Mit schlechten Karten gut gespielt

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Mit schlechten Karten gut gespielt
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Brigitte Muth-Oelschner

Werner Hübner

MIT SCHLECHTEN KARTEN GUT GESPIELT

Kindheit in Kriegs- und Nachkriegsjahren

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei den Herausgebern

Titelbild von Natalia Rudolf

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Mut und Entschlossenheit

Als junges Mädchen auf der Flucht

Krieg, Krankheit, Kummer – die Hoffnung siegt

Die zwei Welten meiner Kindheit

Kleine Sterne leuchten immer

Heimatlos in Kriegs- und Nachkriegsjahren

Als das Leben wieder neu begann

Ein Jungenleben in der Nachkriegszeit

Vorwort

Vor Ihnen liegen die Lebensberichte von vier Menschen aus den Geburtsjahrgängen von 1932 bis 1947.

Die Erforschung der eigenen Biografie, das Schreiben darüber, vollzog zunächst ein jeder für sich allein. Dann wurden die Berichte bei gelegentlichen Treffen in der Gruppe miteinander besprochen. Anregungen aus der Gruppe wurden aufgenommen und in die Berichte eingearbeitet.

Einig war sich die Gruppe darin, sich nicht nur auf die erlebten Traumata als Kriegskinder zu konzentrieren, sondern vielmehr das Augenmerk darauf zu richten, wie gerade diese Erfahrungen und Erlebnisse in der Kriegskindheit dem Einzelnen Ressourcen erschlossen haben, ohne die vermutlich ihr berufliches oder auch privates Leben nicht so erfolgreich verlaufen wäre.

Die vielfältigen, in der Kriegs- und Nachkriegszeit erlebten Belastungen sollten eher im Sinne einer Herausforderung zur Entwicklung, nicht jedoch als prägendes Problem oder als unlösbare Krise gesehen werden.

Als es dann darum ging, einen gemeinsamen Code für die Erlebnisse in und nach dem Krieg zu finden, welcher die Fähigkeiten und Stärken repräsentiert, das Leben sinnvoll und gut gestaltet zu haben, war man sich in der Gruppe schnell einig. „Wir haben mit schlechten Karten gut gespielt.“

Nachdem die Biografien geschrieben waren, bat die Gruppe mich, von außen kommend, noch einmal mit einem „analytischen Blick“ darauf zu schauen. Dieses „Drauf-schauen“ hatte Konsequenzen:

Dort, wo etwa ein allzu sachliches Beschreiben erahnen ließ, dass damit einhergehende Gefühle nicht wahrgenommen/erinnert werden konnten, dass über bestimmte Erfahrungen nicht berichtet werden wollte und nicht konnte, erfolgten Nachfragen und die Ermutigung, sich auch dieser sicher schmerzlichen Erinnerungsarbeit zu stellen.

Eine erneute Bearbeitung der Lebensberichte war die Folge. Die Ergebnisse liegen nun in diesem Buch vor. Mögen sie Ihnen, die Sie das Buch in den Händen halten, ein Stück gelebter Geschichte nahebringen. Vielleicht auch eine Anregung bieten, selber einmal neugierig auf Ihre eigene Lebensgeschichte zu blicken.

Werner Hübner

Mut und Entschlossenheit
Als junges Mädchen auf der Flucht

Auf die Welt gekommen bin ich als Zangengeburt und habe dadurch offensichtlich einen starken Lebenswillen entwickelt. Das war sicherlich auch notwendig in einer Familie, die durch die Nähe der Grenze zu Polen – ich habe nämlich meine Kindheit bis zur Flucht im Januar 1945 in Gleiwitz verbracht – immer in zwei Welten lebte.

Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten in Polen, der Großvater verdiente den Unterhalt für seine Familie als Sattlermeister; sie galten als „Deutsche in Feindesland“. Meine Großmutter hat noch während des Krieges zusammen mit zwei Töchtern in Polen gelebt und zwar in dem Gebiet, das nach dem Ersten Weltkrieg an Polen fiel. Das Passieren der Grenze war aufwendig und nahm viel Zeit in Anspruch, die Kontrollen waren gründlich und streng. Ab dem sechsten Lebensjahr benötigte auch ich einen Reisepass. Bei der Großmutter und den Tanten war ich gern, ich fühlte mich von ihnen geliebt und mochte sie sehr. Bei meinen eigenen Eltern war ich mir in meinen Gefühlen jedoch nicht sicher. Für meinen Vater war ich wohl eine „Leistungstochter“. Meine Mutter hat mich sicher gemocht, und ich habe sie später, als ich größer war, sehr geschätzt.

