Tasuta

Das Überlebensprinzip

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

9. Tag

Unser Weg führte weiter durch die Wälder und an einigen Dörfern vorbei. Wir wollten ein Bachtal überqueren, doch blöderweise standen wir plötzlich an eine Kante von abschüssigen Felsen, so dass wir erst gut einen Kilometer seitlich einen brauchbaren Weg ins Tal hinunter nehmen konnten. Unten angekommen gab es dann aber wieder keine Möglichkeit über den nur zwei Meter breiten Bachlauf zu kommen: kein Engpass zum drüber springen, keine Steine als Insel oder ein umgefallener Baumstamm. Kaum zu glauben, dass so eine lächerliche Situation ein echtes Hindernis darstellen konnte!

Nun, es half nichts - Schuhe aus, Hosen hochgekrempelt und durch das zum Glück nur knietiefe, eiskalte Wasser durchwaten. Das prickelnde Stechen in den Beinen hinterher und die tauben, paprikaroten Zehen werde ich so schnell nicht vergessen… So etwas kostete einfach nur Zeit. Gut eine ganze Stunde dauerte es, bis wir auf der anderen Seite wieder auf der Höhe waren.

In der Regel schafften wir so ca. 15 bis 20 Kilometer am Tag. Das war nicht viel, aber wir marschierten ja auch quer durch das Gelände. Dazu kam noch, dass wir morgens und abends das Zelt auf- und abbauten sowie Essen zubereiten mussten. Jeden zweiten oder dritten Tag verbrachten wir dann noch mit der Suche nach neuer Nahrung. Am Sonntag machten wir sogar eine Pause. So komisch es klingt - es gibt zwar keinen Grund dazu, aber einen Tag Ruhe in der Woche braucht der Mensch. Man hat dann wieder mehr Lust und Motivation das nächste Etappenziel anzugehen.

Wenn ich unsere Tagesleistung auf gut tausend Kilometer hochrechnete und die Unterbrechungen dabei berücksichtigte, dann könnten wir in ungefähr drei Monaten im Süden hinter dem Gebirge angekommen sein. Genau mitten im Sommer. Da wäre dann noch genug Zeit, um sich Vorräte und einen Unterschlupf für den Winter zu organisieren…

Am Abend kam Ben auf einmal mit leicht gequältem Gesicht zu mir. Er humpelte ein wenig. Fragend schaute ich ihn an. Als er seine Schuhe auszog, konnte man seitlich eine feuchte Stelle an seinem Socken erkennen. Ich ahnte schon woran das lag und als er diesen dann vorsichtig ausgezogen hatte, kam eine hässliche, ausgewachsene Blase zum Vorschein die zu allem Übel auch noch aufgegangen war. Autsch!

„Du hast deine Füße nicht richtig trocken gemacht nach unserer Bachüberquerung. Jetzt haben sich die nassen Socken an deinen Schuhen und Füßen wund gerieben.“ erklärte ich verärgert im Anbetracht der nun erzwungenen Pause und der dadurch verlorenen Zeit.

Ben schaute nur beleidigt und stöhnte entnervt.

„Eigentlich müsste jetzt dringend Desinfektionsmittel drauf. Und genau DAS haben wir vergessen einzupacken! Mist nochmal! Mist, Mist, Mist!!“

Wütend und frustriert über diese Situation sprang ich auf, nahm mir den nächstbesten Stock und prügle auf die Bäume ein… Nach einer Weile hatte ich mich dann wieder beruhigt und abgeregt.

„Okay, wir werden morgen weitersehen. Jetzt wische dir erstmal mit etwas Schnee den Eiter aus der Blase raus und wickle ein sauberes Tuch drum.“ riet ich Ben.

Als er viel zu zaghaft und wimmernd noch nicht einmal die Socken richtig auszog, wurde ich wieder ungeduldig. Aber es nutzte ja nichts. So kniete ich mich nieder und half ihm dabei.

„Lass deine Beine gestreckt!“

„Hör’ auf sie ständig wegzuziehen!“

„Wie sollen wir jemals fertig werden wenn du so zuckst?!“

Armer Ben, es tat ihm höllisch weh und er konnte sich nicht zusammenreißen um dem Reflex zu widerstehen. Also setzte ich mich kurzerhand mit dem Rücken zu ihm auf seine Beine, hielt das Schienenbein mit der einen Hand fest und machte mich an die Arbeit während er sich hinter mir vor Schmerzen wie ein Aal wand… Die Füße waren bald wieder sauber und umwickelt, mein Rücken zerkratzt und mit blauen Flecken übersät. Ben’s Wangen waren nass vor Tränen und rotglühend.

