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»Ist echt witzig. Eigentlich müsste ich jetzt im Boden versinken, aber es macht mir gar nichts aus.«

»Stimmt«, antwortete Lucas. »Ist wirklich witzig ... sag mal, ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich ...«

Weiter kam er nicht, denn Ines war im gleichen Moment aufgesprungen und rief – bereits auf den in einiger Entfernung liegenden Felshaufen zurennend – über die Schulter: »Wer zuerst oben ist!«

Lucas starrte ihr hinterher. Eben noch war alles so einfach gewesen und nun das. Seufzend erhob er sich und rannte grübelnd hinter Ines her. Warum hatte sie das getan? Hatte er richtig gesehen? Ihm war so, als ob er in ihren Augen so etwas wie Angst aufblitzen gesehen hatte.

Zusammen mit Ines erreichte er die Felsen. Sie kletterten, so gut es ging, daran hoch. Lucas war gerade dabei, Ines zu überholen, als sie plötzlich anhielt und rief: »Boah, schau mal da!«

Lucas sah in die Richtung, die ihre Hand wies und erkannte, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Inmitten der Felsen war eine von unten nicht sichtbare Lücke, durch die eine Art Becken entstand. Dieses schien eine Verbindung zum Meer zu haben, denn das Licht, das die Nachmittagssonne auf das Meerwasser fallen ließ, drang von unten in das Becken. So erstrahlte das Wasser dort in einer leuchtenden Mischung aus Türkis und Violett. In diesem so außergewöhnlich illuminierten Bereich tummelten sich aberhunderte kleine Fische, die mit ihren silbernen Leibern glitzernde Reflexe in das Wasser zauberten. Die ganze Szenerie wirkte, als ob sie durch ein Fenster in eine völlig andere Welt blicken könnten.

Entzückt machte Ines Anstalten, hinunterzuklettern, aber Lucas hielt sie zurück.

»Ich glaub nicht, dass das eine gute Idee wäre. Das geht da so steil runter. Da kommt man bestimmt nicht mehr richtig hoch«, bemerkte er, als er ihren verärgerten Blick sah.

Ines wirkte zwar enttäuscht, nickte dann aber und folgte Lucas auf den obersten Felsen.

Von dort konnte man eine weitere, noch kleinere Bucht erkennen, die im Gegensatz zu der, in der sie gelandet waren, einen ganz feinsandigen Strand hatte. Eigentlich war es nur eine vom Meerwasser ausgewaschene Höhlung in der Klippe, aber sie lag noch ganz im Sonnenschein. Daher beschlossen sie, herunterzuklettern und sich dort ein wenig zu sonnen.

Die ganze Zeit über rang Lucas innerlich mit sich. Wie sollte er es bloß anstellen, das zu sagen, was er schon die ganze Zeit sagen wollte? Immerhin war diese Höhle so klein, dass Ines nun kaum noch Möglichkeiten haben würde, wieder aufzuspringen und wegzurennen. Sie konnte höchstens ins Wasser springen. Schließlich kam er zu dem Schluss, einfach anzufangen und zu sehen, was dabei herauskam.

»Ähm, ich wollte dir unbedingt ...«, begann er, doch er kam wiederum nicht weit, denn ein rasches »Warte!« von Ines bremste ihn aus. Sie hatte sich ihm gegenüber kerzengerade aufgesetzt und sah ihm in die Augen.

»Bevor du jetzt das sagst, von dem ich glaube ... hoffe ... fürchte, dass du es sagst, habe ich nur eine Bitte. Sei ehrlich, egal was es ist. Ich kann auch damit klarkommen, wenn es nicht das ist, was ich denke oder will, solange es ernst gemeint ist.«

Dann blickte sie Lucas erwartungsvoll an.

In Lucas wirbelten ihre Worte herum und machten ihn ganz konfus. Hatte sie »hoffe« gesagt? Ja, das hatte sie, aber sie hatte auch »fürchte« gesagt. Und sie hatte gesagt: »Sei ehrlich!«

Und da war es wieder. Das Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als er ihre Stimme hier zum ersten Mal gehört hatte. Nun jedoch war es zu einer Gewissheit geworden. Er musste da jetzt durch und zuallererst musste er ihr die Sache mit dem Fernrohr erklären. Entweder würde sich alles andere dann sowieso erledigt haben oder er hätte freie Bahn, Ines mit gutem Gewissen zu sagen, was er für sie empfand.

