Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes

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Gerade, als er antworten wollte, läutete sein Handy. Ungelenk holte er es aus der Seitentasche seiner braunen Cordhose. „Hallo?“, meldete er sich und wandte Annie den Rücken zu. „Ja, das ist kein Problem.“ Er horchte kurz zu. „Morgen Nachmittag? Meinetwegen. Aber ich habe noch nicht zugesagt. Ja, ja, jetzt hetzen Sie mich nicht, sonst können Sie es gleich vergessen.“ Erneut war er still. Dabei nickte er ein paar Mal. „Hören Sie, das können wir morgen besprechen. Ich bin gerade auf dem Weg in die Kirche. Bis dann.“ Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht wandte er sich wieder Annie zu und steckte das Handy ein.

„Alles in Ordnung?“, forschte sie nach. „Soll ich vielleicht morgen nach meiner Arbeit zu dir kommen?“

„Warum? Du hast erst gestern bei mir geputzt.“

„Ich dachte nur. Immerhin bekommst du Besuch.“ Ihre zweite Putzstelle hatte sie bei Hermes, der sie vermutlich eher aus Mitleid eingestellt hatte, als dass er tatsächlich jemanden brauchte. „Ich könnte einen Kuchen backen oder dir anderweitig helfen.“

„Nein“, kam es hastig zurück. „Das schaffe ich schon.“ Plötzlich schien er nervös. „Annie, ich bin sehr zufrieden mit deiner Leistung. Nichts desto trotz hoffe ich, dass du über kurz oder lang eine angemessenere Stelle findest.“

„Willst du mir etwas Bestimmtes damit sagen?“, wurde ihr angst und bange.

„Ich denke nur an deine Zukunft, Kleines. Und jetzt muss ich los. Ein alter Mann wie ich braucht ein wenig Schlaf. Wir sehen uns übermorgen.“

„Natürlich. Ich werde pünktlich bei dir sein.“

Sein Grinsen nahm ihr die Furcht, dass sich etwas über ihrem Kopf zusammenbraute. „Ich weiß. Wie immer auf die letzte Sekunde.“ Hermes zwinkerte ihr zu, dann eilte er zum Parkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Annie blickte ihm kurz nach, bevor sie wieder emsig in die Pedale trat.

Zuhause angekommen stellte sie das Rad in den Schuppen und schaute auf das Surfbrett, das vor sich hin rottete, bevor sie hinausging und die Tür hinter sich schloss. Als sie zum Eingang eilte, warf sie einen schnellen Blick zur Bucht hinunter. Hinter den Fenstern des Breakers Beach Café brannte Licht, da es mittlerweile dämmrig war. Ob Roger die Frechheit besaß und mit seiner Trish sogar in ihrem Stammlokal verkehrte? Ihr Ex wusste, wie viel ihr dieser Ort bedeutete, der mit unzähligen wunderbaren Erinnerungen gespickt war. Häufig waren sie dort gewesen, obwohl Roger lieber auf seinem Fahrrad saß, als in einem Lokal. Oder er pumpte im Fitness-Studio seine Muskeln auf, die er auf dem Tennisplatz spielen ließ. Wer brauchte ein T-Shirt, wenn man mit nacktem Oberkörper auf dem Platz glänzen konnte? All das und vieles mehr tat er lieber, statt sich mit ihr einen malerischen Sonnenuntergang oder das Sternenzelt bei klarem Nachthimmel anzusehen. Ließ er sich dennoch dazu überreden, zerstörte er nicht selten die Stimmung, indem er die Sache mit dem Karussell aufwärmte.