„Tut mir leid, Kumpel. Mensch, ich hätte nicht gedacht, dass du das so tapfer aushältst! Ehrlich.“ versuchte ich zu trösten. „Hey, du bist doch mein starker kleiner Bruder.“

Ben schniefte und nickte mir halb lächelnd zu - das heißt beim ihm so viel wie: „Ja, Danke.“ Erschöpft legte er sich hin und schlief bald ein während ich noch eine Weile an meinem Tagebuch weiter schrieb.

10. Tag

Es war mitten in der Nacht und ich hatte keine Ahnung, ob schon der neue Tag begann. Mich hatte der unruhige Schlaf von Ben aufgeweckt. Er schien zwar nicht richtig wach zu sein, aber irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Es waren einzelne Zuckungen, dann wieder ein hin und her wälzen von einer Seite zur anderen. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber ohne ein Wort oder einen Laut von sich zu geben. Ich dachte dass dies wieder einer seiner Alpträume war. Um sicher zu gehen, fühlte ich seine Stirn. Sie war mit Schweißperlen benetzt, aber ich spürte keine erhöhte Temperatur. Wahrscheinlich muss er wieder alte Erinnerungen verarbeiten. Das passierte immer wenn er vorher großen Stress gehabt hatte. Ich hatte ihn schon oft gefragt ob er mir nicht etwas davon aufschreiben möchte. Er konnte es aber nicht. Da ist wohl eine echte Blockade. Nur sein Schlaf löst ein wenig diese undurchdringliche Hülle auf.

„Ben. Hörst du mich? Ich bin bei dir. Du bist hier in Sicherheit, niemand kann dir mehr etwas antun. Sie sind alle längst fort…“ Ich fasste ihn sanft aber bestimmt an den Schultern. Langsam wurde er ruhiger. Morgen früh wird er sich an nichts mehr erinnern können.

-

Der neue Tag kam wunderbar sonnig über den Horizont der Hügel hervor. Der Schnee war so ziemlich überall geschmolzen. Zumindest dort wo die wärmenden Sonnenstrahlen hinkamen. Warme Frühlingsluft erfüllte die Natur. Eigentlich ein prima Tag zum Wandern!

Nur leider war erstmal Zwangspause angesagt. Die Wunde an Ben’s Füßen sah richtig hässlich und geschwollen aus. Nachdem ich das verklebte Tuch vorsichtig abgewickelt hatte konnte man das ganze Ausmaß deutlich sehen. Ich ließ die Stelle erstmal offen damit Luft dran kam.

„Nach dem Frühstück schaue ich mich um, wo ich hier in der Nähe Desinfektionsmittel her bekomme.“ versprach ich Ben.

Ich hatte Glück - am anderen Ende vom Wald fand ich einen Bauernhof. Ich beobachtete ihn erst mal eine gute Stunde bevor ich mich näher heran wagte. Durch das Fernglas hatte ich schon einiges an Verwüstung erkennen können, aber als ich im Hof stand, war es noch viel schlimmer! Mit Gewalt musste dieser Hof auf der Suche nach Lebensmitteln geplündert worden sein. Überall Einschusslöcher und geborstene Scheiben. Barrikaden waren errichtet gewesen aus allem Möglichen. Entsprechend sah es dann auch drinnen aus. Im Obergeschoss hatte es sogar gebrannt. Das konnte man aber erst von der Rückseite des Gebäudes aus erkennen. Ich hätte mir die Mühe also sparen können…

So ging ich die Zufahrt hinunter zur Straße, auf der Suche nach Schildern mit Ortsnamen und Kilometerangaben. Nach gut drei Kilometern kam ich an den nächsten Ort. Dieses Mal hatte ich mehr Glück! Erfolgreich konnte ich nachmittags dann zu Ben zurückkehren.

„Schau mal - Desinfektionsmittel für dich. Gerade mal ein Jahr abgelaufen. Haben wir ein Glück.“ rief ich ihm zu.

Gleichmäßig verteilte ich die Tinktur auf die Wunden und offenen Stellen. Danach machte ich eine Kompresse mit einem Verband drum, die ich beide aus einem Erste-Hilfe-Kasten aus einem Auto mitgenommen hatte.

„So - sieht doch ganz nett aus, oder?“ sagte ich aufmunternd.