»Ja, gut«, begann er, während er im Kopf noch die Worte ordnete, die er gleich sagen wollte. »Es ist schon eine Weile her. Vielleicht erinnerst du dich noch daran.«

Ines’ Augen blickten ihn an. Sie sah nicht wütend aus, dachte Lucas. Er begann, zu hoffen, dass sie sich möglicherweise doch nicht mehr erinnern konnte oder es sie gar nicht interessierte.

»Na ja, also zu meinem ...«

»Ciao ragazzi!«, tönte es über das Wasser zu ihnen hin. Ines sog erschreckt die Luft ein und Lucas verschluckte sich mitten im Satz.

Beide drehten sich zu der Stimme um, die sie gerade aufgeschreckt hatte. Ein Stückchen entfernt schipperte ein kleines Motorboot um die Felsen herum und zog ihr Schlauchboot hinterher. Im Motorboot saß Luigi, der Bademeister, Strandwächter und Betreiber des kleinen Imbiss-Standes am Hotelstrand. Er winkte ihnen zu. Als er näher kam und ihre Gesichter deutlicher erkennen konnte, bemerkte er mit einem leichten Lächeln: »Abe gestehrt? Mi dispiace. Abär eure Boot ... ähm triebe auf dän Wassär.«

Lucas sah sich verwundert um, denn er wusste, dass sie das Boot auf den Strand gezogen hatten. Dann erkannte er, dass es inzwischen schon recht spät war und die abendliche Flut eingesetzt hatte. Wahrscheinlich hatte das Wasser doch das Boot erreicht. Ohne es so recht zu wollen, wusste Lucas, dass er Luigi dankbar sein sollte, denn ohne Boot hätten sie wohl oder übel zum Hotelstrand schwimmen müssen. Das wäre in der einsetzenden Dämmerung und bei der Entfernung sicherlich kein Vergnügen geworden.

Luigi grinste und winkte wieder. »Kommte här. Isch farre eusch.«

Lucas sah Ines an, die auch recht erleichtert wirkte. Sie beugte sich zu Lucas herüber und raunte ihm zu: »Lass uns das Reden auf nachher vertagen. Es sieht so aus, als ob es heute noch eine tolle Nacht wird. Da haben wir noch viel Zeit.«

Sie stand auf, watete ins Wasser und schwamm dann das Stück bis zu Luigis Boot.

Lucas folgte ihr. Als er am Boot angekommen war, hatte Luigi Ines bereits herausgezogen und machte ihr zweideutige Komplimente. Lucas mühte sich damit ab, den Rand des Bootes zu fassen zu bekommen, um sich ebenfalls hineinziehen zu können.

Anstatt ihm zu helfen, fuhr Luigi damit fort, mit Ines zu radebrechen, wie schön das Sonnenlicht auf ihren Haaren glänzte.

In Lucas wuchs der Zorn. Dieser Typ ließ ihn doch tatsächlich hier im Wasser hängen, während er seinem Mädchen schöne Augen machte! Seine Wut wurde in Sekundenschnelle so stark, dass er, als er schließlich den Bootsrand zu fassen bekam, mit aller Kraft zog. Mit einem Satz schnellte er aus dem Wasser und landete schnaubend im Boot, das durch sein Reißen bedenklich schwankte.

Luigi starrte Lucas einen Moment lang erschrocken an, dann brachte er ein schiefes Lächeln zustande. »Ah, scusa. Abe bei die schene Mädchen ganz vergesse.«

»Stronzo!«, schoss es Lucas aus dem Mund, bevor er sich hätte daran hindern können.

»Wa?«, rief Luigi und funkelte ihn bedrohlich an.

»Es ging schon so!«, sagte Lucas und funkelte nicht minder bedrohlich zurück. Von hinten in seinem Kopf schrie eine Stimme Lucas panisch an: Hast du sie noch alle? Der ist doch mindestens anderthalb Köpfe größer als du und doppelt so breit!

Aber irgendetwas hinderte Lucas daran, jetzt klein beizugeben.

Vielleicht war es dieses Etwas, dass Luigi letztendlich davon abhielt, Lucas einfach wieder zurück ins Meer zu schubsen und mit Ines davon zu fahren. Er zuckte mit den Schultern und drehte sich um. »Wolle wia jetz zu Hause fahre?«

Lucas grunzte zustimmend. Auch Ines nickte geistesabwesend, während sie Lucas immer noch mit offenem Mund anstarrte.