Mein Vater war das 14. Kind; seine Eltern hatten einen großen Bauernhof. Er baute sich zusammen mit seiner jungen Frau eine neue Existenz auf. Bei uns daheim – meine Eltern hatten einen Gasthof – wollten wir mit Polen jedoch nichts zu tun haben, weil sie das sogenannte „Wasserpolnisch“ sprachen und eher den unteren Schichten angehörten. Meine Eltern, die perfekt Polnisch sprachen, hätten dies jedoch niemals in der Öffentlichkeit getan. Sie waren stolz darauf, Deutsche zu sein, wobei in unseren Augen die deutsche Seite eher durch Großindustrielle und jüdische Kaufleute geprägt wurde.

Als Kind war ich viel allein. Am wichtigsten war für mich eine Tante, die bei uns im Haus lebte und vor allem auch arbeitete. Sie hatte jedoch einen Makel, sie war nämlich verheiratet gewesen und geschieden worden. Ich jedoch mochte sie so sehr, dass ich sie „Tante Mutti“ nannte. Von ihr fühlte ich mich geliebt. Bis zum Schuleintritt war ich nach Aussagen meiner Tante, die mich betreute, mehr krank als gesund. Masern, Scharlach, Keuchhusten haben sich abgewechselt und mir sehr zugesetzt. Ich musste ja krank werden, um Zuwendung zu bekommen.

Als die Schulzeit begann, wurde ich mit einer Schiefertafel, an der ein feuchter Schwamm und ein trockenes Tuch hingen, sowie mit einem Griffel ausgestattet. Eine Schultüte mit Obst und Süßigkeiten wie die anderen Kinder hatte ich nicht. Ich beneidete sie heftig darum. Der Kommentar meiner Eltern dazu lautete: „Du bekommst Obst und Schokolade zu Hause, die anderen brauchen nicht zu sehen, was es bei uns gibt“. Weil wir eine Gaststätte hatten, gab es sicherlich mehr als bei anderen.

Sich zurückhalten war wichtig

Der Kriegsbeginn ist für mich mit dem Überfall polnischer Soldaten auf den Gleiwitzer Sender verbunden. Wie es sich damit wirklich verhielt, habe ich erst viel später erfahren. Was ich damals lediglich mitbekam, waren vielsagende Blicke, die sich die Erwachsenen zuwarfen, das Getuschel der Verwandten und der Nachbarn oder aber, wenn wir Kinder anwesend waren, für mich unverständliche Worte. Wenn der Nachwuchs oder sogar Fremde zuhören konnten, wurde nämlich bei uns immer Polnisch gesprochen.

Erinnern kann ich mich noch an das Brennen der Synagoge und an die geplünderten Geschäfte, in denen wir oft eingekauft haben. Noch immer habe ich das Bild einer Flammenwand vor Augen. Die sogenannte „Kristallnacht“ am 9. November 1938 wurde von den Erwachsenen totgeschwiegen. Was das alles zu bedeuten hatte, wusste ich nicht, dafür aber umso deutlicher, dass ich nicht fragen durfte. In meiner Familie wurde ganz einfach „Zurückhaltung“ verlangt. Meine Fragen hätten die Eltern nur sehr ärgerlich gemacht. Dabei wollte ich soviel wissen. Ich empfand großes Mitgefühl für das jüdische und polnische Volk. Es gab jedoch niemand, der mir meine Fragen hätte beantworten wollen.

Eines Tages wurde mein zucker- und nierenkranker Vater doch noch eingezogen. Er wurde zu einer Einheit in Maastricht abkommandiert. Es dauere aber nicht lange, und er kehrte wieder zurück. Als wehruntauglich eingestuft, musste er bei der Reichsbahn arbeiten. Von Hunger, Kälte und Luftangriffen hatten wir bis Januar 1945 noch nichts gespürt.