„Morgen dasselbe noch mal und dann schauen wir ob es mit einem Pflaster und dicken Socken schon wieder geht.“

Ehrlich gesagt ging ich aber eher von einer Woche Krankenpause aus. Oder wir schaffen maximal fünf Kilometer am Tag, was sich echt nicht lohnen würde. Ben stöhnte nur entnervt. Für ihn war das den ganzen Tag nur herumsitzen einfach total ätzend.

11. Tag

Ein prima Morgen brach heute an! Klarer blauer Frühlingshimmel, dazu ein warmer Luftstrom und wieder das Gefühl, das die Natur aufbrechen will! So wie wir - eigentlich…

Nachdem ich Ben’s Verband erneuert hatte und die Wunde gut desinfiziert war, überlege ich, was ich sinnvolles erledigen könnte? Nun, am besten war es die Kleidung zu tauschen und zu waschen. Das musste auch hin und wieder mal sein. Wenn ich daran denke, dass ich früher jeden Tag geduscht hatte… Es hat lange gebraucht, bis ich mich an den natürlichen Körpergeruch gewöhnt hatte.

Trotzdem - Hygiene muss sein! So schaute ich mich bei dem geplünderten Bauernhof in der Nähe noch mal um. Trotz des ausgebrannten Wohnhauses fand ich in den Nebengebäuden alles, was man zum Kleiderwaschen benötigt: eine größere Plastikwanne, sogar Waschpulver und eine Wäscheleine. Leider stand mir kein warmes Wasser zur Verfügung. Aber das braucht man nicht unbedingt. So begab ich mich an den nächsten Bach und wusch wie in der guten alten Zeit unsere getragenen Sachen von Hand.

Nur einem Fehler darf man dabei nicht machen: das Seifenwasser einfach in den Bach wegschütten. Denn ein paar Kilometer weiter unterhalb könnte das jemandem auffallen… Somit entleerte ich die Wanne etwas weiter abseits auf der Wiese. Die Kleidungsstücke wurden im Wald zwischen den Bäumen zum Trocknen aufgehängt. Klar wäre es in der Sonne besser gewesen, aber dann könnte ich sie gleich an einen Fahnenmast hissen. Nicht die geringste Spur dürfen wir hier hinterlassen geschweige denn auffallen!

Gut gelaunt machte ich beim Mittagessen Ben den Vorschlag mal wieder zu baden. Er schüttelte sich am ganzen Körper - will sagen, dass es noch zu kalt dafür sei. Das stimmte ja auch. Ich hatte mir einmal mit kaltem Bachwasser die Haare gewaschen. Dabei hatte ich mir die Kopfhaut total verkühlt und den ganzen Tag danach Kopfschmerzen gehabt…

 

„Warts ab. Ich werde uns ein absolut klasse Dampfbad zaubern!“ versprach ich ein wenig prahlend.

Ben schaute ungläubig und ein wenig besorgt drein.

„Keine Sorge - ich hab auf dem Bauernhof was Interessantes entdeckt. Absolut sicher.“

Mit einen verschmitzten Grinsen ließ ich ihn zurück und begab mich an die Vorbereitungen: zunächst trieb ich einen großen Blechbottich auf - das sollte die Wanne werden. Nachdem ich ihn gereinigt hatte, wurde das Ding auf ein Untergestell aus Stahl aufgebockt. In der Scheune fand ich einen kleinen fensterlosen Nebenraum. Ideal für ein Badezimmer.

Wahrscheinlich fragst du dich, wie ich nun die Wärme erzeugen wollte und das ganz ohne verräterischen Qualm? In der Garage hatte ich zwei Heizstrahler mit noch fast vollen Gasflaschen gesehen. Damit brachte ich das Wasser in der Wanne auf Temperatur und heizte nebenbei noch den Raum mit auf. Nachdem ich die Heizstrahler unter die mit Wasser gefüllte Wanne gestellt und das Gas entzündet hatte, ging ich in Badelaune zurück zu Ben.