Nein, romantisch war Roger nie gewesen. Zumindest nicht während ihrer Beziehung. Seitdem Trish und er ein Paar waren, hatte er sich scheinbar geändert und tat mit dieser dummen Pute alles, was er bis dahin verpönte. Das Schlimmste war jedoch, dass Annie nach wie vor an Liebeskummer litt. Immerhin war er der erste Mann gewesen, mit dem sie sich alles hätte vorstellen können. Leider entpuppte er sich als Mistkerl. Monatelang hatte er sie mit Trish betrogen. So einem trauerte man nicht nach, so einen wünschte man höchstens zum Mond. Dennoch tat es weh. Sehr sogar …

Am nächsten Morgen fühlte sich Annie an einen Film erinnert: Und täglich grüßt das Murmeltier. Zum einen hatte sie sich wegen Roger die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, zum anderen suchte sie gerade das Cottage nach Bier und Schnapsflaschen ab. Eine tägliche Routine, da sich ihr Dad immer wieder neue Verstecke einfallen ließ. Ob im Wohnzimmer-Kamin oder in diversen Schubladen, in leeren Aftershave-Flaschen oder hinter der Heizanlage, sie wurde meistens fündig. Auch vorhin hatte sie eine Flasche Schnaps in einem seiner Winterstiefel im Schuhschrank entdeckt. Vielleicht sollte sie sich das Suchen abgewöhnen, denn er würde trotzdem sturzbetrunken sein, wenn sie nach Dienstschluss heimkam.

Helfen konnte sie ihm ohnehin nicht, solange er es nicht zuließ oder von selbst einsah, was er sich damit antat. Ein Arzt hatte ihr sogar knallhart dazu geraten, ihn links liegen zu lassen. Erst wenn niemand mehr die Kastanien für ihn aus dem Feuer holte und er ganz unten angekommen wäre, würde er vielleicht zur Besinnung kommen. Ein nachvollziehbarer Ratschlag, der im Augenblick jedoch keine Option war.

Ein Blick auf die Wohnzimmeruhr zeigte Annie, dass sie sich sputen musste. Schnell eilte sie in die Diele, nahm die braune Korbtasche und den Schlüssel vom Haken, versperrte das Haus und lief zum Auto. Kurz darauf war sie unterwegs und ärgerte sich, dass sie ihre Jeansjacke vergessen hatte, denn die Morgentemperaturen waren ziemlich frisch. Deshalb stellte sie die Heizung bis zum Anschlag und freute sich bereits jetzt auf den Dienstschluss. Obwohl die Arbeit an sich in Ordnung war. Die Kollegen ebenfalls. Bis auf eine, die es mit dem Putzen nicht so genau nahm. Mit ihrem Chef wurde Annie auch nicht warm. Harry hatte einen lauten Kommandoton und ließ jeden deutlich spüren, dass er von ihm bezahlt wurde.

Das Last Inn war ein Drei-Sterne-Hotel und lag etwas außerhalb von St. Agnes. Gott sei Dank funktionierte die alte Rostlaube ihrer Eltern tadellos, was Annie eine gewisse Freiheit schenkte.

„Was soll das denn?“, entfuhr es ihr, als sie den Wagen zu den Parkplätzen hinter dem Hotel lenkte. Irgendein Vollidiot hatte eine weiße Luxuslimousine auf ihrem Platz abgestellt und besetzte sogar den zweiten dahinter. Dabei parkte hier ausschließlich das Personal. Typisch VIP. Die glaubten alle, ihnen würde die Welt gehören!

Verärgert manövrierte Annie ihren roten Alfa Romeo in die winzige Lücke zwischen die Limousine und Harrys Geländewagen, was ihr erst nach einigen Anläufen gelang. Als ihr Auto endlich stand, war sie völlig durchgeschwitzt. Nicht nur, weil sie Einparken hasste, sondern weil sie inzwischen vor Wut kochte wie ein Dampfkessel.

„Na warte“, zischte sie, „wenn mir dieser Heini unterkommt …“ Sie schnappte ihre Korbtasche vom Beifahrersitz und öffnete die Tür. Im selben Moment ertönte ein Knall, der sie zusammenfahren ließ. Entsetzt starrte sie auf die Limousine – die plötzlich näher war als in ihrer Erinnerung – und zwängte sich wie in Zeitlupe aus dem Auto. Die Kratzer und die tiefe Beule an der Limousinen-Tür schienen sie förmlich anzugrinsen. Dabei fragte sich Annie in Sekundenschnelle, wie viel eine Reparatur kosten würde. Die Versicherung hatte sie nämlich aus Geldnot vor kurzem gekündigt …

„Herrgott, kann man in dieser Pampa nicht einmal in Ruhe telefonieren?“, ertönte eine dunkle Stimme, ehe ein Mann auf der anderen Seite ausstieg und im Nu bei ihr war. Mit wichtiger Miene und einem goldenen Handy in der gepflegten Hand besah er sich den Schaden, der zu auffällig war, um ihn nicht auf den ersten Blick zu sehen. Dann richtete sich der Unbekannte zu seiner vollen Größe auf und überragte Annie um einen Kopf.