Dann hingegen veränderte sich unsere Welt. Der Januar war sehr kalt, es lag sehr viel Schnee. Auf der Straße sah ich einen nicht enden wollenden Zug von Elendsgestalten vorbeiziehen, angetrieben von Männern in Gefängniskleidung. Auch über diese Menschen wurde nicht gesprochen. Allerdings hörte ich aus dem Getuschel das Wort „Auschwitz“ heraus. Inzwischen hatte ich bereits gelernt, dass ich wie alle anderen wegschauen musste. Für mein Mitgefühl blieb auch hier kein Raum.

 

In meiner Familie waren materielle Dinge wichtig. Meine Mutter übernahm die Führungsrolle, mir gegenüber war sie auch immer sehr streng. Beispielsweise quälte ich als Backfisch meine Mutter mir zu erlauben, mir beim Friseur Dauerwellen legen zu lassen. Natürlich war alles Betteln vergeblich.

Einige Tage später musste ich mich abends warm anziehen. Meine dreijährige Schwester wurde dick eingepackt, und die ganze Familie lief zu einem großen Platz. Mutter hatte aus einem stabilen Stoff so etwas wie Rucksäcke genäht, die wir nun mitnahmen.

Bevor wir losgingen, hörte ich wie ein Gast zu meinem Vater sagte: „Das ist ja nicht zu fassen, dass Frauen und Kinder noch hier sind. Der Russe steht bereits kurz vor Gleiwitz, und Züge verkehren nicht mehr. Es fährt aber noch ein Bus in den Westen, bring Deine Familie zum Bus!“ Nach einer längeren Wartezeit kam dann tatsächlich ein Bus, der eigentlich nur für schwangere Frauen bestimmt war. Wir durften aber trotzdem einsteigen. Vater blieb zurück.

Der Bus fuhr bis Ratibor. Bei einer Tante, die Beamtin beim Fernmeldeamt war, konnten wir zwei, drei Tage bleiben, dann ging es weiter auf einem Pferdewagen bis Olmütz. Die Straße war voller Menschen, die sich mühsam mit ihrem Gepäck fortbewegten – und auch hier wieder ein bewachter Zug von Elendsgestalten. Ich sah, wie plötzlich zwei von ihnen aus der Gruppe ausscherten und auf ein freies Feld zuliefen. Dann krachten Schüsse. Einer der Männer fiel zu Boden.

In Olmütz wurden wir in einer Schule untergebracht, aber schon nach kurzer Zeit mussten wir weiter. An den nächsten Ort kann ich mich zwar nicht erinnern, jedoch höre ich meine Mutter noch sagen, wir müssten so schnell wie möglich hier weg, denn wenn der Krieg aus sei, gehe es den Deutschen hier schlecht.

Noch einmal zurück

Auf Umwegen gelangten wir ins Erzgebirge und über Annaberg in den kleinen Ort Schönheide, wo wir zunächst einmal blieben. Hier fand uns auch unser Vater wieder, der ja Kriegsdienstverpflichteter bei der Reichsbahn gewesen und in Halle gestrandet war. Nun beschlossen die Eltern, zurück nach Gleiwitz zu gehen. Sie organisierten einen kleinen Leiterwagen, in den meine Schwester gesetzt sowie das wenige Gepäck verstaut wurde, und dann ging es zu Fuß in Richtung Osten.

Wir kamen durch das zerstörte Dresden, in dem es nur so von russischem Militär wimmelte. In dem Ort, den wir gegen Abend erreichten, übernachteten wir auch, meistens bei Bauern, denn Hotels, Gasthäuser, Pensionen waren längst geschlossen. Natürlich hatten auch die Bauern Angst, dass sie bald ihre Heimat verlassen müssten.

Je weiter wir in den Osten kamen, desto leerer waren die Straßen, umso verlassener die Dörfer. Bald kam im Treck, dem wir uns angeschlossen hatten, das Gerücht auf, dass die Männer alle in Gefangenschaft kämen. So blieben diese zurück, nur Frauen und Kinder zogen weiter. Ich hatte bei den Eltern aufgeschnappt, dass Vater vorhatte, nach Berlin zu gehen. Dort lebte einer seiner Brüder, von dem sich Vater Informationen erhoffte.