„Auf, das Schaumbad ist vorbereitet! Nimm deine frischen Sachen mit, Handtuch und Seife habe ich schon organisiert.“

Ich nahm Ben besser huckepack da seine Blasen an den Füßen noch ziemlich wehtaten. Wir kamen zur Scheune und betraten das inzwischen angenehm aufgewärmte Badezimmer. Puh, war das warm hier drin! Schnell zogen wir die dicken Klamotten aus und drehten das Gas auf Sparflamme. Ben durfte als erster rein. Zur Auswahl standen ihm verschiedene Shampoo…

Eigentlich hätte ich das Badewasser erneuern müssen nachdem Ben mit deutlich hellerer Gesichtsfarbe aus dem Bottich geklettert war. Aber das kostete viel zu viel Zeit bis ich vom Bach das neue Wasser im Eimer herbeigeholt hätte und es wieder aufgeheizt wäre. So stieg ich kurzerhand in die phantastisch warme Brühe und tauchte erstmal ganz mit dem Kopf unter…

Auf dem Rückweg grinsten wir beide über unseren angenehmen, blumenartigen Duft. Ja, so etwas könnten wir jeden Tag gut vertragen! War im Endeffekt eigentlich gar nicht so schlecht die Zwangspause.

12. Tag

Als ich den Kopf morgens zum Zelt herausstreckte, sah ich vor mir ein glitzerndes Meer von Tautropfen, die sich in den Millionen Grashalmen der Wiese gebildet hatten. Das aufgehende Sonnenlicht spiegelte sich glänzend darin! So krempelte ich meine Hosenbeine hoch und ging vorsichtig barfuß durch das nasse, kühle Gras… Es war herrlich erfrischend! Meine Gedanken wurden absolut klar dabei.

Am anderen Ende der Lichtung sah ich Rehe grasen. Ich konnte mich bis auf zwanzig Meter an sie nähern - dann erst witterten sie mich und nahmen sofort Reißaus. Im Wald hörte man ein reges Vogelgezwitscher. Verträumt und zu tiefst erfasst von dem nun beginnenden Frühling ging ich zurück zu unserem Lager.

Da sich Ben's Füße seit dem Bad gestern recht gut erholt hatten, machten wir uns bereit zum Aufbruch! In dem Dorf, in dem ich das Desinfektionsmittel gefunden hatte, versorgten wir uns noch schnell mit neuen Lebensmitteln. Eigentlich gibt es heute nur eines zu berichten: wir kommen wieder gut voran!

13. Tag

Beim morgendlichen Zusammenpacken horchte Ben auf einmal auf. Auch mir war es, als wenn da ein fremdes Geräusch gewesen wäre. Schweigend lauschten wir in den Wald hinein.

Nichts. Lange nichts - aber da war doch etwas und es stammte von Menschen! So eine Situation ist ziemlich unangenehm, denn man weiß dass andere da sind, aber nicht wo und wie viele…

Wir packten schnell unsere Habseligkeit weiter ein. Doch dann hörten wir dieses Geräusch wieder. Weit entfernt - aber eindeutig: Schüsse aus einem Maschinengewehr! So ein Mist! Wer hat nur solche schweren Waffen? Vielleicht hatte sich derjenige aus einem Stützpunkt der Armee mit Material versorgt? Möglich dass es hier im Wald eine ehemalige Kaserne gab?

Trotzdem wird normalerweise nur im Kampf geschossen, denn jeder verbrauchte Schuss schmälert die Fähigkeit zur Verteidigung. Oh, wie sehne ich mich nach dem Tag, wenn der letzte heimtückische Schuss gefallen ist. Aber dann bleiben immer noch die Messer und Pfeil und Bogen…

Da wir tief unten im Tal nicht die Richtung ausmachen konnten, woher das Geräusch kam, gingen wir einen offenen Hügel hinauf. Das war sehr riskant, da man gesehen werden konnte. Das letzte Stück krabbelten wir sicherheitshalber auf dem Boden. Zu unserem Erstaunen stand genau auf dieser Anhöhe ein Funkmast.

Wir blickten abwechselnd mit dem Fernglas in die Landschaft um uns herum. Es war aber nichts Besonderes zu sehen. Auch waren die Schüsse längst wieder verstummt. Lediglich ein Bellen von Hunden war noch zu hören. Ben zog mich am Ärmel und zeigte mit dem Finger nach oben.

„Auf den Funkturm hoch?! Du spinnst ja!“ antwortete ich ärgerlich. So eine bekloppte Idee. Ganz ohne Sicherungsgurt die Außenleiter hoch? Niemals!

„Schon gar nicht ich mit meiner Höhenangst.“

Doch Ben meinte es ernst und wollte selber hoch klettern.

„Du weißt doch gar nicht was für ein Wind da oben bläst. Außerdem wird man dich relativ gut von weitem erkennen können. Ich bin dagegen.“ versuchte ich es ihm auszureden.

