Dombey und Sohn

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Siebentes Kapitel. VOGELPERSPEKTIVE VON MIß TORS WOHNUNG UND IHRE LIEBHABEREIEN.

Miß Tor bewohnte ein dunkles Häuschen, das sich in einer früheren Periode der englischen Geschichte mitten hinein in eine fashionable Umgebung des Westendes von London gezwängt hatte, wo es wie eine arme Verwandte der um die Ecke herum liegenden großen Straße im Schatten stand und von den mächtigen Nachbarhäusern nur über die Achsel angesehen wurde. Es stand nicht gerade in einem Hof, wohl aber in einer der langweiligsten Sackgassen, die noch beängstigender und hagerer wurde durch die fernen Doppelschläge. Dieser abgeschiedene Ort, wo zwischen den Pflastersteinen das Gras in die Höhe schoß, hieß der Prinzessinnenplatz, und auf dem Prinzessinnenplatz befand sich eine Prinzessinnenkapelle mit einer gellenden Glocke, in der sich bisweilen ein paar Dutzend Personen zum Sonntagsgottesdienst versammelten. Ferner sah man hier ein Wappen der Prinzessinnen, das häufig von Dienern in funkelnden Livreen besucht wurde, und innerhalb des Geländers vor den Wappen der Prinzessinnen stand eine Sänfte, die aber seit Menschengedenken nie herausgekommen war. An schönen Morgen waren die Spitzen sämtlicher Geländerstangen (ihrer Zahl nach 48, wie sich Miß Tor oft aus eigener Zählung überzeugt hatte) mit Zinnkrügen verziert. Auf dem Prinzessinnenplatz stand neben der Wohnung Miß Tor noch ein anderes Privathaus, dessen ungeheures Flügeltor, mit ein paar ungeheuren löwenköpfigen Klopfern daran, gar nicht erwähnt zu werden braucht, da es nie geöffnet wurde und vermutlich ein außer Brauch gekommener Eingang zu jemands Ställen war. Überhaupt herrschte auf dem Prinzessinnenplatz ein gewisser unverkennbarer Stallgeruch, und das hinten hinausgehende Schlafgemach der Miß Tor beherrschte eine Aussicht auf Ställe, wo stets Pferdeknechte mit irgendeiner Art Arbeit beschäftigt waren und sich dabei mit gewaltigem Geschrei unterhielten. Auch sah man dort die häuslichsten und vertraulichsten Kleider der Kutscher, ihrer Weiber und Familien, die gewöhnlich wie Macbeths Banner an den äußeren Mauern aufgehängt waren.

In dem andern Privathaus des Prinzessinnenplatzes, das von einem in Ruhestand getretenen und mit einer Wirtschafterin verehelichten Hausmeister bewohnt wurde, waren Gemächer an einen Junggesellen vermietet – nämlich an einen holzköpfigen, blaugesichtigen Major mit großen hervorquellenden Augen, in denen Miß Tor, wie sie sich selbst ausdrückte, »etwas so wahrhaft Militärisches« erkannte. Zwischen diesem Herrn und ihr fand ein gelegentlicher Austausch von Zeitungen und Flugschriften statt – ein platonisches Spiel, das durch einen schwarzen Diener des Majors vermittelt wurde. Miß Tor begnügte sich vollkommen damit, letzteren als einen »Eingeborenen« zu klassifizieren, ohne ihn mit irgendeiner geographischen Idee in Verbindung zu bringen.

Vielleicht hat es nie einen engeren Eingang und eine schmälere Treppe gegeben, als den Eingang und die Treppe von dem Hause der Miß Tor. Vielleicht war es im ganzen von oben bis unten genommen das unbequemste und verkrümmteste kleine Haus in ganz England; aber Miß Tor pflegte es mit den Worten zu entschuldigen – »aber die Lage!« Im Winter hatte man nur kurze Zeit ein wenig Tageslicht, und auch in den besten Zeiten war nie Sonnenlicht zu bekommen. Von der Luft ist bereits die Rede gewesen, und vom Verkehr war man ganz abgeschnitten. Dennoch sagte Miß Tor – »bedenkt nur, welch eine Lage!« Der blaugesichtige Major mit seinen Glotzaugen war damit einverstanden und tat sich viel auf den Prinzessinnenplatz zugut, da er ihm Gelegenheit gab, in seinem Klub immer wieder das Gespräch auf die vornehmen Leute und die große Straße um die Ecke zu bringen, nur um sich den Hochgenuß zu bereiten, daß er sagen konnte, sie seien seine Nachbarn.

