Violet Socks

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„Ihr seht echt witzig aus", kichert Coco und mustert uns beide.

Doch Harry scheint das gar nicht witzig zu finden. Er dreht sich wieder vorsichtig zur Spüle, damit er nicht ausrutscht. „Gut gemacht, Violet. Ich hoffe, Heath schmeißt nicht nur mich von der Schule."

Ich hebe die Brauen. „Was? Du gibst mir die Schuld?"

„Würdest du etwa nicht? Guck dir die Sauerei doch an. Du hättest das Wasser einfach stehen lassen sollen. Der Boden ist komplett nass."

„Du hast angefangen!"

Harry wird ebenfalls wütender und deutet auf den Boden unter uns. „Und das war dein Zeichen, die ganze Küche unter Wasser zu setzen?"

„Harry, du –'' Mir fehlen die Worte. Was soll ich auch darauf sagen? Ich bin doch nicht die Schuldige hier, sondern er! Er hätte mich nicht mit den Nudeln beschmeißen sollen! Wenn er nicht angefangen hätte, wäre es nie so ausgeartet!

Wieder ruhiger beginnt Harry, sich am Wasserhahn die Soße aus dem Gesicht zu waschen. „Du wusstest noch nie, wann eine Grenze überschritten ist, also wundert es mich nicht."

Ich wusste noch nie, wann eine Grenze überschritten ist? Das sagt mir derjenige, der mindestens zwanzig Einträge im Schulregister hat und außerdem mit achtzehn noch nicht den wahren Ernst des Lebens verstanden hat? Harry Perlman sagt mir das?

In mir braut sich eine unangenehme Wut zusammen und ich versuche, sie zu unterdrücken, indem ich die Fäuste balle, doch sollte er noch einen falschen Ton von sich geben, explodiere ich. Er hätte von vornherein nicht so unfreundlich in der Schule sein müssen, was ihn eine Menge Ärger erspart hätte. Aber er war unfreundlich und das schon immer, deswegen ist es seine Schuld.

Und plötzlich ertönt ein Geräusch, das mein Herz zum Bersten bringt. Die Haustür.

Scheiße, nein, bitte lass das jetzt nicht geschehen. Boden öffne dich. Bitte!

Hoffnungsvoll kneife ich die Augen zusammen.

„Was ist denn hier passiert?", ertönt die schrille Stimme von der Rektorin unserer Schule und meine Hoffnung ist verschwunden.

Ich drehe mich langsam und schuldbewusst zu ihr um. Wir müssen alle aussehen wie kleine Kinder. Beschmiert mit Tomatensoße und Nudeln in den Haaren.

Misses Heath läuft schon rot an und hält sich die Hände an den Kopf, während sie fassungslos die verdreckte Küche betrachtet. „Was habt ihr nur angerichtet? Die Wände! Der Tisch! Der Boden!" Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment weinen. „Oh Gott, der Boden! Ihr habt alles unter Wasser gesetzt!"

„Es war Harrys Schuld!", haut Coco raus und zeigt auf Harry, der genauso stocksteif wie ich in der Küche steht. „Er ist der Kotzbrocken!"

Mickey klopft auf den Tisch. „Nein, es war Violets Schuld!"

Misses Heath schüttelt nur den Kopf und scheint ihnen gar nicht zuzuhören. „Geht sofort hoch."

Alle schweigen. Für einen Moment fühle ich mich angesprochen, weil Mom zu mir und Rosy auch immer sagt, wir sollen hochgehen, wenn wir etwas anstellen, aber Heath ist zufällig nicht meine Mom, also warten wir, bis Coco und Mickey die Treppen hochgetrottet sind.

In der Küche herrscht wieder Ruhe, als die zwei oben sind.

Ich traue mich, zuerst die Stille zu unterbrechen, weil ich es nicht mehr aushalte. „Misses Heath, wir …''

„Nein", blockt sie ab und hält ihre Hand hoch. „Ihr beide seid ..." Sie schüttelt ungläubig den Kopf. „Ihr seid unmöglich ..."

Ich schlucke schwer. Gott, das endet nicht gut.

„Ich kann das erklären", versuche ich, mich zu erklären, obwohl ich nicht mal weiß, wie ich das alles erklären soll.