Die Fahrt zurück im Motorboot dauerte nicht lange. Als sie am Hotelstrand ankamen, erblickten sie sofort ihre Eltern, die es sich in ein paar zusammengestellten Liegestühlen bequem gemacht hatten. Während der Fahrt hatten sie alle ihre Fassung wiedergewonnen, sodass niemand von der knisternden Spannung, die kurz vorher noch geherrscht hatte, etwas mitbekam.

Lucas’ Mutter strahlte ihn an. Sie hatte dabei einen fragenden Gesichtsausdruck, der ihn spontan wieder an den eigentlichen Zweck seines Ausfluges mit Ines erinnerte.

Er brachte ein kleines Grinsen zustande und zuckte dabei mit den Schultern, was den Gesichtsausdruck seiner Mutter in ein fragendes Stirnrunzeln verwandelte. Er winkte ab und flüsterte: »Später.«

Es war inzwischen ohnehin Zeit zum Abendessen. Also trennten sich die beiden Familien, um sich umzuziehen. Kaum war Ines mit ihren Eltern verschwunden, da wurde Lucas auch schon von Betty mit Fragen bestürmt. »Wo wart ihr denn? War’s schön? Hast du was sagen können? Was hat sie gesagt? Wo kam denn Luigi her ...?«

»Schatz, wenn du so weiter machst, dann wirst du nie etwas davon erfahren, denn dann hast du Lucas totgequatscht«, unterbrach sie Paul.

Seine Mutter schaute ihn zwar leicht säuerlich an, hörte jedoch auf Fragen zu stellen. Stattdessen sah sie Lucas aufmunternd an.

Lucas erzählte ihnen von den Versuchen und wie sie irgendwie immer fehlgeschlagen waren.

»Mach dir nichts draus«, sagte Betty schließlich. »Das wird heute Abend bestimmt noch was.«

»Ja, hoffentlich«, antwortete Lucas. »Sie fahren doch morgen schon ab.«

»Ja, aber wir haben uns für heute nach dem Essen noch in der Bar zum Klönen verabredet. Da werdet ihr bestimmt eine Chance haben, euch davonzumachen.«

Lucas hoffte das auch. Nachdem er es sich gestattet hatte, sich auf seine Gefühle einzulassen, hielt er es bei dem Gedanken, dass sie sich morgen wieder trennen sollten, kaum aus. Auch während des Essens konnte er sich nur schwer auf die Fülle an Speisen konzentrieren. All die Pasta und Salate, frisch gefangener Fisch und Pizza ließen ihn eher kalt. Er stopfte immer nur hin und wieder geistesabwesend einen Bissen von dem, was ihm seine Mutter auf den Teller lud, in den Mund. Selbst die Geschmacks-Sensationen der verschiedenen Gerichte ließen ihn diesmal kalt.

 

Ines schien es ähnlich zu gehen, denn sie mümmelte nur ein wenig an dem Salat herum, der vor ihr stand. Jedoch vermied sie es, die Blicke, die Lucas ihr von Zeit zu Zeit zuwarf, zu erwidern.

Lucas’ Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Hatte er sich etwa geirrt? Hatte er sie mit seiner Aktion mit Luigi vielleicht erschreckt oder verärgert? Das Essen schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Als sie schließlich beim Cappuccino angelangt waren, hielt Lucas es nicht mehr aus.

»Ich brauch jetzt mal ein bisschen frische Luft. Kaffee mag ich sowieso nicht«, sagte er. Damit stand er auf und ging auf die Terrasse, von der aus man einen atemberaubenden Blick über das Meer auf den Sonnenuntergang hatte.

Lucas stand an der schmiedeeisernen Brüstung und betrachtete das überwältigende Farbenspiel von Sonne und Meer. Als er schon dabei war, sich zu fragen, ob dieser Abend vielleicht doch nicht so toll werden würde, wie der Nachmittag den Anschein erweckt hatte, tippte ihm jemand auf die Schulter.

Ines stand hinter ihm und lächelte ihn an. »Schönes Plätzchen hast du dir da ausgesucht. Hier sollten wir gleich wieder hingehen. Aber erst wollen unsere Eltern noch auf den schönen Urlaub anstoßen, und ich glaube, unsere Anwesenheit ist da gefragt«, sagte sie und verdrehte dabei belustigt die Augen.