Das finstere Haus, das Miß Tor bewohnte, war ihr Eigentum und ihr von dem verstorbenen Besitzer des fischigen Auges in dem Schlosse vermacht worden; auch befand sich ein Miniaturporträt desselben mit gepuderten Haaren und Zopf als Gegenstück zu dem Kesselhalter auf der andern Seite des Kamins im Wohnstübchen. Der größere Teil des Möbelwerks stammte gleichfalls aus der Zeit des Puders und der Zöpfe; namentlich zeichnete sich darunter ein Tellerwärmer, der stets seine vier abgezehrten, gebogenen Beine jemand in den Weg streckte, und ein abgenutztes Klavier aus, um das sich der Name des Instrumentenmachers mit einer gewaltigen Erbsengirlande herumzog.

Obschon Major Bagstok bei dem großen Meridian des Lebens, wie man es in der feinen Literatur nennt, angelangt war und seine Wanderung abwärts mit kaum einem Halse, einem sehr starren Paar Backenknochen, langen, hängenden Elefantenohren und Augen in dem bereits erwähnten Zustande künstlicher Aufregung weiter verfolgte, so ließ er es sich doch gewaltig angelegen sein, in Miß Tor ein Interesse für sich zu wecken, und so kitzelte er denn seine Eitelkeit mit der Vorstellung, daß sie eine herrliche Frauensperson sei, die ihr Auge auf ihn geworfen habe. Er hatte das auch mehrere Male in seinem Klub angedeutet, und manche kleine Scherze damit in Verbindung gebracht, in denen der alte Joe Bagstok, der alte Joey Bagstok, der alte J. Bagstok, der alte Josh Bagstok usw. das ewige Thema bildeten; es gehörte nämlich sozusagen zu dem Bollwerk von des Majors heiterem Humor, stets mit seinem eigenen Namen auf dem vertraulichsten Fuß zu stehen.

»Joey B., Sir«, konnte der Major mit einer Schwenkung seines Spazierstocks sagen, »ist so viel wert, wie ein Dutzend von Euch. Wenn Ihr einige mehr von der Bagstokzucht unter Euch hättet, Sir, so würdet Ihr dadurch nicht schlechter fahren. Auch jetzt noch, Sir, braucht der alte Joe nicht lange nach einem Weibe suchen, wenn es ihm darum zu tun ist; aber der Joe ist hartherzig, Sir – er ist zäh, Sir, zäh und verteufelt schlau!«

Nach einer solchen Erklärung konnte man pfeifende Töne hören, und das blaue Gesicht des Majors vertiefte sich zum Purpur, während seine Augen in wahrhaft konvulsivischem Zustande hervorquollen.

Ungeachtet des sehr freigebigen Eigenlobes war übrigens der Major ein selbstsüchtiger Mann. Wir möchten bezweifeln, ob es je eine Person mit einem selbstsüchtigeren Herzen oder – um mich eines bessern Ausdrucks zu bedienen – mit einem selbstsüchtigeren Magen gab, zumal da man zugeben muß, daß er mit letzterem Organ entschieden reichlicher bedacht worden war, als mit dem ersteren. Es fiel ihm nicht entfernt ein, daß er übersehen oder gering geschätzt werden könnte, am wenigsten aber ließ er sich träumen, daß etwas Derartiges gar von Miß Tor ausgehen könnte.

Und doch gewann es den Anschein, als ob Miß Tor ihn vergessen habe – allmählich vergessen habe. Sie machte damit den Anfang bald nach dem Auffinden der Toodle-Familie, fuhr dann fort bis zu der Zeit der Kindstaufe, und nachher hatte ihr Interesse für ihn ganz und gar aufgehört. Ihre Teilnahme mußte durch irgend etwas oder irgend jemanden verdrängt worden sein.

»Guten Morgen, Ma›am«, sagte der Major, als er ihr einige Wochen nach den im vorigen Kapitel erwähnten Veränderungen auf dem Prinzessinnenplatze begegnete.

»Guten Morgen, Sir«, versetzte Miß Tor mit großer Kälte.

»Es ist schon geraume Zeit her, Ma›am«, bemerkte der Major mit seiner gewohnten Galanterie, »daß Joe Bagstok nicht das Glück hatte, Euch an Eurem Fenster sein Kompliment zu machen. Joe fühlt sich hart behandelt, Ma›am. Seine Sonne hat sich hinter einer Wolke versteckt.«

Miß Tor neigte ihr Haupt, aber in der Tat nur sehr kühl.