„Ihr seid mir keine Erklärung schuldig." Nun richtet sich Misses Heath entschlossener auf, nachdem sie tief durchgeatmet hat. „Anscheinend habe ich mich in Ihnen getäuscht."

Weil sie zu Harry sieht, fühle ich mich erst nicht angesprochen, doch dann sieht sie mich an.

„Violet, du wirst zukünftig nicht mehr meine Kinder betreuen. Ihr beide werdet nachsitzen. Für sehr, sehr lange Zeit. Morgen nach der Schule kommt ihr in mein Büro. Pünktlich. Um drei. Eure Eltern werde ich benachrichtigen und vielleicht, aber nur vielleicht, lernt ihr daraus." Sie sieht zu Harry. „Bei Ihnen habe ich zwar schon jegliche Hoffnung aufgegeben, doch Wunder gibt es immer. Über die Suspendierung werden wir uns noch unterhalten, Mister Perlman. Und jetzt ..." Sie zeigt aus der Küche nach draußen. „Verschwindet."

Ich presse die Lippen aufeinander und kann mich nicht bewegen. Man, so wurde ich ja noch nie von Misses Heath behandelt. „Misses Heath, ich bitte Sie ... Wir können …''

„Raus hier!", kreischt sie nun wild und ist den Tränen nahe. „Bevor ich mich noch völlig vergesse!"

Daraufhin tue ich sofort, was sie sagt. Ich laufe an ihr vorbei, schnappe mir meine Tasche aus dem Flur und verlasse das Haus.

Was ein wunderbarer Start in die Woche. Und wahrscheinlich ist die Woche auch nicht darauf ausgelegt worden, besser zu werden, so wie Heath mit uns gesprochen hat.

Wütend auf mich selbst und auf Harry und allgemein jeden auf der Welt stampfe ich aus dem Hof vorbei an dem weißen Gartenzaun durch die Dunkelheit. Mit Soße beschmiert und nassen Klamotten.

Schlimmer kann es kaum werden. Kaum bin ich Harry näher als zwei Meter, habe ich jede Menge Probleme am Hals. Kein Wunder, dass er kein Bestandteil meines Lebens mehr ist.

„Violet!"

Ich drehe mich nicht um.

„Violet, jetzt warte doch mal!"

Schließlich bleibe ich doch stehen und drehe mich um. Wenn mich jemand ruft, muss ich einfach reagieren, auch wenn es nur Harry ist. Harry kommt mit schnellen Schritten auf mich zu, während ich höre, wie Misses Heath die Haustür laut zuknallt.

„Falls du dich bei mir entschuldigen willst, dann kannst du es stecken lassen", sage ich, noch bevor er bei mir ankommt. „Absolut nicht nötig, ich will es nämlich gar nicht hören."

„Ich hatte nicht vor, mich bei dir zu entschuldigen." Er bleibt vor mir stehen. „Ich soll dich nach Hause fahren."

Ich lache auf und drehe mich um, damit ich weiter den Weg nach Hause ansteuern kann. „Nie im Leben steige ich in dein Auto."

Stöhnend folgt mir Harry. „Violet, Heath bringt mich um, wenn ich dich jetzt nicht nach Hause bringe."

„Mir egal. Solange sie nicht mich umbringt."

„Wow, wie taktvoll von dir, so was zu sagen, während du gleich in meinem Auto sitzen wirst, das von mir gesteuert wird."

„Wie dumm von dir, zu denken, ich würde in dein Auto steigen."

„Dir bleibt nichts anderes übrig. Heath will sichergehen, dass du in mein Auto steigst."

„Mir egal. Du bekommst den Ärger, nicht ich."

„Ach, wirklich? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihr – nachdem du ihre Küche verunstaltet hast – ziemlich egal ist, ob sie dich nun drei Wochen oder das komplette Schuljahr nachsitzen lässt."

Ich verdrehe genervt, davon, dass er mir immer noch hinterherläuft, die Augen. „Ich bin sowieso gleich zu Hause, also mach mal keinen Aufstand."

Ich höre, wie er hinter mir stehen bleibt, worauf ich mich zu ihm umdrehe, jedoch nicht aufhöre, weiterzulaufen. „Stimmt", sagt Harry und sieht sich in der Gegend um. Er weiß anscheinend noch ganz genau, wo ich wohne.