Lucas musste grinsen. Was die Erwachsenen immer so wichtig daran fanden, aus irgendwelchen Anlässen einen zu trinken. Er folgte Ines zur Bar, wo ihre Eltern es sich schon in einer Ecke gemütlich gemacht hatten und sie zu sich winkten. Ihre Gläser waren bereits gefüllt. Auch in denen von Ines und Lucas befand sich eine klare bernsteinfarbene Flüssigkeit.

»Zur Feier des Tages haben wir entschieden, dass ihr auch mal einen heben dürft«, rief ihnen Paul mit einem leichten Schwips in der Stimme zu.

Alle lächelten sie an und bedeuteten ihnen, dass sie ihre Gläser nehmen sollten. Sie taten wie ihnen geheißen, rochen aber zunächst an dem Getränk. Es roch undefinierbar süß, aber nicht unangenehm.

»Na denn auf einen tollen, leider fast zu Ende gegangenen, Urlaub und das, was noch daraus werden kann. Hoch die Tassen!«, ließ sich Ines’ Vater leutselig vernehmen.

Alle tranken, auch Ines und Lucas. Das Getränk schmeckte quietschsüß – viel süßer als der Geruch es hatte vermuten lassen. Während Lucas auch ein Mandelaroma erkennen konnte, sackte eine angenehme Wärme durch seinen Körper bis zu seinen Füßen.

Dann begannen die Dinge, schief zu laufen.

Lucas lauschte gerade seinem Vater, wie dieser davon erzählte, dass sie sich mit Diana und Tom – Ines’ Eltern – so gut verstanden, wie mit kaum jemand anderem. Da hörte er auch in seinem Kopf wieder eine leise Stimme flüstern. Er konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Erst als sein Vater bei der Erkenntnis angekommen war, dass sie zu Hause fast Nachbarn seien, wurde die Stimme deutlicher.

Nein! Nein, tu das nicht!

Inzwischen hatte sich die Wärme in seinem ganzen Unterleib ausgebreitet und er hatte den Eindruck, langsam mit hinuntergezogen zu werden. Er kam sich mit einem Mal vor wie in einem dieser Filme, wo der Hauptdarsteller versucht, ein schreckliches Ereignis zu verhindern. Aber er selbst hat das Gefühl, sich nur in Zeitlupentempo bewegen zu können und kann daher nur ohnmächtig zusehen, wie das Unheil seinen Lauf nimmt.

Verzweifelt kämpfte Lucas gegen die sich immer weiter in seinem Körper ausbreitende, lähmende Wärme an. Er versuchte, seinen Vater irgendwie dazu zu bringen, das Thema zu wechseln, ohne selbst überhaupt richtig zu wissen, was dieser denn so schlimmes sagen könnte. Aber bevor Lucas den Mund aufmachen konnte, um etwas – irgendetwas – zu sagen, da war es auch schon zu spät.

Mit einer plötzlichen erstaunlichen Klarheit konnte Lucas Paul von seinem Geburtstagsgeschenk und dem, was ihm dazu scherzhaft eingefallen war, berichten hören. Im gleichen Moment hörte Lucas ein Poltern und drehte sich erschrocken zu der Geräuschquelle um.

Es war Ines. Sie war offensichtlich abrupt aufgestanden und hatte dabei ihren Stuhl umgestoßen.

Als sein Blick ihre aufgerissenen Augen traf, verengten sich diese zu Schlitzen.

Sie zischte ihm zu: »War’s das?! Los sag schon! Ist. Es. Das. Gewesen?«

Lucas’ Herz rutschte ihm buchstäblich in die Hose. Er hatte auf einmal das Gefühl, sämtliche Kraft würde durch ein defektes Ventil an seinem Rücken entweichen und ihn als kleines Häufchen Elend zurücklassen.

Sie hatte es nicht vergessen. Im Gegenteil, sie schien es, ebenso wie er, geradezu bildlich vor sich zu sehen. Und sie wirkte fuchsteufelswütend. Aber sie kannte nicht die ganze Wahrheit. Sie musste ja denken, dass er es gewesen war, der sie beobachtet hatte.

»He, was is nu?!«, riss es Lucas aus seinen Gedanken. Er wurde sich schlagartig bewusst, dass ihn alle anstarrten. Nicht nur die an ihrem Tisch Sitzenden, sondern alle in der gesamten Bar sahen wegen des Aufruhrs, der soeben stattgefunden hatte, zu ihm herüber.

»Nein«, antwortete Lucas mutlos.