»Joes Sonne ist vielleicht über Land gewesen, Ma'am?« inquirierte der Major.

»Ich – über Land? o nein; ich bin nicht aus der Stadt gekommen«, versetzte Miß Tor. »Ich war in letzter Zeit viel in Anspruch genommen und muß fast jeden freien Augenblick einigen sehr vertrauten Freunden widmen. Ich fürchte, daß ich sogar jetzt mit meiner Zeit geizen muß. Guten Morgen, Sir!«

Miß Tor verschwand mit ihrer höchst bezaubernden Haltung von dem Prinzessinnenplatz, und der Major sah ihr mit einem Gesichte nach, das blauer war als je; dabei murmelte und brummte er etwas vor sich hin, was durchaus nicht wie ein Kompliment klang.

»Ei, verdammt Sir«, sagte der Major, seine Hummeraugen über den Prinzessinnenplatz hin und her rollen lassend und dessen würzige Luft anredend, »noch vor sechs Monaten würde dieses Weib den Boden geküßt haben, auf dem Josh Bagstok einhertrat. Was hat das nun zu bedeuten?«

Nach längerer Erwägung kam der Major zu dem Schluß, daß es sich hier um eine Männerfalle handle – um ein Ränkespiel, um das Legen einer Schlinge – mit einem Worte, daß Miß Tor Fallgruben herrichte. »Aber den Joe fangt Ihr nicht, Ma'am, – J. B. ist zäh. Zäh und verteufelt schlau.«

Diese Entdeckung beglückte ihn dermaßen, daß er den ganzen Tag über vor sich hinkicherte.

Aber es verging ein Tag nach dem andern, und es hatte durchaus nicht den Anschein, als ob Miß Tor überhaupt auf den Major achte oder an ihn denke. In früheren Zeiten war es ihre Gewohnheit gewesen, hin und wieder wie zufällig aus einem ihrer kleinen dunkeln Fenster hinauszusehen und errötend den Gruß des Majors zu erwidern; aber jetzt gab sie ihrem militärischen Nachbar nie mehr einen Anlaß dazu und kümmerte sich auch nicht darum, ob er über die Straße herübersah oder nicht. Es sollten auch noch andere Veränderungen vorgehen. Der Major konnte im Schatten seines eigenen Zimmers stehend die Wahrnehmung machen, daß die Wohnung der Miß Tor in letzter Zeit ein schmuckeres Aussehen gewonnen hatte. Für den alten kleinen Kanarienvogel war ein neuer Käfig mit vergoldeten Drähten angeschafft worden; verschiedener Zierat, aus Pappendeckel und Papier geschnitten, schien den Kaminsims und die Tische zu zieren; an den Fenstern waren plötzlich ein paar Pflänzlein aufgeschossen, und Miß Tor übte sich gelegentlich auf ihrem Klavier, dessen Erbsengirlande sich gar prunkhaft ausnahm und auf dem ein Notenheft mit einigen von Miß Tor selbst abgeschriebenen Walzern lag.

 

Vor allem war es jedoch der Umstand, daß sich Miß Tor längst mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Eleganz in eine leichte Trauer gekleidet hatte. Das half dem Major mit einem Male aus all seiner Schwierigkeit, und er kam dadurch zu dem Schluß, daß ihr irgendein kleines Legat zugefallen und sie deshalb stolz geworden sei.

Schon am anderen Tage, nachdem sich der Major durch diese Folgerung das Gemüt erleichtert hatte, sah er, wie er eben bei seinem Frühstück saß, eine so erstaunliche und wundervolle Erscheinung in dem kleinen Wohnstübchen der Miß Tor, daß er geraume Zeit auf seinem Sessel wie angenagelt sitzenblieb; dann stürzte er in sein Nebenkabinett und kehrte mit einem doppelröhrigen Operngucker zurück, mit dem er die Erscheinung einige Minuten lang aufs angelegentlichste betrachtete.

»Ich wette fünfzigtausend Pfund, es ist ein kleines Kind, Sir«, sagte der Major, indem er das Augenglas wieder zusammendrückte.

Das konnte der Major nicht vergessen. Er pfiff in einem fort, und seine Augen quollen so furchtbar hervor, daß sie in dem Zustande, wie sie früher waren, eigentlich als tiefliegend und eingesunken betrachtet werden konnten. Tag um Tag, zwei-, drei-, viermal in der Woche machte das Wickelkind seinen Besuch. Der Major fuhr fort, zu glotzen und zu pfeifen. Aber was er auch treiben mochte, niemand achtete seiner auf dem Prinzessinnenplatze, denn Miß Tor hatte aufgehört, an seinem Tun und Lassen Anteil zu nehmen. Sein Blau hätte sich ebensogut in Schwarz verwandeln können, ohne daß es sie in irgendeiner Weise interessiert hätte.