Und weil ich nur noch diese eine Straße entlanglaufen will, winke ich ihm halbherzig zu und drehe mich wieder nach vorne. „Blitzmerker. Und jetzt lass mich endlich nach Hause laufen."

Ich habe zwar größten Respekt vor Heath und ich kann mir auch vorstellen, dass sie nur möchte, dass Harry mich nach Hause fährt, weil es schon dunkel ist, aber ich steige nicht in sein Auto. Vor allem nicht, wenn mein Haus gerade mal zwei Straße weiter entfernt ist. Diese Minute in seinem Wagen kann ich mir sparen, wirklich. Viel lieber steige ich in das Auto eines Serienmörders.

Okay, das war vielleicht ein wenig übertrieben.

Aber ich steige nicht in Harrys Auto.

„Okay!", ertönt Harrys Stimme und es klingt, als hätte er sich mittlerweile von mir entfernt, was mich wieder über die Schulter blicken lässt. Er läuft wieder die Straße herunter zu Misses Heaths Haus.

Etwas verdutzt davon, wie einfach es war, ihn abzuwimmeln, sehe ich wieder geradeaus durch die dunklen Straßen. Wieso wundere ich mich darüber, wie einfach er meine Bitte, mich im Dunkeln nach Hause laufen zu lassen, angenommen hat? Vielmehr sollte es mich wundern, wie er für ein paar Momente hartnäckig versucht hat, mich in sein Auto zu bringen.

Na ja, wahrscheinlich will er einfach nicht noch mehr Stress mit Heath haben, als er sowieso schon hat. Es ist nur ungewohnt für mich, dass er einfach locker lässt, denn früher war er auch nicht so. Aber es sollte mich nicht wundern. Harry ist nun mal heute anders.

Als ich schon mein Haus sehen kann und meinen Schlüssel aus meiner Tasche krame, um die Tür aufzuschließen, scheinen mir von hinten Scheinwerfer zu. Als mir dann auch noch das Auto entgegenhupt und links neben mir herfährt, erschrecke ich mich, als ich Harry hinter dem Steuer sehe.

„Was soll das werden?", frage ich ihn, als er seinen Motor stoppt und neben mir stehen bleibt.

Dadurch, dass er noch immer im Auto sitzt, höre ich seine Stimme nur gedämpft. „Ich fahre dich nach Hause!", ruft er.

Ich muss vor Belustigung lachen. „Du fährst mich nach Hause? Mein Haus ist fünf Meter von mir entfernt, falls du es noch nicht gesehen hast!"

„Das ist mir vollkommen egal, steig einfach ein, damit ich dich nach Hause fahren kann!"

„Das sind fünf verdammte Meter, Harry!"

„Steig! Ein!"

„Na-Hein!"

Harry rollt genervt die Augen. „Tu es doch einfach! Du ersparst uns beiden jede Menge Ärger!"

 

Ich schnaufe und schweige. Rein theoretisch hat er recht, denn Misses Heath war extrem sauer und das auf uns beide. Warum er allerdings noch immer so verrückt darauf ist, mich die letzten fünf Meter nach Hause zu fahren, verstehe ich noch immer nicht. Aber dann tue ich es halt. Ich will keinen Stress bekommen, deswegen öffne ich widerwillig die Autotür zu Harrys schwarzem Audi, um mich reinzusetzen.

Ich lasse mich in den Beifahrersitz fallen, der verdammt weich und bequem ist, und knalle die Tür zu. Es riecht nach Harry und Kokos. Ich weiß, dass Harry Kokos liebt, weswegen ich mir sicher bin, dass dieser Duft nicht von dem Parfüm eines Mädchens kommt, sondern ganz allein von ihm. Wahrscheinlich hat er auch noch irgendwo Kokosduftkerzen versteckt, damit es ständig so riecht.

„Schnall dich an", weist Harry mich an, als er den Motor startet.

„Ich muss mich nicht anschnallen, es sind, wie gesagt, nur verdammte fünf Meter."

„Violet", knurrt Harry. „Schnall dich an."

Ich stöhne auf und greife schließlich zum Gurt. Idiot.