Zugegeben, ein äußerst attraktiver Mann, dessen markante Gesichtszüge und der Dreitagesbart an den Schauspieler Scott Eastwood erinnerten. Auch das volle schwarze Haar, die muskulöse Figur und die stahlblauen Augen waren nicht von schlechten Eltern. Allerdings hätte nicht einmal der beste Schauspieler Hollywoods ein so bitterböses Gesicht hinbekommen. „Können Sie nicht aufpassen?“, fuhr der Fremde sie an.

„Es tut mir leid“, sagte Annie den Tränen nahe. „Ich habe Ihre Limousine völlig übersehen.“

„Sicher“, kam es von oben herab, „der Wagen ist ja nur knappe fünf Meter lang.“

„Haben Sie das sarkastisch gemeint?“

Er zog die rechte Augenbraue hoch. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Hören Sie, das Ganze ist mir furchtbar peinlich“, blieb Annie freundlich, obwohl es erneut in ihr zu brodeln begann.

„Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“, pflaumte er sie weiter an. „Das Wort peinlich steht bei mir nämlich ganz unten auf der Liste. Da liegen mir ganz andere Worte auf der Zunge.“

In dieser Hinsicht ging es Annie ähnlich wie ihm, denn dieser Mann war die pure Überheblichkeit in Person. Obendrein schien er sein Aftershave bis zum Abwinken zu benutzen. Der süße Geruch erinnerte sie stark an Roger, was sie ihrem Gegenüber ebenfalls negativ auslegte. Doch sie musste sich zusammenreißen. Es wäre wenig hilfreich, wenn sie sich diesen Mann zum Feind machte. „Vermutlich war ich in Gedanken woanders.“

„Wo denn? Bei Ihrer nächsten Maniküre?“

„Sehe ich so aus, als ob ich mir das leisten könnte?“, wurde Annie ebenfalls patzig und vergaß ihre guten Vorsätze. Alles musste sie sich von diesem Wichtigtuer nicht gefallen lassen. „Oder wirke ich auf Sie, als hätte ich genug Geld, um für den Schaden aufzukommen?“

„Wozu gibt es Versicherungen?“

„Um die Leute auszunehmen. Sehen Sie, die Haftplicht war extrem teuer. Deswegen habe ich sie gekündigt und suche gerade nach einem neuen Versicherungsunternehmen, das für kleine Leute wie mich ein Herz hat.“

„Was?“, brauste er auf und musterte sie wie eine Fata Morgana. „Sie sind nicht versichert?“

„Exakt.“

„Das ist eine Straftat! Sind in dieser Gegend alle so kriminell und naiv wie Sie?“

„Ich habe es nicht nötig, mich von Ihnen beleidigen zu lassen!“

„Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung.“ Seine Augen funkelten zornig, während er das Handy auf das Limousinen-Dach legte und sich herrisch durch das dichte Haar fuhr, bevor er seine Hände in die Taschen der dunkelblauen Stoffhose schob, die sicher nicht von der Stange kam. Genauso wenig wie das weiße Hemd und die blaue Krawatte mit so vielen Punkten, dass einem regelrecht schwindlig werden konnte.

 

„Nur zu Ihrer Information: Mein Auto hat auch einiges abgekriegt.“ Annie versuchte möglichst selbstsicher zu klingen, was ihr aber nur bedingt gelang, weil die eventuellen Reparaturkosten wie ein Damoklesschwert über ihr hingen. Abgesehen von diesem Möchtegern-Eastwood, über den sie sich stundenlang hätte aufregen können.

„Das wird ja immer besser! Sonst noch was?“

Annie nickte. „Unter uns gesagt: So wie Sie parkt doch kein Mensch“, ging sie vollends in die Offensive und schmetterte ihre Autotür zu. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss.