»Was nein? War es nicht dein Fernrohr?«

»Doch, aber ...«

»Warum sagst du dann ‘Nein’?«

»Ich ... du ... du verstehst das nicht richtig ...«

»Oh, doch! Ich hab verstanden und ich hoffe, auch du verstehst, dass ich daraus meine Konsequenzen ziehe!«

Ines drehte sich auf dem Absatz herum und stampfte aus der Bar in die klare, sternfunkelnde Sommernacht.

Nur langsam sickerte es in Lucas’ Verstand, was da eben passiert war. Ebenso langsam realisierte er, dass ihn immer noch alle anstarrten.

Paul sah mit schreckgeweiteten Augen zu ihm herüber und brachte kein Wort heraus.

Betty berührte ihn sacht am Arm und sagte: »Komm, geh ihr nach.« Mit einem lächelnden Blick auf Lucas’ entsetztes Gesicht fügte sie hinzu: »Ich denke, tief in ihr drin hofft sie, dass du es tust.«

Als Lucas sich gerade daran machte, aufzustehen und Ines zu folgen, hörte er allerdings noch jemand anderen etwas sagen, das ihn nun wieder davon abhielt.

Es war Tom – Ines’ Vater – der mit einer Stimme, die die Verwirrung in seinem Gesicht widerspiegelte, zu ihm sprach: »Ich glaube nicht, dass das jetzt so eine gute Idee wäre. Wenn ich das, was Paul eben erzählt hat, mit dem zusammenreime, was hier gerade abgelaufen ist, dann bist du wohl der Letzte, den Ines jetzt sehen möchte. Ich hab ihr zwar versprochen, darüber nichts zu erzählen, aber ich denke, zur Erklärung muss ich das jetzt doch tun.« Er räusperte sich. »Nur so viel: Einer der Gründe, warum wir bei euch in die Nachbarschaft gezogen sind, war der, dass wir aus unserer bisherigen Wohnung raus mussten. Ines ist dort immer wieder von einem Nachbarn beobachtet worden und so weiter. Wenn du ... nun auch ...«

»Ich hab das aber doch gar nicht! Das war alles ganz anders«, brauste Lucas auf, aber Betty legte ihm die Hand auf den Arm und er beruhigte sich wieder.

Tom schnitt eine Grimasse, die den Widerstreit, der sich gerade in seinem Kopf abspielen musste, erkennen ließ. Er sagte zu Lucas: »Ich glaub dir das sogar, aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass Ines das auch tun würde.«

Diana erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Entschuldigt ihr mich bitte? Ich will mal nach ihr sehen. Tom, du kannst ja dann nachher nachkommen.«

»Ach weißt du, ich komme doch gleich mit. Wir haben ja morgen noch eine weite Strecke vor uns. Nichts für ungut Leute. Wir sehen uns dann morgen beim Frühstück«, sagte Tom und folgte seiner Frau.

Nun waren sie also allein – soweit man das in einer überfüllten Bar so nennen konnte. Die anderen Barbesucher hatten jedoch zwischenzeitlich ihre unterbrochenen Gespräche wieder aufgenommen, sodass sie nun keiner mehr beobachtete.

Lucas drehte sich zu seinen Eltern um, die beide aussahen, als wüssten sie mit dieser Situation nicht so recht umzugehen. Paul hielt immer noch sein Glas in der Hand und dreht es verkrampft hin und her.

»Mensch, Junge, das tut mir ...«

»Ach Quatsch, gar nichts tut dir leid!«, polterte Lucas. »Ihr versteht gar nichts und es interessiert euch auch gar nicht. Es hat euch ja auch damals nicht interessiert, was an meinem Geburtstag passiert ist, sonst hättest du eben nicht so einen Müll erzählt!«

Er sprang auf und rannte aus der Bar, ohne noch einen weiteren Blick auf seine Eltern zu werfen, die ihm mit offenen Mündern hinterher sahen. Das war sehr unfair gewesen. Im Grunde war Lucas seinen Eltern sogar immer dankbar gewesen, dass sie ihn nicht nach den Vorkommnissen seines Geburtstages gefragt hatten. Aber eine heiße Wut war in ihm aufgebrandet, und er hatte sie geradezu verletzen wollen.