Als ich angeschnallt bin, schaltet Harry in den ersten Gang und umgreift das Lenkrad. „Okay, halt dich fest, ich fahre los."

Ich verschränke nur die Arme und sehe gelangweilt aus dem Fenster. „Dann fahr mal die ganzen fünf Meter."

Ich höre, wie Harry ganz langsam die Kupplung kommen lässt und mit einem leichten Ruck fahren wir nach vorne.

Wir rollen.

Wir rollen.

Und eine Sekunde später tritt Harry wieder auf die Bremse und wir stehen.

„Sehr schön", sage ich und sehe ihn an, während er die Handbremse zieht. „Das hat sich fast gelohnt."

Harry ignoriert meine Worte und zieht sein Handy aus der Hosentasche. Er drückt etwas darauf herum und dann hält er es links von sich mit der Frontkamera in unsere Richtung.

„Äh", sage ich, als ich von dem Bildschirm seines Handys, wo wir beide zu sehen sind, zu ihm sehe. „Das Selfie kannst du dir sparen."

Harry hält das Handy immer noch hoch und sucht den perfekten Winkel. „Verdammt, es ist so dunkel, man sieht kaum was. Egal." Dann drückt er auf einen Knopf und schon ist ein Foto entstanden, auf dem ich ihn böse angucke.

Er hält sein Handy wieder in beiden Händen und scheint das Bild in WhatsApp verschickt zu haben. „Ist für Heath. Sie wollte einen Beweis dafür, dass ich dich nach Hause gebracht habe."

Deswegen wollte er also unbedingt die fünf Meter fahren.

„Wieso, zur Hölle, hast du ihre Nummer in deinem Handy?"

Er zuckt mit den Schultern, als er noch etwas unter das Bild schreibt. „Sie beschwert sich so verdammt oft, deswegen klären wir die meisten Dinge schon über WhatsApp."

Ich hebe eine Braue. „Das ist seltsam."

„Mag sein, aber ..." Er steckt das Handy wieder weg. „Du kannst jetzt aussteigen. Ich habe dich nach Hause gebracht."

Ohne viel über seine Worte nachzudenken, schnalle ich mich ab. Noch unfreundlicher hätte er mich auch nicht verabschieden können. Aber viel habe ich sowieso nicht erhofft, denn schlimmer kann der Abend kaum werden. Doch trotzdem fahre ich noch mal mit meiner Hand durch meine nassen, versauten Haare und schmiere es heimlich an den Sitz, damit auch er etwas von dem Abend hat.

„Ich wünsche dir eine gute Nacht", verabschiede ich mich von ihm, als ich neben dem Auto stehe. „Jermaine-René."

Harry funkelt mich von drinnen böse an, denn ich weiß, wie sehr er diesen Namen hasst. Er startet den Motor. „Gute Nacht, Lotta."

Kapitel 5

Gedankenverloren und fantasiert schmachte ich Brandon während des Englischkurses an. Ich liebe es, wie seine blonden Locken sein Gesicht umspielen und seinen weichen Gesichtszügen etwas Verspieltes geben. Leider sitze ich schräg hinter ihm, weswegen ich seine wunderbar braunen Augen nicht betrachten kann, aber ich bin mir sicher, sie glänzen wie jeden Tag. Ich liebe es sogar, wie lässig er in diesem Stuhl sitzt und es interessiert mich auch null, dass er dem Unterricht nicht zuhört, sondern an seinem Handy rumtippt, was eigentlich verboten ist. Er ist solch ein Rebell, das liebe ich.

Ich seufze, während das Ende meines Bleistiftes von meinen Zähnen bearbeitet wird.

Jeden Tag sehe ich ihn und jeden Tag wünsche ich mir, er wäre mein Angebeteter. Rein theoretisch ist er ja mein Angebeteter , allerdings bin ich nicht seine Angebetete. Traurig, ich weiß, aber so ist das nun mal schon seit zwei Jahren. Jedoch habe ich in den zwei Jahren auch nicht mehr als ein Hey, was geht? Oder ein Brandon, ich heiße Violet, nicht Vivien mit ihm ausgetauscht. Das reicht vollkommen. Ich kann ihn immer noch durchgehend im Unterricht beobachten, also verkümmere ich noch nicht. Ich habe mich schon längst damit abgefunden, dass ich für ihn nur Luft mit Kniestrümpfen bin und er für mich mein persönlicher Sexgott Schrägstrich Adonis mit einem Adoniskörper und Adonishaaren.