„Nicht einmal Zentralverriegelung hat Ihre Karre“, vernahm Annie ihren Gegner. „Aus welchem Jahrhundert stammt der Wagen denn?“

Sie wandte sich halb um, während sie gleichzeitig am Schlüssel nestelte. Das verdammte Ding klemmte! „Leider aus einem, wofür sich eine Versicherung ohnehin nicht mehr lohnt. Ganz so naiv wie Sie denken bin ich also nicht. Deswegen ist mir klar, dass wir ein fettes Problem haben.“

„Wir?“, platzte er nun vollends. „Sie haben ein fettes Problem und wollen sich bloß drücken. Nebenbei scheinen Sie den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben. Also wenn ich es nicht eilig hätte, würde ich am liebsten die Polizei rufen. Aber um dem Ganzen ein Ende zu bereiten: Geben Sie mir Ihre Visitenkarte, damit ich weiß, an wen ich die Rechnung schicken muss.“

Annie wurde panisch und zerrte regelrecht am Schlüssel. „Auch Visitenkarten übersteigen mein Budget und ich will gar nicht wissen, wie viel meine Autotür kostet. Die ist völlig hinüber!“ Jetzt hieß es kämpfen, ansonsten konnte sie Privatinsolvenz anmelden.

„Ihr Auto sieht überall so aus“, verschaffte er sich weiter Luft. „Verdammt noch mal, könnten Sie sich gefälligst zu mir umdrehen, wenn ich mit Ihnen spreche? Oder ist Ihre Auffassung von Höflichkeit genauso überholt wie dieses Vehikel?“

Mit einem genervten Ausruf ließ Annie vom Schlüssel ab und drehte sich zu ihm um. Erneut stieg ihr sein Aftershave in die Nase. „Ausgerechnet Sie reden von Höflichkeit? Spielen sich auf wie ein Millionär, der glaubt, mit dem Fußvolk kann man es ja machen.“

„Ich bin Millionär“, stellte er mit Arroganz in der Miene fest und kniff die Augen zusammen. „Wie heißen Sie eigentlich, Miss …“ Er beugte sich etwas näher. Himmel, diese Augen … aber sie konnte er damit nicht beeindrucken. Sie nicht!

„Miss Butler“, log Annie.

„Und Ihr Vorname?“

Freiwillig würde sie ihren Namen bestimmt nicht herausrücken! „Vom Winde verweht. Meine Eltern haben eine Schwäche für alte Filme.“ Annie schulterte ihre Tasche und warf einen schnellen Blick auf die Armbanduhr ihres Großvaters, die sie seit seinem Tod trug. Ungeachtet dessen, dass es eine Herrenruhr war. Doch sie lief wie ein Rädchen und zeigte ihr, dass sie in fünf Minuten ihren Dienst antreten musste. Pünktlich. Harry war auch in dieser Beziehung unerbittlich.

„Vom Winde verweht also“, wiederholte der Unbekannte etwas ruhiger und plötzlich lag ein Schmunzeln um seinen Mund. „Sie sind nicht schlecht. Der Punkt geht an Sie.“ Wenigstens hatte er Sinn für Humor. Einen schlichten, aber immerhin. „Nun, wie wollen wir das jetzt handhaben?“ Kurz lächelte er, was ihn beinahe sympathisch machte.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Annie wahrheitsgemäß und zuckte mit den Schultern. Plötzlich schien die dicke Luft entwichen zu sein. Auf beiden Seiten.

„Das darf doch nicht wahr sein! Annie, was hast du schon wieder angestellt?“

Wie von der Tarantel gestochen wirbelte sie herum. Mit hochrotem Gesicht walzte Harry auf sie zu. Dabei verrutschte ihm die Hornbrille. Wie eh war er gekleidet wie ein Buchhalter aus früheren Tagen. Nadelstreifhose, weißes Hemd, Hosenträger und Ärmelhalter.