Mutter gelangte mit uns Kindern tatsächlich bis nach Gleiwitz. Unser Haus samt Gaststätte waren besetzt. Unsere Hausangestellte hatte jedoch einige Sachen gerettet, die Mutter im Laufe der Zeit gegen Lebensmittel eintauschte. Bis Mutter bei einer guten Bekannten eine dauerhafte Unterkunft für uns bekommen hatte, verbrachten wir die Tage auf einem Bauernhof und schliefen auf dem Heuboden.

Die Wohngemeinschaft bestand aus drei Frauen, zwei Männern und uns zwei Kindern. Der Lebensunterhalt wurde gemeinsam bestritten. Von einem der beiden Männer, der in der polnischen Verwaltung arbeitete, bekamen wir wertvolle Tipps. Die anderen Erwachsenen arbeiteten in einer Nähstube für die Russen, wo sie hauptsächlich Uniformen ausbesserten. Wer von den anderen Frauen Zeit hatte, half bei dieser Arbeit. So kamen wir an Brot und andere Lebensmittel. Hunger mussten wir nicht leiden. Zwar lebten wir von der Hand in den Mund, aber die Keller und Speisekammern der leer stehenden Häuser waren ja gut gefüllt. Außerdem wurde auf dem schwarzen Markt verkauft, was sich nur verkaufen ließ. Während die Frauen beschäftigt waren, musste ich kleine Besorgungen erledigen. Als ich wieder einmal unterwegs war, verfolgte mich auf dem Rückweg ein russischer Soldat. Da ich mich im Ort auskannte, konnte ich ihm entkommen. Es war schrecklich.

Da Mutter ja Polnisch sprach, konnte sie sich frei bewegen, ohne als Deutsche aufzufallen. Wenn wir Kinder dabei waren, durften wir kein Wörtchen sprechen, was uns natürlich manchmal sehr schwer fiel. Dabei hätten die russischen Soldaten meine hübsche kleine Schwester mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen gerne auf den Schoß genommen, gestreichelt und mit Süßigkeiten verwöhnt

Mutter organisiert unser Leben

Wir besuchten auch die Großmutter und zwei Tanten in Mutters Geburtsort Tichau, die erzählten, welchen Schikanen sie ausgesetzt seien. Inzwischen hatte Mutter auch erfahren, dass Vater auf dem Weg nach Berlin geschnappt worden war und nun bei einem polnischen Bauern arbeitete. Mutter traf ihn dort, und die beiden kamen überein, so schnell wie möglich in den Westen zu fliehen.

Im Mai 1946 machte sie unser Mitbewohner, der wie bereits erwähnt, in der polnischen Verwaltung arbeitete, darauf aufmerksam, dass nur noch zwei Transporte in die englische Besatzungszone fahren würden, alle weiteren nur in die russische Zone. Mutter hätte auch die Möglichkeit gehabt, die polnische Staatsangehörigkeit zu erwerben, lehnte dies aber ab. Nun wurde schnell gepackt und die Ausreise beantragt.

Das Jahr in Polen hatten wir überlebt. Bevor der Zug, der uns in den Westen nach Marienborn bringen sollte, sein Ziel erreicht hatte, wurde das Gepäck mehrmals gefilzt. Endlich im Westen, hatten wir die Wahl zwischen dem Kreis Peine und der Stadt Wolfenbüttel. Mutter entschied sich für Peine, weil sie sich erinnerte, dass es dort Industrie gab. Das war für sie wichtig, weil sie sich sagte, wo Industrie ist, ist auch Arbeit.

Unsere neue Bleibe war in Ölsburg. Mutter und meine Schwester bekamen ein Zimmer zugewiesen, für mich selbst gab es keinen Platz mehr. Ich wurde in der Nachbarschaft untergebracht.

Mutter, durch und durch Geschäftsfrau und überaus diplomatisch, machte rasch eine Miniwohnung für uns ausfindig, in der es sogar ein Bettgestell, einen Tisch, einen Küchenschrank und einen Herd gab, der mit Torf beheizt wurde. Ein Wasserhahn befand sich in einem kleinen Nebenraum, das WC auf dem Hof.