„Miss Berrymore!"

Ich schrecke auf und der Bleistift fällt mir aus der Hand, direkt auf meinen Schultisch.

Die ganze Klasse starrt mich an, genauso wie Mister Smith, unser Englischlehrer.

„Dürften wir erfahren, wo Sie gerade waren?", fragt Mister Smith mich verärgert und schiebt seine Lesebrille höher auf seine Nase.

„Äh", stammle ich und setze mich gerader hin. „Ich war gerade bei ... Bei Goethe?"

„Bei Goethe also. Was haben Sie denn mit ihm angestellt, hm?"

Ich überlege. Verdammt, was haben wir als Letztes in diesem Kurs durchgenommen?

„Ich habe mit ihm ein paar seiner alten Gedichte besprochen!", fällt mir ein.

Mister Smith schüttelt den Kopf. „Miss Berrymore, ich leite diesen Kurs nicht, damit Sie andere Männer betrachten können. Konzentrieren Sie sich auf meinen Unterricht oder verlassen Sie mein Klassenzimmer."

Sofort werde ich knallrot. Mister Smith hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wie kann er mich nur so bloßstellen? Sogar Brandon lacht mit der ganzen Klasse über mich, obwohl er wahrscheinlich nicht mal weiß, dass er derjenige war, der für meine fehlende Aufmerksamkeit gesorgt hat.

Hinter mir höre ich Florence lachen, gemischt mit Harrys leiser rauen Lache. Zur Hölle mit ihnen.

„Aber ich habe aufgepasst!", versuche ich, mich aus der peinlichen Situation zu retten. „Wir haben über ein Gedicht von Goethe gesprochen!"

Mister Smith seufzt und dreht sich wieder zur Tafel, um etwas anzuschreiben. „Wie schön, Sie haben halbherzig zugehört. Lassen Sie mich meinen Unterricht weiterführen, ich werde Ihnen später die Sechs eintragen."

Ich reiße die Augen auf. Oh, Gott, das wird ja immer schlimmer. Eine Blamage vor meinem Schwarm und dann noch eine Sechs?

„So was von verdient", tuschelt Florence hinter mir und sofort will ich mich umdrehen, um ihr ins Gesicht zu schreien.

Doch stattdessen sage ich zu Mister Smith: „Sie können mir doch keine Sechs geben, Mister Smith. Nur weil ich einmal nicht aufgepasst habe!"

Wieder seufzt Mister Smith und dreht sich zu mir. „Mein Unterricht ist nicht zum Träumen da, sondern zum Lernen und Denken. Passen Sie auf, ist alles prächtig, aber Sie waren nicht anwesend und Sie waren auch nicht bei Goethe, also haben Sie die Sechs verdient."

Nervös umfasse ich meinen Bleistift. Gott, wie streng kann ein Lehrer nur sein? „Mister Smith, ich bitte Sie ..."

„Man, sieh es doch einfach ein!", blökt jetzt Florence hinter mir. „Du begaffst Brandon, also musst du auch dran glauben, Loser!"

Ist es möglich, noch röter zu werden als rot? Wie kann sie es wagen, begaffen und Brandon in einem Satz zu verwenden, um mich bloßzustellen? Sicherheitshalber sehe ich zu Brandon, um herauszufinden, ob er das mitbekommen hat. Er scheint nicht zuzuhören, was mich aufatmen lässt.

„Florence, kümmere dich lieber um deinen Lippenstift", meckert Charly am Tisch neben mir nach hinten. „Harry scheint die Hälfte in seinem Gesicht zu haben."

Wieder lacht die Klasse. Aber ich nicht. Ich lache nie, wann Harry lacht, denn er tut es gerade. Als wäre es so supertoll, Lippenstift von Florence im Gesicht zu haben. Das ist widerlich. Da kannst du auch einen Drogeriemarkt knutschen.

„Ruhe!", ruft Mister Smith, als die Klasse unruhiger wird. Er wendet sich an mich. „Sag mir ‚Wärst du da‘ von Goethe auf und die Sechs ist vergessen. Bei dieser Unruhe kann ich keinen Unterricht machen."