„Ich kann alles erklären“, stammelte Annie, obwohl sie sich keinen Reim darauf machen konnte, weshalb er so aufgebracht war. „Ähm, was genau …“

„Erspar mir die faulen Ausreden“, fuhr Harry ihr über den Mund, als er vor ihr stand. Dabei schnappte er nach Luft und stemmte die Hände in die breiten Hüften. „Ich habe alles von meinem Büro aus gesehen. Du hast Mister Flatleys Limousine beschädigt.“

„Das haben die Dame und ich bereits besprochen.“ Der Mann schaute Annie kurz an. „Wir müssen lediglich die Formalitäten klären.“

„Womit wir schon zwei wären“, stieß Harry in dieselbe Kerbe. „In fünf Minuten bei mir im Büro, Annie. Dann kannst du deine Papiere abholen. Den ausstehenden Lohn überweise ich dir selbstverständlich. Ich bin ja kein Unmensch.“

„Soll das heißen, dass du mich … feuerst?“ Annie hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihr wie ein breiter schwarzer Schlund öffnen.

„Richtig, und zwar hochkant. Mister Flatley ist nicht irgendwer und ein Verhalten wie dieses dulde ich nicht unter meinen Angestellten. Man hat dein Keifen bis in die Lobby gehört.“

„Ist ein Rauswurf nicht etwas übertrieben?“, sprang ausgerechnet Flatley für Annie in die Bresche, die ihn überrascht anschaute. Er indes konzentrierte sich voll und ganz auf Harry. „Die Sache ist kaum der Rede wert und ich war bestimmt nicht leiser als die junge Dame.“

„Aber Sie arbeiten im Gegensatz zu Annie nicht für mich“, wurde er von Harry belehrt. „Es bleibt bei der Kündigung. Außerdem muss ich ohnehin Personal einsparen und …“

„… da kommt dir das ganz gelegen, nicht wahr?“, unterbrach Annie ihn.

„Ich bin nicht bei der Wohlfahrt und muss selbst zusehen, wo ich bleibe. Also, Rapport in fünf Minuten“, wiederholte Harry und zog ab.

Ungläubig starrte Annie ihm nach und fühlte sich wie gelähmt. Dann zerrte sie neuerlich am Schlüssel. Zum Teufel mit den Papieren! Sie wollte einfach nur weg. Sollte Harry ihr den ganzen Kram schicken, da sie keine zehn Pferde in sein Büro bringen würden. Dieser Arsch hatte mit Sicherheit vor, ihre Situation bis zur letzten Sekunde auszukosten, um sich wieder einmal zu profilieren. Nein, erniedrigen lassen musste sie sich nicht. Das hatte er ohnehin schon genug getan!

„Sie finden sicher etwas Neues“, vernahm sie Flatley.

Annie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Ersparen Sie mir diese dummen Floskeln!“

„Schon gut. Dann finden Sie eben nichts Neues.“

Sie kämpfte gegen die Tränen an. „Nur Ihretwegen bin ich in dieser beschissenen Lage! Vielen Dank auch.“ Es war ungerecht, das war ihr bewusst, aber sie konnte nicht anders. Weil dieser Mann alles zu haben schien, sie hingegen weniger als nichts. Diese Welt war einfach nicht gerecht. Außerdem hatte der Streit mit Flatley den Stein ins Rollen gebracht, den Harry ihr nun rücksichtslos an den Kopf geworfen hatte. Obwohl ihr klar war, dass ihr ehemaliger Chef nur auf einen passenden Moment gewartet hatte. Für so einen Mann wollte sie ohnehin nicht mehr arbeiten, obwohl der Lohn an allen Ecken und Enden fehlen würde. Zahlte sie die Raten nicht pünktlich, käme das Geschäft des Großvaters unter den Hammer. Allein der Gedanke daran trieb ihr neuerlich Tränen in die Augen. „Dieser verdammte Schlüssel!“, schimpfte sie mit weinerlicher Stimme. Zuerst ließ er sich nicht umdrehen, jetzt nicht mehr herausziehen.

„So wird das nichts“, stellte Flatley fest und berührte sie sanft am Arm. „Lassen Sie mich das machen.“ Annie zögerte, bevor sie einen Schritt zur Seite trat. Kurz darauf hatte er den Schlüssel herausgezogen und gab ihn ihr. Dabei berührten sich ihre Hände. „Ich bin übrigens Jack Flatley und den Schaden lasse ich auf meine Kosten regulieren.“

„Das … das ist sehr nett, Mister Flatley“, stotterte Annie völlig überrumpelt von seinem Entgegenkommen.