Lucas stürmte durch die Nacht, ohne auf seinen Weg zu achten. Schließlich stellte er fest, dass seine Schritte ihn zu einem kleinen Felsvorsprung an der Klippe geführt hatten. Sie war auf der landwärtigen Seite von einem dichten Gebüsch abgeschirmt, man hatte von dort aus allerdings einen schönen Blick übers Meer. Im Normalfall wäre er heute mit Ines hergekommen, um die letzten Stunden ihres gemeinsamen Urlaubs zu genießen, aber was war schon normal? Er ließ sich auf dem Felsen nieder.

Dabei dachte er darüber nach, ob das, was er in den letzten Jahren immer wieder von Verwandten oder Freunden zu hören bekommen hatte, tatsächlich ein Fünkchen Wahrheit enthielt. Er hatte es bisher immer für abergläubischen Schwachsinn gehalten. Aber wie er nun so dasaß, fragte er sich, ob sie vielleicht doch anfingen, recht zu haben.

Ja, gut, er war am 13. Juni 1986 geboren worden. Ja und es war außerdem ein Freitag gewesen, doch musste das nun gleich bedeuten, dass er vom Pech verfolgt sein würde? Nein, sicherlich nicht, zumindest bisher nicht. Aber an seinem 13. Geburtstag hatte es angefangen ... Ja, was eigentlich? Würde er von nun an vielleicht doch vom Pech verfolgt werden? Und wie lange würde das dauern? Ein Jahr? Für immer?

Während er noch darüber grübelte, hörte er zwei Stimmen, die sich in einiger Entfernung an ihm vorbei bewegten. Es waren seine Eltern.

»Was ist bloß in den gefahren und verdammt noch mal wo ist der jetzt?«, hörte Lucas seinen Vater grummeln.

»Paul, beruhige dich doch. Für Luky muss in dem Moment eine Welt zusammengebrochen sein. Da hat er ein bisschen überreagiert.«

»Überreagiert ist gut. So habe ich ihn noch nie erlebt. Und dann rennt er einfach weg und ist verschwunden.«

»Mach dir mal nicht solche Sorgen. Er wird schon nichts Dummes tun. Vertrau unserem Sohn einfach. Wir lassen die Tür unverschlossen, dann kann er später ins Bett kommen.«

Die Stimmen erstarben, als sie durch eine Hecke, um die Lucas’ Eltern bogen, verschluckt wurden.

Lucas war nun wieder allein mit sich. Er fuhr fort, auf das Meer und die darüber schwebende Mondsichel zu starren, bis schließlich die sanfte Dunkelheit des Schlafes ihn umfing.


Ich schwebe, jage, gleite

Das silberne Licht über mir

Bricht sich in der spiegelnden Fläche hoch oben

Lautlos durch das Dickicht

Und um die Felsen

Bin ich auf der Suche

Nach Beute

Aber es wird so kalt

So kalt

Lucas schrak aus dem Schlaf hoch. Ihm war eiskalt. Wie konnte das sein? War er etwa auf dem Felsvorsprung eingeschlafen?

Als sich seine Augen nach einem Moment der Desorientierung an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte er fest, dass er sich nicht mehr auf dem Felsen über dem Meer, sondern in seinem Bett befand. Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, nach Hause gegangen zu sein – geschweige denn ins Bett. Außerdem war das Bett klatschnass. Er war es ebenfalls.

Das erklärte zwar die Kälte, warf jedoch gleichzeitig die Frage auf, warum er sich in ein nasses Bett gelegt hatte. Und warum zur Hölle war dieses Bett überhaupt nass?

Er sah sich vorsichtig im Zimmer um. Auf der anderen Seite schliefen seine Eltern halb sitzend im Bett. Sein Vater hatte sogar noch eine Brille auf. Ein aufgeschlagenes Buch lag auf der Bettdecke. Sie mussten auf ihn gewartet haben und dabei eingeschlafen sein.

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, glitt Lucas aus dem Bett und zog zuerst das tropfnasse T-Shirt aus. Beim Ausziehen lief ihm etwas Wasser übers Gesicht. Er bemerkte, dass es salzig schmeckte. Also blieben zwei Möglichkeiten übrig: Entweder hatte er dermaßen geschwitzt, dass er alles durchweicht hatte oder er war baden gewesen und hatte sich nicht abgetrocknet. Nach einer kurzen Prüfung des Bettlakens, bei der er Reste von Tang und ein paar Muscheln fand, kam er zu dem Schluss, dass die letztere Variante stimmen musste.

 

Er konnte sich immer noch nicht daran erinnern, irgendwas davon getan zu haben. Lucas beschloss, sich darüber jetzt keine Gedanken mehr zu machen, sondern lieber für ein trockenes Bett zu sorgen. Er hatte das Gefühl, dass ihm jeder Knochen im Leib wehtat. Also besorgte er sich leise ein paar trockene Handtücher und eine andere Decke.

