix. Das wird nicht einfach“, seufzte Markus Jansen.

„Das ist es doch fast nie, Markus“, winkte Heckert ab.

„Ja, aber wenn es um die Wohlhabenderen in unserer Gesellschaft geht, ist es manchmal ganz besonders kompliziert.“

Nach den Befragungen einiger Gäste wurde klar, dass diese von dem, was in dem Arbeitszimmer der Hausherrin passiert war, das zudem entfernt im anderen Trakt des Gebäudes lag, nichts mitbekommen hatten. Und das sich unter ihnen der Täter aufhielt, so es sich denn wirklich um einen Mord handelte, hielt Kommissar Heckert für nicht sehr wahrscheinlich.

Also beschloss er, sich auf den Sohn und die Tochter der Verstorbenen zu konzentrieren.

Mit ernsten Gesichtern betraten Isabella und Matthias von Arlsberg das Zimmer. Isabella, optisch gesehen das genaue Gegenteil von ihrer blonden, eleganten Mutter mit ihren dunklen Haaren und den braunen Augen, wirkte sehr gefasst. Aber vielleicht war das Zeigen von Gefühlen vor Fremden in diesen Kreisen ja verpönt.

Matthias von Arlsberg, ein hochgewachsener, fast schon hagerer Mann, mit sehr kurzen, schwarzen Haaren, einem markanten Gesicht und rehbraunen Augen, gab sich sehr reserviert.

Beatrices Kinder kamen vom Aussehen her nach der Familie väterlicherseits, die alle dunkelhaarig gewesen waren.

Die Mutter dieser beiden Menschen war gerade unter noch nicht geklärten Umständen aus dem Leben geschieden, aber den Geschwistern merkte man keinerlei Gefühlsregungen an.

Da sind mir Hinterbliebene die weinen oder meinetwegen auch vor Schmerz schreien, allemal lieber, als diese beherrschten Angehörigen, ging es dem Hauptkommissar durch den Kopf, der selber großes Leid hatte erfahren müssen.

Es waren einige kleine tödliche Kugeln, verschossen in einer Bank, die seine Frau Iris zusammen mit seinen Eltern aufgesucht hatte, die seine Liebsten töteten und sein Lebensglück innerhalb weniger Sekunden zerstörten.

Alle, die sich in der Bank befanden, starben an diesem grauenvollen Tag vor knapp vier Jahren. Alle, bis auf die Bankräuber, die das Massaker angerichtet hatten. Und alles nur deshalb, weil eine der Geiseln den Mund nicht halten konnte, als sie den Anführer der Bande zufällig erkannte und beim Namen nannte.

Eine völlig sinnlose Tat, denn die Täter wurden alle zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Doch er würde diesen schrecklichen Verlust niemals verwinden, denn er liebte seine Frau noch genauso wie am ersten Tag!

„Herr von Arlsberg, würden Sie mir bitte berichten, wie Sie das Zimmer und Ihre Mutter vorgefunden haben“, bat Kommissar Heckert, sich auf die Befragung konzentrierend.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen, Herr Kommissar. Ich ging durch den Garten zu dem Arbeitszimmer, welches einen Zugang nach draußen hat. Die Tür war weit geöffnet.

Meine Mutter saß in einem Sessel. Ich nahm an, sie sei eingeschlafen. Ich ging zu ihr und sprach sie an. Als sie nicht reagierte, beugte ich mich zu ihr runter und berührte sie an der Schulter. Dabei bemerkte ich, dass sie nicht mehr atmete“, erklärte er mit rauer Stimme.

„Und dann? Was taten Sie dann?“, wollte Kommissar Jansen wissen.

„Ich begab mich zur Zimmertür und schloss auf, um meine Schwester hereinzulassen. Danach rief ich die Polizei.“

„Aber wieso riefen Sie sofort die Polizei und nicht zuerst einen Rettungswagen?“, fragte Heckert befremdet.

„Sie atmete nicht mehr. Um zu begreifen, was das bedeutete, benötigte ich keinen Arzt“, erwiderte Matthias von Arlsberg.

„Können Sie uns auch noch etwas dazu sagen, Frau von Ayschhofen?“, fragte der Hauptkommissar.

„Nein. Ich sah Beatrice im Sessel sitzen. Aber da wusste ich ja schon von meinem Bruder, dass sie nicht mehr lebte“, sagte sie leise. „Und da sie ein absolut gesunder Mensch gewesen ist, wurde mir klar, dass ihr plötzliches Ableben nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Deshalb wandten wir uns sofort an die Polizei.“

„Wie wurde sie getötet?“, fragte Matthias leise.

„Das wissen wir noch nicht. Näheres können wir erst nach der Obduktion sagen“, erwiderte Heckert.

Später, nachdem sämtliche Gäste und auch die Polizei verschwunden waren, saßen die Geschwister noch beieinander. Obwohl sie ihre Gefühle vor Fremden verborgen hatten, waren sie traurig und geschockt über das so jähe Ableben ihrer Mutter. Nichts hatte sie darauf vorbereitet, dass so etwas plötzlich passieren könnte.

Und doch war es geschehen.

„Und was soll jetzt werden, Matthias?“, fragte Isabella verzagt.

„Du meinst mit der Firma und dem übrigen Besitz?“

„Ja, das meine ich. Ich mache mir Sorgen, dass diese Verantwortung für uns zu groß sein könnte“, sagte Isabella bedrückt.

„Das glaube ich nicht. Wir kennen die Materie. Wir führen das Unternehmen gemeinsam weiter, jeder auf dem Gebiet, welches ihm am meisten liegt. Aber warten wir doch erst einmal die Testamentseröffnung ab. Wer weiß, vielleicht hat Beatrice schon lange im Voraus etwas geplant, von dem wir jetzt noch gar nichts wissen“, erwiderte Matthias.

Isabella sah nachdenklich vor sich hin. „Ich begreife das einfach nicht“, sagte sie nach einer Weile. „Wer könnte sie getötet haben? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie irgendwelche Feinde hatte.“

„Einen muss sie auf jeden Fall gehabt haben, nicht wahr?“, erwiderte ihr Bruder.

„Aber wieso?“

„Dafür gibt es vielerlei Gründe, Isabella. Ich denke da an Hass, Rache, Neid, Bosheit, Habsucht und was es sonst noch alles gibt. Sieh dir doch nur mal an, was täglich für Verbrechen geschehen. Davor ist letztendlich niemand sicher und die, die wohlhabend sind, schon gar nicht. Selbst Leibwächter können die ihnen anvertrauten Personen nicht hundertprozentig schützen. Man kann immer nur darauf hoffen, dass einem nichts Böses passiert.“

„Sie wird uns fehlen, Matthias, auch wenn sie eine nicht besonders liebevolle und zärtliche Mutter war, die ihre Zuneigung leider nur sehr selten zeigte“, sagte Isabella traurig.

„Ja, sicher wird sie uns fehlen, aber am stärksten wohl in geschäftlicher Hinsicht“, erwiderte Matthias sachlich.

„Aber sie hat uns doch geliebt, Matthias. Oder meinst du nicht?“

„Auf ihre Art vielleicht schon, aber bestimmt lange nicht so wie das Unternehmen, welches ihr ein und alles war!“