Ich atme durch. „Wärst du da“ von Goethe. Ich krame tief in meinen Erinnerungen nach diesem Gedicht, blättere gedanklich ein paar Poesiealben durch und finde dann schließlich das, was ich brauche. Zum Glück liebe ich Goethe, weswegen die Sechs gleich schnell vergessen sein wird.

Die ganze Klasse schweigt, derweil Mister Smith mich abwartend anstarrt.

„Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt", beginne ich das Gedicht und kneife währenddessen die Augen zu, damit ich mich besser konzentrieren kann. „Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer in Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Weg der Staub sich hebt; In tiefer Nacht ... wenn auf dem schmalen Stege der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfen Rauschen die Welle steigt. Im stillen Hain, da gehe ich oft lauschen, wenn alles schweigt.

Ich …''

„Langweilig", unterbricht Florence meine Konzentration und sofort bin ich raus aus dem Gedicht.

Verdammt, ich hatte es fast.

„Miss Hastings", meckert Smith sie an. „Wollen Sie die nächste Sechs?"

Sie schnaubt. „Das macht auch keinen Unterschied mehr. Außerdem habe ich nur meine Meinung gesagt. Violet trägt es vor wie eine weinerliche Schlafmütze."

Wieder feixt die Klasse. Harry mit eingeschlossen. Sogar Brandon lacht!

Ich will im Erdboden versinken. Die Sechs werde ich wohl behalten müssen.

„Was gibt es da zu lachen, Mister Perlman?", meckert nun Smith zu Harry, der neben Florence sitzt.

„Ich habe nicht gelacht", erwidert dieser.

„Spielen Sie sich nicht so auf oder Sie bekommen noch eine Sechs. Los, vollenden Sie das Gedicht."

Harry stöhnt auf. „Wir wissen beide, dass ich es nicht kann, also geben Sie mir schon die Sechs."

Smith haut mit der flachen Hand auf das Pult, über das er sich stützt. „Los, vollenden Sie das Gedicht!"

„Auch wenn sie schreien, kann ich es nicht."

Jetzt kneift Smith die Augen zusammen und mustert Harry skeptisch. Doch schließlich stützt er sich wieder auf und wendet sich zur Tafel. „Florence und Harry – Sechs. Miss Berrymore, Sie haben noch Glück gehabt."

Ich atme auf. Danke, du strengster Lehrer der Welt. Zwar sorgt die Sache mit Brandon noch immer für einen roten Kopf meinerseits, aber das ist mittlerweile Nebensache. Eine Sechs kann ich mir wirklich nicht leisten.

„Danke, Loser", zischt mir Florence von hinten zu und tritt gegen meinen Stuhl, worauf ich sie jedoch ignoriere. „Wie konntest du nur mit der da befreundet sein?"

Es ist offensichtlich, dass sie mit Harry redet.

Harry atmet nur tief durch und antwortet gleichgültig: „Keine Ahnung, nerv mich nicht wieder mit dem Mist."

Leicht grinse ich in mich hinein. Aber nur weil Florence eingeschnappt mit der Zunge schnalzt, denn so ein kleiner Korb von Harry kann Wunder bewirken. Ich liebe es, wenn sie sich aufregt.

„Fünf Minuten zu spät, Mister Perlman", lauten die ersten Worte von Misses Heath, nachdem wir genau vier Minuten in ihrem Büro um Punkt drei Uhr auf Harry gewartet haben.

Gleich bekommen wir gesagt, welche Strafe auf uns zukommt, nachdem wir ihre Küche verwüstet haben. Und ich stelle mich schon den ganzen Dienstag auf das Schlimmste ein, denn ihre Küche sah wirklich grausam aus. Ein Wunder, dass ich die ganzen Soßenreste gestern Abend noch aus meinen Haaren rausbekommen habe. Ich fand sogar ein Stück Nudel in einem meiner Strümpfe.

„Eigentlich sind es vier Minuten", korrigiert Harry unsere Rektorin und setzt sich in den gleichen Stuhl wie beim letzten Mal.

Ich sehe ihn ungläubig an. „Ja, mach es doch noch schlimmer, indem du frech bist. Das hilft uns mit Sicherheit."