Taumelnd vor Müdigkeit versetzte er sich und das Bett in einen halbwegs schlaftauglichen Zustand. Dann legte Lucas sich wieder hin. Er war schon wieder eingeschlafen, als sein Kopf das Kissen berührte.


Ein weiteres Mal erwachte Lucas noch vor seinen Eltern, weil die Vögel vor seinem Fenster einen, wie es schien, ohrenbetäubenden Lärm machten. Ein Strahl der Morgensonne fiel in das Zimmer und tauchte ausgerechnet den Platz, wo sein Bett stand, in ein leuchtendes Orange.

Er kniff die Augen zu und überlegte einen Moment lang. Was war geschehen? Was sollte er nun tun?

Lucas kam zu dem Schluss, dass alles Verstecken oder das Vermeiden irgendwelchen Ärgers ihm letztendlich nur noch mehr Probleme eingebracht hatte, als er vorher zu haben geglaubt hatte. Es nützte alles nichts; er musste allen die Wahrheit sagen. Einfach nur die Wahrheit.

Wie er da so in seinem Bett lag, kam ihm die Sache wirklich fast lächerlich einfach vor. In der Realität gestaltete es sich dann aber doch etwas komplizierter, als er es sich erhofft hatte.

Als seine Eltern wach wurden, nutzte er ihre Schlaftrunkenheit aus, um sich für seinen Ausbruch am Abend zu entschuldigen und ihnen die Vorkommnisse während seiner Geburtstagsfeier zu erzählen. Als er geendet hatte, machte sein Vater ein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen – und zwar auf eine besonders saure.

»Ach du Schande, jetzt kapier ich überhaupt erst, was da gestern abgelaufen ist. Ines muss ja geglaubt haben, dass du ...«

»Hhmm«, antwortete Lucas matt.

»Und ich Riesenrindvieh erzähl es dann auch noch genau so, dass es erst recht so aussehen muss. Mann, sorry, das hab ich nicht gewollt.«

»Ist ja eigentlich auch meine Schuld«, winkte Lucas ab. »Ich hätte euch ja nur gleich berichten müssen, was passiert war.«

»Sag mal und das stimmt tatsächlich? Kevin ist bis zur Tür geflogen? Mensch, da steckt ja ganz schön Bumms dahinter«, sagte Paul grinsend und tätschelte Lucas den Arm.

Betty war – wie es schien – in nicht ganz so guter Stimmung. Während Lucas’ Schilderung war sie immer stiller und ganz blass geworden. Als sie nun merkte, dass sie von Lucas und Paul angesehen wurde, sagte sie leise: »Stellt euch doch bloß mal vor, was alles hätte passieren können. Ich hatte gedacht, dass es sich um eine harmlose Kabbelei zwischen euch Kindern gehandelt hat, aber das klingt ja ... gewaltig ...«

»Mam, du glaubst mir doch aber, dass ich das nicht mit Absicht gemacht habe«, rief Lucas und sah sie flehentlich an.

Da klarte sich ihr Blick wieder auf.

»Oh, nein, natürlich glaube ich dir. Ich hab mich nur so erschrocken. Wenn Kevin sich was getan hätte ...«

Dann schüttelte sie den Kopf, wie, um die Bilder darin zu verscheuchen, und grinste ein erstaunlich hämisches Grinsen.

»Aber es ist ja glücklicherweise wohl nichts Ernsthaftes passiert. Vielleicht war es auch ein wenig heilsam für Kevins aufgeblasenes Ego. Damit ist er ja kaum noch durch die Tür gekommen.«

Alle drei sahen sich an und fingen schallend an zu lachen. Dieses Lachen war wie Balsam für Lucas’ Seele. Er konnte kaum genug davon bekommen.

Solchermaßen gestärkt wagte Lucas sich dann auch an den nächsten Punkt auf seiner Tagesordnung: Er musste es Ines erzählen und sie um Verzeihung bitten, dass er es ihr nicht schon viel früher gesagt hatte.

Allerdings konnte er sie weder in der Hotel-Lobby noch am Strand oder im Restaurant finden, sodass sich sein anfänglicher Elan allmählich aufzulösen begann. Zweifel und leichte Panik machten sich langsam breit.