Zwar hatten wir Geld, das aber wertlos war. Uns blieben zum Tauschen nur Zigaretten, die wir auf den Lebensmittelkarten bekamen, aber nicht benötigten, da Mutter nicht rauchte.

Wenn Mutter bei einem Bauern half, gab es etwas Gemüse. Im Herbst suchten wir die abgeernteten Felder nach liegen gebliebenen Ähren ab, ebenso die Kartoffeläcker. Etwas später im Jahr wurden Bucheckern gesammelt, für die man Öl bekam. Wenn die Erntewagen mit Zuckerrüben zur Fabrik fuhren, fielen manchmal einige herunter, die rasch aufgesammelt und zu Rübenkraut verarbeitet wurden. In diesem Jahr lernte ich den Hunger kennen.

Lernen und selbstständig werden

1947, nach den Sommerferien, konnte ich in die Oberschule in Peine fahren. Eine sehr nette Klassenlehrerin erleichterte mir das Einleben und gab mir Nachhilfe in Französisch, einem Fach, das ich bis dahin nicht hatte.

Unsere Mutter hatte längst herausgefunden, dass unser Vater in Halle lebte und arbeitete. So machte sie sich insgesamt zweimal auf die Reise, einmal bis Helmstedt mit dem Zug, dann zu Fuß über die grüne Grenze und dann wieder mit der Eisenbahn nach Halle, alles in allem ein abenteuerliches und gefährliches Unternehmen. Offensichtlich fiel es unseren Eltern schwer zu entscheiden, ob wir zu Vater in den Osten gehen oder Vater zu uns in den Westen kommen sollte. Schließlich entschieden sich die Eltern für den Westen. Dies war ein Glück für mich, denn ich erinnere mich, dass ich damals fest entschlossen war, im Westen zu bleiben.

Nun war die Familie wieder vereint. Der Zufall half, dass die Eltern eine leer stehende Bahnhofsgaststätte entdeckten und diese dank hilfsbereiter Menschen auch übernehmen konnten. Die Anfangsbedingungen waren für uns recht günstig. Das Mobiliar war noch vorhanden, das Brennmaterial stellte das Industrieunternehmen, dem das Gelände und die Bahnanlage gehörten. Das war mehr als ein Lottogewinn, denn wir und die Reisenden hatten warme Räume. Zu essen gab es auch. Aus Fleischknochen und viel Suppengrün wurde unendlich viel Brühe gekocht, die allen schmeckte. Geschirr war zwar mittels Zigaretten und hilfsbereiter Menschen beschafft worden, ich erinnere mich aber, dass immer sehr schnell abgeräumt und gespült werden musste, weil die Teller sofort wieder gebraucht wurden. Natürlich bestand auch die Gefahr des Klauens.

In diesen Nachkriegsjahren fand ich Anschluss in der katholischen Pfarrjugend, die ich bald im Jugendring, damals der Zusammenschluss aller Jugendverbände der Stadt, vertrat. Als die englische Militärregierung ein sozialpolitisches Seminar anbot, konnte ich daran teilnehmen und war begeistert. Ich denke, dass dort der Grund für mein soziales Engagement gelegt wurde, aber auch das Interesse an sozialpolitischen Themen sowie die Ablehnung autoritärer Strukturen.

Kein Studium, dafür aber Stipendium

Die Zeit nach dem Ende des Dritten Reiches mit ihrer bitteren Not, dem vielfältigen Mangel hat ihre Spuren hinterlassen. Flüchtlinge genossen keine Wertschätzung, sie hatten ja nichts vorzuweisen, und Geld war nichts wert. Es fehlten Freunde, Bekannte und Verwandte.

Ein Studium kam für mich nicht in Betracht. Die raren Ausbildungsplätze an den Universitäten waren den Kriegsheimkehrern vorbehalten, und die Wartelisten waren lang. Im Übrigen fehlte es mir auch an Antrieb. Über mancherlei Umwege kam ich zur Erwachsenenbildung und lernte in einer Fortbildung für soziale Gruppenarbeit Prof. Dr. L. Lowy kennen. Nun steckte ich meine ganze Energie in das dreijährige berufsbegleitende Studium „Soziale Gruppenarbeit und Supervision“. Soziale Gruppenarbeit schien mir eine ideale Form zu sein, soziales Verhalten anzuregen und einzuüben. Allerdings gehörte Supervision, auch Praxisberatung genannt, nur bedingt dazu. Ein Netzwerk gab es damals noch nicht. Ich ergriff die Chance, eine Supervisionsausbildung zu übernehmen bzw. neu zu gestalten.