Harry stemmt nur seinen Kopf in seine Hand an der Stuhllehne und schließt die Augen, als wäre er müde und erschöpft. „Es hilft uns sowieso nichts mehr."

Argwöhnisch betrachte ich ihn, wie er tief ein- und ausatmet. Es ist das erste Mal, dass ich ihm heute ins Gesicht schaue, und mir fällt sofort auf, dass er nicht nur müde scheint, sondern tatsächlich ziemlich müde ist. Seine Haare sind durcheinander (was bei ihm sonst nie der Fall ist). Sonst wirkt er immer ausgelassen, aber heute nicht. Das ist sehr ungewöhnlich.

 

„Richtig", sagt Misses Heath und setzt ihre Brille ab, um uns direkter ansehen zu können. „Wachen Sie auf, Mister Perlman, schlafen können Sie zu Hause."

Harry murrt vor sich hin und öffnet widerwillig die Augen, während er sich aufrichtet.

Mir bleibt nichts anderes übrig, außer ihn skeptisch von der Seite anzusehen. Solch eine Haltung ist so dermaßen untypisch für ihn. Und das kann ich sagen, obwohl ich ihn nicht mal mehr kenne. Ich frage mich, wieso er so schläfrig ist. Wahrscheinlich war seine Nacht mit Florence nicht sonderlich lang. Das wird es wohl sein.

„Ich habe mir wirklich lange und ausgiebig Gedanken um euch gemacht", bringt mich Heath wieder dazu, meinen Blick von Harry zu nehmen. „Violet, du bist eine gute Schülerin, jedem kann mal ein Fauxpas passieren, deswegen spare ich mir einen Eintrag im Schulregister."

Ich atme gedanklich auf. Eigentlich dachte ich, sie hätte mich auf dem Kieker, nachdem ich Harry aus dem Theaterkurs geschmissen habe.

„Aber trotzdem bist du noch nicht raus aus dem Schneider. Und zwar gibt es für euch beide eine Bedingung. Wir alle wissen, dass Harry kurz davor steht, das Schuljahr zu wiederholen, was natürlich für niemanden gut ist. Für ihn nicht, für die Schule nicht und für die Klasse nicht, in die er kommen würde."

„Ja, sparen wir uns das", unterbricht Harry sie gelangweilt. „Kommen wir zum Punkt."

Heaths Nasenflügel beginnen zu beben und ich sehe ihr an, wie sehr sie sich wünschen würde, Harry an den Haaren zu ziehen, doch sie führt fort: „Jeden Mittwoch und Freitag werdet ihr zwei nachsitzen. Und damit ihr euch nicht langweilt, wird Violet Ihnen, Mister Perlman, in Ihren schlechtesten Fächern Nachhilfe geben, damit Sie Ihren Abschluss auf der Highschool packen. Das Schuljahr hat nur noch drei Monate und ich möchte Sie nach diesen drei Monaten nie wieder sehen, deswegen werden Sie die Prüfungen bestehen. Verstanden?"

Mir stockt der Atem.

Wie bitte, was? Ich soll mit Harry zweimal die Woche eine Stunde in einem geschlossenen Raum sitzen? Und mit ihm lernen?

Ich spüre, wie die Hitze in meinem Körper steigt und ich einem Herzinfarkt immer näher komme. Gleich wird mir schwindelig, ich kann es fühlen.

Heath wendet sich nun an mich, als ich kurz davor bin zu kollabieren. „Aber damit du auch etwas davon hast, wird Harry trotzdem noch in deinem Theaterkurs sein. Auch wenn er beim letzten Mal einfach gegangen ist, wird das nicht noch mal passieren, denn dieses Verhalten war inakzeptabel."

Ich blinzle. Er hat ihr gar nicht erzählt, dass ich ihn rausgeschmissen habe? Verwundert blicke ich zu ihm, doch er verzieht keine Miene. Er sitzt noch immer mit müden Augen dort und hört Misses Heath zu, als hätte er schon die ganze Zeit gewusst, was auf uns zukommt.