Schließlich fand er sie auf dem Parkplatz, wo sie mit ihren Eltern dabei war, noch einige letzte Dinge im Auto zu verstauen.

Als sie ihn sah, verfinsterte sich ihr Gesicht und ihr Körper nahm eine abweisende Haltung ein. Aus dem Hintergrund wollte ihre Mutter zu ihr treten, aber ihr Vater hielt sie sanft am Arm zurück und schüttelte schweigend den Kopf.

Lucas blieb in ein paar Metern Entfernung von Ines stehen und machte eine beschwichtigende Geste.

»Was ...«, begann sie, aber Lucas schnitt ihr das Wort ab.

»Ines, sei bitte so gut und lass mich das sagen, was ich dir sagen will – was ich dir eigentlich schon die ganze Zeit sagen wollte. Wenn ich jetzt wieder aufhöre, dann bringe ich wahrscheinlich nie wieder im Leben einen zusammenhängenden Satz raus.«

Ines holte Luft, ließ sie dann aber doch wieder langsam entweichen. Ihre Arme vor dem Körper verschränkt blieb sie stehen, wo sie war, und starrte Lucas angriffslustig an.

»Gut. Also das, was ich dir seit Tagen, eigentlich Wochen, hätte erzählen sollen, ist Folgendes: Ja, wir wohnen fast in direkter Nachbarschaft und ja, zu meinem Geburtstag habe ich ein Teleskop bekommen, aber nicht, um dich damit zu beobachten. Ich interessiere mich für Astronomie.«

»Ach, ja?«, schoss es aus Ines’ Mund. »Wie viele Monde hat der Jupiter?!«

»Sechzehn«, kam es von Lucas fast automatisch zurück. »Io, Europa, Ganymed, Callisto, Amalthea, Himalia, Elara, Pasiphae, Sinope, Lysithea, Carme, Ananke, Leda, Adrastea, Thebe und Metis.«

»Oh, also ähm ... ich wusste gar nicht, dass er überhaupt welche hat«, sagte Ines kleinlaut. Dabei starrte sie ihn an, als ob sie ihn vorher noch nie gesehen hätte. Dann schien sie ihr Starren zu bemerken und ergänzte schnell: »Wolltest du noch was sagen?«

Sie hatte sich ihm immer noch nicht richtig zugewandt, aber ihre Züge wirkten um einiges weniger abweisend.

»Na ja, wir, das heißt ich, hatte an meinem Geburtstag Gäste. Das war übrigens der Tag, an dem wir uns im Stadion getroffen haben.«

Ines runzelte kurz die Stirn, während sie überlegte, was Lucas wohl meinen könnte, aber dann glätteten sich die Falten. »Ach ja und du hattest so eine riesige Beule auf der Stirn. Wir haben kurz gesprochen und dann warst du plötzlich weg.«

»Ja, mein Kopf hat so gedröhnt, dass ich da raus musste.«

»Hhmm.«

»Also was ich eigentlich sagen wollte, ist: Ich hatte Besuch von Kevin, einem alten Kumpel. Dieser gute alte Kevin war der Meinung, er müsste unbedingt rausfinden, ob man mit dem Teleskop auch was ‘Richtiges’ beobachten kann. Er fand dich. Als ich das mitgekriegt habe, da bin ich ausgerastet und hab ihn rausgeschmissen.«

»Aha«, murmelte Ines und blickte Lucas forschend an. »Warum hast du mir das denn nicht schon viel früher gesagt?«

Lucas begutachtete seine Zehenspitzen. Ja, warum hatte er es eigentlich nicht getan? So betrachtet erschien es als das einzig Sinnvolle.

»Mann, weißt du, ich hab mich einfach so für ihn geschämt. Da hab ich versucht, nicht mehr dran zu denken. Es kam erst wieder hoch, als ich dich hier in der Lobby getroffen habe.«

Ines schien gegen ihren Willen lächeln zu müssen. »Ach, und deshalb hast du mich so angesehen, als ob ich King Kong wäre.«

Lucas machte eine Grimasse. »Mmmhja, stimmt.«

Eine Pause trat ein, in der beide nicht so recht wussten, was sie als Nächstes sagen sollten. Die Geräusche um sie herum, die sich während des eben geführten Gespräches geradezu ausgeblendet hatten, füllten diese Pause aus: Vögel zwitscherten, der Wind rauschte in den Bäumen und ein paar Zikaden fingen schon mal an, für das allmittägliche Zirpkonzert zu üben.