Die Beharrlichkeit, mit der sie den Prinzessinnenplatz verließ, um das Wickelkind und seine Wärterin zu holen, mit ihnen zu kommen, zu gehen und beständige Wache über sie zu halten – die Ausdauer, mit der sie es selbst pflegte, nährte, durch Spielen unterhielt oder durch Arien auf ihrem Klavier in Todesängste versetzte, war ganz außerordentlich. Auch befiel sie um dieselbe Zeit eine große Leidenschaft, nach einem gewissen Armband zu sehen und den Mond zu betrachten, an dem sie oftmals von ihrem Kammerfenster aus lange Beobachtungen anstellte. Nach was sie übrigens auch sehen mochte, nach Sonne, Mond, Sternen oder Armbändern – für den Major hatte sie keinen Blick mehr. Und der Major, der vor Neugierde fast starb, pfiff, glotzte und düsselte in seinem Zimmer herum, ohne der Sache auf den Grund kommen zu können.

»Gewiß und wahrhaftig, Ihr werdet das Herz meines Bruders Paul noch ganz gewinnen«, sagte eines Tages Mrs. Chick.

Miß Tor erblaßte.

»Er wird mit jedem Tage Paul ähnlicher«, fuhr Mrs. Chick fort.

Miß Tox gab darauf keine andere Erwiderung, als daß sie den kleinen Paul in ihre Arme nahm und dessen Haubenband mit ihren Liebkosungen ganz zerknitterte.

»Ich habe die Bekanntschaft seiner Mutter erst durch Euch machen sollen, meine Liebe«, sagte Miß Tor. »Hat er überhaupt Ähnlichkeit mit ihr?«

»Nicht im geringsten«, entgegnete Louisa.

»Sie war – war hübsch, glaube ich?« stotterte Miß Tor.

»Nun ja, die liebe arme Fanny war interessant«, erwiderte Mrs. Chick nach längerem Bedenken. »Gewiß interessant. Sie besaß zwar nicht jene beherrschende Überlegenheit, die man fast als eine Sache, die sich von selbst versteht, an der Gattin meines Bruders zu finden erwartete, und ebensowenig die Kraft und Lebhaftigkeit des Geistes, die ein solcher Mann braucht.«

Miß Tor seufzte tief.

»Aber sie war angenehm«, fuhr Mrs. Chick fort, »sehr angenehm. Und sie meinte es gut – ach Himmel, wie gut meinte es nicht die arme Fanny!«

»Du Engel!« rief Miß Tor dem kleinen Paul zu. »Du treues Abbild deines Papas.«

Hätte der Major wissen können, wie viele Hoffnungen und Wagnisse, welche Menge von Plänen und Spekulationen sich an dieses kleine Kind knüpften – wäre es ihm möglich gewesen, Zeuge zu sein, wie sie in ihrer buntesten Verwirrung und Unordnung die zerdrückte Haube des nichts ahnenden kleinen Paul umschwebten, so würde er sicherlich allen Grund gehabt haben, die Augen aufzureißen. Er hätte nämlich unter dem Gewimmel einige ehrgeizige, ausschließlich Miß Tor angehörige Sonnenstäubchen und Strahlen erkennen können, und dann wäre ihm wahrscheinlich klar geworden, welche Beschaffenheit es mit der scheuen Teilnahme dieser Dame an der Firma Dombey hatte.

Hätte das Kind selbst in der Nacht geweckt werden können, damit es an den Vorhängen seiner Wiege die matten Reflexe von Träumen erschaue, die andere Leute an seine Person knüpften, so wäre es sicherlich aus guten Gründen vor Angst in Krämpfe gefallen. Aber Paul schlummerte sanft, ohne Ahnung von den liebevollen Absichten der Miß Tor, von der Verwunderung des Majors, von den frühen Leiden seiner Schwester und von den ernsteren Visionen seines Vaters; konnte er ja nicht dafür, daß irgendein Teil der Erde einen Dombey oder einen Sohn barg.

Achtes Kapitel. PAULS WEITERE FORTSCHRITTE – SEIN GEDEIHEN UND SEIN CHARAKTER.