„Es tut mir sehr leid, dass ich euch das antun muss, aber ihr habt mich beide maßlos enttäuscht." Heath wird ruhiger. „Und ich weiß auch, dass ihr euch nicht mögt, aber trotzdem hättet ihr euch verhalten können, wie sich eine Siebzehnjährige und ein Achtzehnjähriger nun mal verhalten, doch das habt ihr nicht. Ihr wart kindisch. Beide. Also vielleicht solltet ihr einfach versuchen, miteinander auszukommen, denn …''

„Ja, schon klar", unterbricht Harry sie und reibt sich die Stirn. Seine Augen wieder geschlossen. „Kann ich jetzt gehen?"

Heath seufzt. „Mister Perlman, ich tue das für Ihre Noten und nicht …''

„Ich habe gefragt, ob ich gehen kann."

Wieder blicke ich zu ihm. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er hat zu wenig gegessen, denn früher war er auch immer gereizt, wenn er hungrig war, doch heute könnte es alles sein. Und auch, wenn er öfter frech ist, kommt es mir heute anders vor. Es gibt mir zu denken, obwohl ich es nicht will.

„Ja, Sie können gehen", sagt Heath nach kurzer Pause zu Harry. Als Harry sofort aufsteht und seinen Rucksack packt, sagt sie noch zu mir: „Du auch, Violet."

Ich nicke, da ist Harry schon aus dem Büro verschwunden. „Ja, Misses Heath ... Es tut mir übrigens noch mal leid ... Das mit Ihrer Küche."

„Das macht es leider auch nicht mehr rückgängig und nachsitzen musst du trotzdem."

Und das auch noch jeden Mittwoch und Freitag. Mit Harry. Allein. Beim Lernen. Ich will mich übergeben, doch stattdessen folge ich Harry schnell durch die leeren Flure unserer Schule nach draußen zu den Parkplätzen, wo er von Weitem sein Auto aufschließt.

„Harry!", rufe ich ihm hinterher, als er seine Autotür öffnet.

Er ignoriert mich und schmeißt seinen Rucksack auf den Beifahrersitz.

Ich jogge zu ihm und komme schnaufend an. „Hey, warte kurz."

„Was willst du?", fragt er mich mit gereiztem Unterton und zieht sich eine Sonnenbrille auf, während er sich in seinen Wagen setzt. Jetzt kann ich seine müden Augen nicht mehr sehen.

Ich stelle mich neben seine Tür, doch komme ihm nicht zu nahe, damit er mich nicht umfahren kann, falls er das vorhat. „Vergiss nicht, dass wir morgen schon nachsitzen müssen", sage ich, doch versuche trotzdem, sein Gesicht näher zu betrachten, das ich nur von der Seite sehe. Sogar mit Sonnenbrille sieht er ermattet aus.

Harry greift nach dem Türgriff und schmeißt die Tür zu, doch er spricht noch zu mir, weil sein Fenster offen ist. „Ich vergesse es nicht."

„Gut." Kurz stehe ich einfach nur da und betrachte sein Profil. Es ist merkwürdig, ihn so zu sehen.

Ihm entgeht mein seltsames Gestarre natürlich nicht, deswegen wendet er sein Gesicht nun zu mir. „Hast du irgendein verdammtes Problem?"

Ich verziehe nachdenklich den Mund. „Sag mal, ist alles okay? Entweder bist du betrunken oder du hast die ganze Nacht nicht geschlafen."

Er wendet sich wieder von mir ab und startet genervt den Motor, weswegen ich einen Schritt zurückgehe. „Alles bestens", sagt er über den Klang des Motors. „Und jetzt geh einen Schritt zur Seite, wenn du nicht willst, dass ich dich umfahre."

Sofort tue ich, was er sagt. Er ist heute anscheinend noch genervter als sonst, aber diesmal ist es nicht amüsant. Es ist erschreckend und gleichzeitig sollte ich auch mit so was rechnen, denn er ist ständig unfreundlich zu mir, nicht nur heute.

Ich schultere meine Tasche erneut, als er schließlich an mir vorbeibraust in Richtung der Straße. Na, Halleluja. Hoffentlich ist er nicht so, wenn wir nachsitzen müssen oder er in meinem Kurs ist. Da schmiere ich mir mit ihm doch lieber Soße ins Gesicht, als so einen ausgelaugten Harry bei mir zu haben.