Geprägt von der starken Mutter

Wenn ich heute an meine Kindheit und Jugend zurückdenke, haben mich insbesondere Flucht, Vertreibung, Neuanfang und nicht zuletzt das Elternhaus geprägt. Innerhalb von Minuten alles Bekannte, Haus, Umgebung und Freundinnen verlassen zu müssen, war abenteuerlich. Alles änderte sich. Es gab keine feste Unterkunft, keine geregelten Mahlzeiten. Das regelmäßige Waschen, Zähneputzen, Wechseln der Unterwäsche und der Kleider erfolgte nur sporadisch. Es gab Zeit im Überfluss. Denn zum Lesen fehlten die Bücher und zum Spielen die gleichaltrigen Kinder. Neu war die ständige Anwesenheit der Mutter. Sie informierte sich über die jeweilige Situation und handelte danach.

Die Tschechoslowakei verließen wir so schnell mit der Bahn, weil sich absah, dass der Krieg bald enden würde und Mutter die Wut der Bevölkerung in den besetzten Gebieten voraussah. Sie merkte auch bald, dass wir bei der nächsten Anlaufstelle, der Familie meines Onkels väterlicherseits, unerwünscht waren und zog mit uns weiter. Sich informieren, überlegen, handeln. Wenn ich heute zurückdenke, stelle ich immer wieder fest, dass meine Mutter in dieser chaotischen Zeit Enormes geleistet hat.

Daraus habe ich für mich den Kernsatz abgeleitet: Nicht jammern und die Hände in den Schoß legen, sondern überlegen und handeln. In der Weiterführung heißt das, Erwachsene sollten für Heranwachsende Vorbild sein.

Ein anderes Stichwort heißt Verantwortung übernehmen. Vermutlich hätte ich die beschriebenen schwierigen Situationen nicht so gut überstanden, ohne die innere Geborgenheit, die eine starke Mutter gibt.

Dies möchte ich noch einmal an zwei Beispielen verdeutlichen: Auf dem Rückweg nach Gleiwitz mussten wir in einem leer stehenden Bauernhaus übernachten. Am nächsten Morgen machte Mutter Feuer im Herd, um Kaffee zu kochen. Auf einmal ertönten von draußen Männerstimmen. Mutter flüsterte mir zu: „Macht, dass ihr in den Garten kommt. Versteckt Euch hinter Sträuchern, aber lauft nicht vom Haus weg, ich komme wieder“. Tatsächlich nahmen die Russen sie mit, zum Arbeiten. Ängste zu zeigen, war nicht möglich, im Gegenteil, ich musste ja auf meine dreijährige Schwester aufpassen und sie beruhigen. Irgendwie war wohl die Gewissheit da, dass Mutter zurückkäme. Gegen Abend kam sie dann auch. Wir übernachteten noch in dem Haus und verschwanden am nächsten Morgen.

 

Eine ähnliche Situation erlebte ich später: Als wir einige Wochen im Westen waren, erklärte mir meine Mutter, sie werde über die grüne Grenze gehen, um Vater zu besuchen und mit ihm überlegen, wie es weiter gehen solle. Das ganze würde einige Tage dauern. In diesen Tagen müsste ich auf meine Schwester aufpassen. An Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern. Die Angst, dass meine Mutter nicht zurückkommen könnte, habe ich vermutlich gar nicht zugelassen, Pflichtgefühl und Verantwortung überwogen.

Im Nachhinein stelle ich fest, dass wir großes Glück hatten und Mutter immer einen Weg aus schwierigen Situationen fand. Diese Einstellung habe ich von ihr übernommen; gehört zu mir. Der Satz: Hilf dir selbst, dann hilft Dir Gott“ gibt diese meine Haltung gut wieder.