Unter den wachsamen Augen der Zeit – so ganz anderen, als die des Majors waren – ging mit Pauls Schlummern allmählich eine Veränderung hervor. Es gewann mehr und mehr Licht, immer bestimmtere und bestimmtere Träume störten ihn, und eine Menge von Gegenständen und Eindrücken umschwärmten sein Lager. Er ging aus dem Alter der hilflosen Kindheit in das der regsameren über und wurde ein plaudernder, umhergehender, neugieriger Dombey.

Nach dem Sturz der Verbannung der Richards wurde die Kinderstube nur provisorisch versorgt, wie es zuweilen auch bei Ministerien zu sein pflegt, wenn sich kein individueller Atlas finden läßt, um sie zu tragen. Die provisorisch Betrauten waren natürlich Mrs. Chick und Miß Tor, die sich ihren Obliegenheiten mit so erstaunlichem Eifer hingaben, daß Major Bagstok mit jedem Tage neu an sein Vergessensein erinnert wurde, während Mr. Chick, der häuslichen Oberaufsicht beraubt, sich in die lustige Welt warf, in Klubs und Kaffeehäusern speiste, bei drei verschiedenen Gelegenheiten nach Tabak roch, allein ins Theater ging und – um es kurz zu sagen – sich jeder sozialen Pflicht und jeder moralischen Verbindlichkeit – wie ihm einmal von Mrs. Chick bedeutet wurde – als enthoben erachtete.

Aber trotz der früheren guten Aussichten und trotz aller dieser Wachsamkeit und Sorgfalt wollte der kleine Paul doch nicht recht gedeihen. Von Natur aus zart, nahm er nach der Entfernung seiner Amme sehr ab, und es hatte geraume Zeit den Anschein, als warte er nur auf eine Gelegenheit, seinen neuen Wärterinnen aus den Händen zu gleiten und seine verlorene Mutter zu suchen. Den gefährlichen Boden auf der Rennjagd zu dem reiferen Alter fand er sehr schwer durchzumachen, und er wurde im Laufe derselben von allen erdenklichen Hemmnissen hart bedrängt. Jeder Zahn wurde für ihn zu einer halsbrechenden Verzäunung, jeder Masernflecken zu einer steinernen Mauer. Jeder Anfall von Keuchhusten warf ihn aufs Krankenlager, und er mußte ein ganzes Feld kleiner Krankheiten, die sich auf den Fersen folgten, um ihn ja nicht zum Aufstehen kommen zu lassen, überqueren. Ja sogar die Hühner wurden wütend, wenn sie etwas mit der Kinderkrankheit zu tun hatten, der sie ihren Namen liehen, und quälten den armen Paul wie Tigerkatzen.

Vielleicht hatte auch die Kälte bei Pauls Taufe irgendeinen empfindsamen Teil seines Wesens berührt, so daß er sich in dem kalten Schatten seines Vaters nicht erholen konnte; so viel ist gewiß, daß er von diesem Tage an ein unglückliches Kind war. Mrs. Wickham sagte oft, sie habe nie ein so liebes Geschöpf so schwer heimgesucht gesehen.

Mrs. Wickham war die Frau eines Kellners – was etwa gleichbedeutend sein dürfte mit der Witwe eines jeden andern Mannes – und ihre Bewerbung um ein Unterkommen in Mr. Dombeys Dienst hatte unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie augenscheinlich keinen Anhang haben konnte, geneigte Aufnahme gefunden. Einige Tage später nach Pauls schneller Entwöhnung war sie zu dessen Wärterin bestellt worden. Mrs. Wickham war eine bescheidene Frau mit weißem Teint, stets emporgezogenen Augenbrauen und unablässig gesenktem Kopfe. Stets bereit, sich selbst zu bemitleiden, bemitleidet zu werden, oder jemand anders zu bemitleiden, hatte sie eine überraschende natürliche Gabe, alle Gegenstände in einem gänzlich verlorenen beklagenswerten Lichte zu betrachten, die schauerlichsten Vorgänge damit in Verbindung zu bringen und aus der Übung ihre« Talents die größten Tröstungen abzuleiten.