„Kein Problem. Ich spende dauernd an Bedürftige und kann die Summe abschreiben.“

Bedürftige? So wirkte sie also auf ihn? Ob er irgendeine Ahnung hatte, wie beschämend das für sie war? „Um ehrlich zu sein“, begann Annie mit frostiger Stimme, „hätte ich nicht gewusst, wie ich den Schaden bezahlen soll. Insofern bin ich Ihnen sehr dankbar, auch wenn ich nicht danach aussehe. Trotz allem habe ich meinen Stolz und arbeite hart, um mein Leben zu bestreiten. Davon haben Menschen wie Sie jedoch keine Ahnung, die Spende und steuerlich absetzen in einem Atemzug nennen. Und wenn ich mir einen kleinen Rat erlauben darf: Stecken Sie nicht jeden in eine Schublade, egal, welches Auto er fährt.“

„Tun Sie das nicht auch?“ Sein Lächeln verwirrte sie. „Alles Gute für Sie … Annie.“

Sie blickten sich an. Der Wind spielte mit seinem Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er strich es zurück und als er nach dem Handy griff, straffte Annie die Schultern.

„Ihnen auch, Mister Flatley.“ Ein letzter Blickwechsel, dann stieg sie ins Auto und preschte Sekunden später mit Vollgas vom Parkplatz. Das hieß bei ihrem Alfa von 0 auf 20 und das erlaubte einen etwas längeren Blick in den Rückspiegel. Flatley stand unbeweglich da und schaute ihr nach, bis sie um die Kurve verschwunden war. So übel schien er gar nicht zu sein, obwohl er alles dafür tat, dass man es nicht bemerkte.

Eine Stunde später saß Annie in der St. Materiana’s Kirche. Früher war sie mit ihren Eltern und Sandy oft zum Sonntagsgottesdienst gekommen. Doch nach ihrem Tod gehörte diese Tradition ebenfalls der Vergangenheit an. Trotzdem empfand sie Trost, weil der Weihrauch-Duft so viel Vertrautes hatte. Die Heiligenbilder mit den kitschigen goldenen Rahmen, die bunten Glasfenster, das große Kruzifix nahe dem Altar oder die Bank, auf der Sandy und sie mit einer Nagelfeile ihre Initialen eingeritzt hatten. „Was willst du mir noch antun, Gott?“, flüsterte Annie und hörte auf einmal Schritte hinter sich.

„Was für ein seltener Anblick. Du in meinem Gotteshaus?“, hallte es durch das Gemäuer, bevor Jeremy die Bank erreicht hatte. Obwohl Annie ihren Onkel liebte, fühlte sie sich von ihm gestört. Mürrisch rückte sie zur Seite.

Laut schnaufend nahm Jeremy neben ihr Platz. Dabei knarrte die Bank, weil er ein stattliches Gewicht hatte. „Du siehst erbärmlich aus. Geht es deinem Vater schlechter?“

Immer dieselben Fragen, als gäbe es keinen anderen Inhalt in ihrem Leben. Aber gab es den tatsächlich? „Ich habe soeben meinen Job verloren“, platzte sie mit der Neuigkeit heraus und weinte wieder, obwohl sie das nicht wollte. Erst recht nicht den Weinkrampf, der sich einstellte, da Jeremy sie in die Arme nahm und sanft wiegte. Eine väterliche Geste, die unheimlich guttat. So saßen sie eine Weile da, bis sich Annie von ihm löste.

„Es geht schon wieder“, behauptete sie. „Eigentlich sollte ich daran gewöhnt sein, dass mein Leben eine einzige Pechsträhne ist.“ Sie hörte sich nach Selbstmitleid an und ja, momentan tat sie sich verdammt leid!

„Daran sollte sich niemand gewöhnen müssen“, dementierte Jeremy, der in seiner Freizeitkleidung – den blauen Shorts und einem türkisen T-Shirt – eher wie ein Tourist wirkte. Aber heute war Mittwoch und da pflegte er fischen zu gehen. Deswegen umwehte ihn ein strenger Geruch, was Annie jedoch nicht störte. Zu wenig gab es inzwischen, das ihr noch vertraut war.