Es ist kaum nötig, zu bemerken, daß kein Zug dieser ihrer Eigenschaft je zur Kenntnis des großmächtigen Mr. Dombey kam. Das wäre auch in der Tat merkwürdig gewesen, da es doch niemand im Haus – nicht einmal Mrs. Chick oder Miß Tor – je wagte, ihm bei irgendeiner Gelegenheit zuzuraunen, daß in Beziehung auf den kleinen Paul auch nur der mindeste Grund zur Unruhe vorhanden sei. Er hielt es für etwas Notwendiges, daß das Kind eine gewisse Reihe kleiner Krankheiten durchmachen müsse, und es sei nur um so besser, je früher das geschehe. Allerdings, wenn er imstande gewesen wäre, ihn loszukaufen oder einen Substituten an seine Stelle zu setzen, wie man das im Falle eines unglücklichen Zugs bei der Konskription zu tun pflegt, so würde er keine Geldausgabe gescheut haben; da das aber nicht möglich war, so wunderte er sich nur hin und wieder in seiner hochmütigen Weise, was denn die Natur damit bezwecke, und tröstete sich mit dem Gedanken, es sei wieder ein weiterer Meilenstein zurückgelegt und das große Ziel der Reise näher herangerückt. Das vorherrschendste Gefühl in seiner Seele, das sich immer mehr steigerte, je älter Paul wurde, war die Ungeduld – ein sehnsüchtiges Harren der Zeit, in welcher seine Träume von ihrer vereinten Bedeutsamkeit und Größe zur triumphierenden Wirklichkeit würden. Einige Philosophen sagen uns, daß unseren besten Neigungen immer die Selbstsucht zugrunde liege. Für Mr. Dombey war der kleine Paul von Anfang an als ein Teil seiner eigenen Größe oder – was damit gleichbedeutend ist – der Größe von Dombey und Sohn so entschieden wichtig, daß ohne Frage, wie mancher gute Oberbau eines unbescholtenen Rufs, seine väterliche Liebe sich leicht auf eine sehr niedrige Grundlage zurückführen ließ. Er liebte übrigens seinen Sohn mit aller Liebe, deren er fähig war. Wenn sich je in seinem frostigen Herzen ein warmer Winkel befand, so war dieser von dem Sohn in Anspruch genommen, und wenn die sehr harte Oberfläche desselben den Eindruck eines Bildes aufnehmen konnte, so war es das des Sohnes. Doch war es kaum das Bild des kindlichen oder knabenhaften, sondern vielmehr das des erwachsenen, des »Sohns« der Firma. Deshalb sah er so ungeduldig der Zukunft entgegen, deshalb wäre er so gern über die früheren Abschnitte der Entwicklung hinweggeeilt, und darum machte er sich, trotz seiner Liebe, nur so wenig oder gar keine Sorge darüber. Er schien der Überzeugung zu sein, der Knabe habe ein gefeites Leben und müsse notgedrungen der Mann werden, mit dem sich schon jetzt unaufhörlich seine Gedanken beschäftigten, und für den er, wie für eine existierende Wirklichkeit, jeden Tag neue Pläne schmiedete.

Paul war jetzt beinahe fünf Jahre alt. Er war ein hübsches Knäblein, hatte aber dabei ein so schmächtiges, tiefsinniges Gesichtchen, daß Mrs. Wickham oft bedeutungsvoll den Kopf schüttelte und tief dabei seufzte. Seine Gemütsart stellte in Aussicht, daß er im späteren Leben sehr gebieterisch werden dürfte; auch wußte er seine eigene Bedeutsamkeit und die Pflicht zur Unterwerfung allen andern Personen und Gegenständen so deutlich klar zu machen, als es das Herz nur wünschen konnte. Zuweilen war er kindlich und scherzhaft genug, da er überhaupt keinen störrischen Charakter besaß; aber zu andern Zeiten hatte er eine gar befremdliche altmodische, gedankenschwere Art an sich, wenn er brütend in seinem kleinen Sesselchen saß und dabei wie eines jener schrecklichen kleinen Wesen in den Feenmärchen aussah oder redete, die bei einem Alter von hundertundfünfzig oder zweihundert Jahren phantastisch die Kinder repräsentieren, mit denen sie vertauscht wurden. Droben in der Kinderstube wandelte ihn gar oft diese frühreife Stimmung an, und er konnte mit dem Ausruf, daß er müde sei, urplötzlich darin verfallen, selbst wenn er gerade mit Florence spielte oder Miß Tor als Pferd am Leitseil gehen ließ. Nie aber befiel ihn diese Laune so sicher, als wenn sein kleiner Stuhl nach dem Zimmer seines Vaters gebracht wurde und er dort nach der Mahlzeit neben seinem Erzeuger am Feuer sitzen mußte. Zu solcher Zeit waren sie das seltsamste Paar, das je vom Feuerlichte beschienen wurde. – Mr. Dombey, so aufrecht und feierlich in die Flamme schauend, sein kleines Ebenbild aber mit einem alten, alten Gesicht, mit der gespannten und verzückten Aufmerksamkeit eines Zauberers in die rote Perspektive blickend. Mr. Dombey unterhielt sich mit verwickelten weltlichen Entwürfen und Plänen, Sohn aber erging sich in weiß der Himmel was für wilden Phantasien, halbgeformten Gedanken und unsteten Spekulationen. Mr. Dombey saß da, steif von Stärke und Anmaßung, Sohn als sein echter Sprößling in unbewußter Nachahmung. Beide waren sich so sehr ähnlich und bildeten doch einen so schreienden Gegensatz.