„Möchtest du mir alles erzählen?“, fragte er in mitfühlendem Ton und lächelte aufmunternd. Ihr Onkel hatte fülliges dunkelblondes Lockenhaar mit grauem Ansatz, grüne Augen wie Annie und ein wettergegerbtes Gesicht wie es ihr Grandpa hatte. An den Wangen zeigten sich viele rote Äderchen und die buschigen Augenbrauen waren zusammengewachsen. Obwohl er auf den ersten Blick nicht viel Ähnlichkeit mit der Mutter besaß, so war sie auf dem zweiten Blick doch erkennbar. Erst recht, wenn er lächelte. „Also?“ Jeremy schaute sie abwartend an.

Annie atmete tief ein, dann berichtete sie, was sich zugetragen hatte. Darüber zu reden tat zwar gut, es hielt ihr aber noch deutlicher vor Augen, in welcher Misere sie steckte.

Als sie geendet hatte, schwieg Jeremy eine Weile.

„Immerhin hat dich der Bursche davonkommen lassen. Demnach ist nicht alles schiefgelaufen. Für alles andere wird sich ebenfalls eine Lösung finden“, redete er Annie schließlich gut zu und tätschelte ihre Hand. „Weißt du, manchmal würde ich deinen Vater am liebsten mit dem Papamobil überrollen. Ein paar Mal hintereinander. Kreuz und quer, von links nach rechts und zum Schluss auf ihm parken.“ Entschuldigend blickte er zum Altar, auf dem einige Kerzen brannten. „Du musstest seinetwegen zu viel aufgeben. Dabei sehe ich immer noch das kleine Mädchen vor mir, das ihren Großvater ständig im Geschäft besuchte.“ Annies Herz zog sich zusammen. „Dad hielt große Stücke auf dich.“

 

„Umso größer wäre seine Enttäuschung, dass ich seinen Lebenstraum nicht weiterführe.“

„Die Ausbildung als Schmuckdesignerin hast du mit Bravour geschafft. Alles andere liegt leider nicht in deiner Macht, Annie.“ Er seufzte. „Wäre dein Vater nicht ein solcher Trunkenbold, müssten wir erst gar nicht darüber reden. Das Geschäft würde mit dir als Chefin bestimmt florieren, denn du hast eindeutig das Talent deines Großvaters geerbt. Im Gegensatz zu mir. Zwar bin ich ein As im Predigen, mit Kunst habe ich hingegen nichts am Hut. Dahingehend wurde meine Schwester reicher beschenkt als ich. Sie wartet übrigens förmlich darauf, dass du dich zur Abwechslung bei ihr meldest.“

„Warum sollte ich?“

„Weil sie deine Mutter ist?“

„Das hat sie nicht daran gehindert, mich zu verlassen.“

„Sie hat deinen Dad verlassen, nicht ihr Kind.“

„Augenauswischerei. Es kommt beides auf dasselbe heraus.“

„Mary hat sich bestimmt nicht mit Ruhm bekleckert“, räumte Jeremy ein. „Doch über mangelnde Liebe konntest du dich nie beklagen.“ Annie musste ihrem Onkel innerlich beipflichten. Wenngleich zähneknirschend, weil sich ihr schlechtes Gewissen meldete. „Jetzt wäre deine Mom an der Reihe. Statt jedes Gespräch abzublocken, solltest du dir anhören, was sie zu sagen hat.“ Er schwieg erneut, als ob er seine Worte wirken lassen wollte. „Sicher, ihr Handeln mag der Auslöser für eure Situation gewesen sein, doch das hat Mary bestimmt zuletzt gewollt. Gib ihr eine Chance. Deine Mutter leidet.“

„Du verteidigst Ehebruch?“, nagelte Annie ihn fest.