 

Bei einer dieser Gelegenheiten waren beide geraume Zeit vollkommen ruhig dagesessen, und Mr. Dombey entnahm das Wachen des Kindes nur dem Umstände, daß ihn hin und wieder ein Blitz seines Auges traf, in dem das helle Feuer wie aus einem Diamant funkelte, als der kleine Paul das Schweigen in folgender Weise unterbrach:

»Papa, was ist Geld?«

Diese plötzliche Frage hatte eine so unmittelbare Beziehung zu Mr. Dombeys Gedanken, daß dieser ganz betroffen wurde.

»Was Geld ist, Paul?« entgegnete er. »Geld?«

»Ja«, sagte das Kind und legte die Hände auf die Lehnen seines kleinen Stuhls, während er zugleich das alte Gesicht Mr. Dombey zukehrte: »was ist Geld?«

Mr. Dombey sah sich in Verlegenheit. Er hätte ihm gerne eine Erklärung über die verschiedenen Bezeichnungen dieses Zirkulationsmittels, über Kurantmünze, nicht kursfähige Münze, Papier, Barren, Wechsel, den Marktwert der edlen Metalle usw. gegeben; als er aber auf den kleinen Stuhl niederblickte und dabei bemerkte, wie ferne noch ein gehöriges Verständnis des Gegenstandes lag, antwortete er:

»Gold, Silber und Kupfer, Guineen, Shillinge, Halbpence. Du weißt, was das ist?«

»O ja, das weiß ich wohl«, sagte Paul. »Das meine ich auch nicht, Papa. Ich möchte wissen, was Geld überhaupt ist.«

Himmel und Erde, wie alt sein Gesicht war, als er es abermals zu dem seines Vaters erhob!

»Was Geld überhaupt ist?« entgegnete Dombey, indem er seinen Stuhl ein wenig zurückschob, um in heller Verwunderung das anmaßende Atom, das eine solche Frage gestellt hatte, besser betrachten zu können.

»Ich meine Papa, was kann es ausrichten?« versetzte Paul, indem er die Arme kreuzte (sie waren kaum lang genug dazu) und seine Blicke zwischen dem Feuer und seinem Vater hin und her gleiten ließ.

Mr. Dombey rückte seinen Stuhl wieder an den früheren Platz und pätschelte Paul auf den Kopf.

»Du wirst es mit der Zeit erfahren, Bürschlein«, sagte er. »Geld, Paul, kann alles ausrichten.«

Er faßte dabei die kleine Hand des Knaben und klopfte leicht mit seiner darauf.

Aber Paul machte seine Hand los, sobald er konnte, rieb die Fläche derselben sachte auf der Stuhllehne hin und her, als ob sein Verstand darin sitze und er ihn schärfen wolle, schaute abermals ins Feuer, wie wenn ihm von diesem die Frage eingegeben worden sei, und wiederholte nach einer kurzen Pause:

»Alles Papa?«

»Ja, alles – beinahe«, sagte Mr. Dombey.

»Alles will soviel heißen, wie überhaupt alles – ist es nicht so, Papa?« fragte der Sohn, die Beschränkung entweder nicht bemerkend, oder vielleicht auch nicht verstehend.

»Ja«, versetzte Mr. Dombey.

»Warum hat Geld nicht meine Mama gerettet?« entgegnete das Kind – »es ist doch nicht grausam – oder?«

»Grausam!« sagte Mr. Dombey, indem er die Halsbinde zurechtrückte und sich über die Idee zu ärgern schien. »Nein. Etwas Gutes kann nicht grausam sein!«

»Wenn es etwas Gutes ist und alles kann«, sagte der kleine Bursche, nachdenklich wieder in das Feuer zurückschauend, »so wundere ich mich nur, warum es meine Mama nicht rettete.«

Er stellte diesmal seine Frage nicht an seinen Vater. Vielleicht hatte er mit kindlichem Scharfsinn erfaßt, daß sie seinen Vater bereits unruhig gemacht. Aber er wiederholte den Gedanken laut, als sei es etwas Altes, das ihn längst beunruhigt habe, und legte das Kinn auf die Hand, wie wenn er sinnend in dem Feuer die Erklärung suche.

Mr. Dombey erholte sich schnell von seiner Überraschung, um nicht zu sagen von seiner Unruhe – denn es war das erstemal, daß der Knabe mit ihm über die Mutter sprach, obschon er ihn jeden Abend in derselben Weise an seiner Seite sitzen hatte – und erklärte ihm nun, daß das Geld zwar ein sehr gewaltiger Geist sei, den man unter keinen Umständen je vergeuden dürfe, aber gleichwohl nicht vermöge, Leute, deren Sterbestündlein gekommen sei, am Leben zu erhalten; leider müßten alle Menschen sterben, sogar in der City, und wenn sie auch noch so reich seien. Das Geld bewirke übrigens, daß man geehrt, gefürchtet, geachtet, gesucht und bewundert werde; es mache mächtig und herrlich in den Augen aller Menschen und könne sehr oft für eine geraume Zeit sogar den Tod abhalten. Es habe z.B. seiner Mama die Dienste des Mr. Pilkins gesichert, die Paul selbst ja oft zustatten gekommen seien, ebenso die des großen Doktors Parker Peps, den er noch nicht kennengelernt habe. Es könne alles ausrichten, was überhaupt sich ausrichten lasse. Das und ähnliches flößte Mr. Dombey dem Geiste seines Sohnes ein, der aufmerksam zuhörte und den größten Teil dessen, was ihm gesagt wurde, zu verstehen schien.

»Aber es kann mich nicht kräftig oder ganz gesund machen, Papa – oder kann es?« fragte Paul nach kurzem Schweigen und rieb sich die kleinen Händchen.

»Ei, du bist ja kräftig und gesund«, entgegnete Dombey, »oder bist du es etwa nicht?«

O wie alt war der Ausdruck des Gesichts, das sich nun wieder mit halb melancholischem, halb schlauem Ausdruck erhob.

»Wie, bist du etwa nicht so kräftig und so gesund, wie kleine Leute es gewöhnlich sind?« fragte Mr. Dombey.

»Florence ist zwar älter als ich; aber ich weiß, ich bin nicht so stark und gesund wie Florence«, entgegnete das Kind, »und ich glaube, als Florence so klein war, wie ich, konnte sie viel länger in einem fort spielen, ohne müde zu werden. Ich bin oft so müde«, sagte der kleine Paul, indem er sich die Hände wärmte und durch das Kamingitter sah, als fände dort ein gespenstisches Puppenspiel statt, »und meine Knochen tun mir so weh – Wickham sagt wenigstens, es seien die Knochen – daß ich nicht weiß, was ich tun soll.«

»Nun ja; aber das ist abends«, sagte Mr. Dombey, indem er seinen Stuhl näher zu dem seines Sohnes rückte und seine Hand sanft auf dessen Rücken legte; »kleine Leute müssen abends müde sein, wenn sie gut schlafen wollen.«

»O, es ist nicht nur abends, Papa«, versetzte das Kind; »auch am Tage, wenn ich in Florences Schoß liege und sie mir etwas vorsingt. Nachts träume ich sonderbare, wunderliche Dinge!«

Und er fuhr fort, seine Hände zu wärmen und sich Gedanken darüber zu machen, wie ein alter Mann oder ein junger Kobold.

Mr. Dombey war erstaunt, fühlte sich unbehaglich und wußte ganz und gar nicht, wie er die Unterhaltung fortführen sollte, so daß er sitzenblieb und seinen Sohn beim Schein des Feuers ansah, die Hand noch immer auf dessen Rücken liegen lassend, als würde sie dort durch magnetische Anziehung festgehalten. Einmal brachte er auch die andere Hand näher und drehte für einen Moment das kleine nachdenkliche Gesicht seinem eigenen zu; sobald er es aber wieder losgelassen hatte, suchte es aufs neue das Feuer und schaute auf die sprühenden Funken, bis die Wärterin erschien, um ihren Pflegling zu Bett zu bringen.

»Florence soll mich holen«, sagte Paul.

»Wollt Ihr nicht mit Eurer armen Wärterin Wickham kommen, Master Paul?« fragte die Dienerin mit großem Pathos.