„Ich kenne die zehn Gebote, falls du darauf anspielen willst und natürlich missbillige ich als Pfarrer, was sie getan hat. Als Bruder weiß ich allerdings, wie unglücklich sie war. Es begann mit Sandys Tod. Dein Dad stürzte sich in seine Arbeit als Baumeister, deine Mom wandte sich der Kunst zu und du hast an der Schwelle des Erwachsenwerdens gestanden. Ein junger Mensch, dessen Leben weiterging im Gegensatz zu dem deiner Eltern. Sie schwiegen das Thema buchstäblich tot. Damit begann ihre Entfremdung, die schließlich in dieser Affäre endete.“

„Demnach kann sich jeder nach einem Schicksalsschlag in fremden Betten tummeln und ist über alle Zweifel erhaben? Bloß, weil er einen triftigen Grund dafür hat?“

Jeremy lächelte nachsichtig. „Ich sehe schon, du willst mich nicht verstehen. Trotzdem solltest du darüber nachdenken, ob du deine Mom genauso verurteilen würdest, wenn dein Vater nicht zu trinken angefangen hätte.“

„Hier geht es aber nicht um hypothetische Fragen, sondern um die Realität und die lässt sich nicht schönreden. Weder mit Verständnis für Mom noch mit ein paar guten Worten.“

„Du bedauerst deinen Vater, das leuchtet mir ein. Immerhin lebst du mit ihm zusammen und musst das Elend jeden Tag ertragen. Doch so leid mir Joseph tut, vergeude nicht deine Zeit und opfere dich für ihn auf, denn das würdest du eines Tages bereuen.“

„Das sagt sich so leicht.“

„Mag sein, allerdings sehe ich viel von deiner Mutter in dir. Sie heiratete deinen Vater, weil sie schwanger war. Ihren Traum von einem Kunststudium gab sie dafür auf. Aber wenn etwas so lange präsent war, rächt sich das eines Tages. Weil man irgendwann das Gefühl hat, etwas versäumt zu haben. Womöglich hätte sich deine Mom in ihrer Ehe verwirklicht, nur hat leider jede Miesmuschel mehr Feingefühl als dein Vater. Trotzdem hat sie ihn geliebt. Sehr sogar. Vielleicht liebt sie ihn noch immer.“

Abrupt wandte Annie den Kopf. „Wie kommst du darauf?“

Ihr Onkel räusperte sich. „Nun, sie spricht oft von Joseph und fragt nach ihm. Es ist offenkundig, dass sie sich große Sorgen um euch macht. Mary würde euch auch finanziell gern unter die Arme greifen. Jetzt kann sie es sich schließlich leisten. Ihre Bilder sind in aller Munde.“

„Schön für Mom. Aber wir schaffen es sicher ohne ihre Almosen.“

„Das sind keine Almosen. Sie will vor allem dir helfen.“

„Nein, Jeremy, sie möchte sich mit Geld meine Zuneigung zurückkaufen.“

„Du hast denselben Stolz wie dein Vater“, wurde Jeremy etwas forscher. „Tragischerweise scheint ihr beide zu vergessen, dass ihr ihn euch nicht leisten könnt. Ich an deiner Stelle würde Mary anrufen und sie bitten, euch beizustehen. Wie ich sie kenne, stünde sie bereits morgen vor der Tür. Wer weiß, womöglich würde sie es sogar schaffen, Joseph von der Flasche wegzubringen.“

„Dad würde Mutter sofort zurücknehmen, so sehr liebt er sie“, erinnerte sich Annie an ihr Gespräch in der Küche. „Wenn Mom ihn allerdings so sehen müsste … er würde sich in Grund und Boden schämen. Dad, ein Schatten seiner selbst und sie, die sich mitten im zweiten Frühling befindet. Der Schuss würde nur nach hinten losgehen.“ Annie richtete sich auf. „Beenden wir das unsinnige Gespräch. Die beiden lassen sich scheiden und damit basta.“

„Apropos Scheidung“, wurde Jeremy hektisch, „in einer Stunde erwarte ich ein junges Paar zum Traugespräch.“ Schwerfällig erhob er sich. „Melde dich, wenn du mich brauchst … oder Geld. Viel habe ich nicht, doch es reicht, um euch eine Weile über Wasser halten zu können. Vom Geschäft ganz zu schweigen. Mein Dad hat es dir vermacht und nicht der Bank. Also, wenn ich etwas tun kann, lass es mich wissen.“