Ben deutete auf die Sonne und dann in die Richtung woher das Gebell herkam. Ja, da hat er recht. Wir hatten die noch tief stehende Sonne im Rücken - das würde ein Vorteil sein. Schließlich mussten wir vorher wissen, wer uns da drüben hinter dem Hügel begegnet. So war ich schließlich einverstanden.

Er nahm sich das Fernglas und kletterte wie ein kleiner Affe die Leiter am Mast empor. Es schien ihm richtig Spaß zu machen! Im oberen Drittel angekommen begann er mit seiner Ausschau. Es musste wohl sehr interessant sein, denn er blickte lange in Richtung der Hügel…

Plötzlich fiel ein Schuss! Ich schaute hoch zu Ben - er war in Deckung hinter den Mast gegangen. Ängstlich zeigte er in die Richtung wohin er eben noch mit dem Fernglas geblickt hatte. Sofort legte ich mich auf den Boden und lud mein Gewehr durch. In dem Wald drüben war aber niemand zu erkennen. Fieberhaft schaute ich von links nach rechts hin und her…

Doch dann erkannte ich was! Auf einem Hochstand am unteren Waldrand sah ich ein kurzes Blitzen, wie wenn sich die Sonne in etwas spiegelte. Ein zweiter Schuss fiel - und prallte am Mast neben Ben ab. Warum hatten wir diesen Posten vorher nur übersehen?! Aber auch jetzt konnte ich keine Gestalt ausmachen. Wieder ein kurzes Blitzen - ob das Gewehr ein Zielfernrohr hatte? Wahrscheinlich ja, sonst konnte er nicht so verteufelt gut treffen!

Ich zielte auf die Stelle woher das Blitzen kam und drückte ab. Ben nutzte diese Rückendeckung und kletterte ein gutes Stück tiefer. Dann Pause und abwarten. Ich feuerte ein zweites Mal blind an die Stelle im Hochstand und hatte keine Ahnung, ob ich überhaupt traf. Sofort kletterte Ben wieder weiter nach unten und ließ sich die letzten drei Meter ins hohe Gras fallen. Sofort war ich bei ihm. Glücklicherweise war er unverletzt. Er gestikulierte wie wild um mir total aufgeregt zu erklären was er gesehen hatte.

Langsam verstand ich: „Ein Kampf zwischen zwei Gruppen? Die einen verteidigen eine alte Kaserne während die anderen sie umlagern?“

Das klang übel! Wenn wir da dazwischen geraten wären… Doch auf einmal hörten wir Hundegebell.

„Wir müssen sofort hier weg! Nicht dass die uns hier suchen.“ rufe ich. „Schnell!“

Wir rannten geduckt die abgewandte Seite des Hügels hinunter. Und das keine Sekunde zu spät: ein scharfes Zischen durchschnitt die Luft und - Rums - schlug heftig eine Granate im Mast ein! Sie hatten also auch richtig schwerere Waffen! Eine Jagd auf Leben oder Tod begann.

Unten im Tal angekommen rief ich Ben zu: „Wir müssen durch den Bach hier laufen, damit die Hunde unsere Witterung nicht so gut finden können.“

Das Wasser war zwar nicht tief, aber es spritzte die Beine hoch bis zum Bauch. Ständig mussten wir aufpassen nicht in ein Loch zu treten oder auf einem wackeligen Stein auszugleiten. Sich jetzt den Knöchel zu verstauchen wäre das Todesurteil. Das Wasser war eiskalt aber wir rannten um unser Leben! Hinter uns hören wir noch immer das Kläffen der Hunde. Der Bach lief plötzlich in eine Anlage von Fischteichen hinein, die hier im breiter werdenden Tal angelegt waren. Der unterste Teich davon war am größten und hatte in der Mitte eine sandige Insel mit drei Birken. Das sollte unsere Rettung werden.

„Wir müssen da auf die Insel drauf, Ben.“ Er schaute mich fragend an. „Los, wir brauchen so etwas wie ein Boot oder Floß…“

Wir entdeckten ein altes Blechfass - immerhin. Schnell warfen wir alle Sachen hinein, zogen uns komplett aus und legten unsere Kleider und ein paar Steine als Gewicht auch noch dazu, so dass wir das Fass senkrecht schwimmend mit der Öffnung nach oben ins Wasser lassen konnten. Wir stiegen mit dem Fass zwischen uns in das fürchterlich kalte Wasser. Ich dachte mein Herz würde stehen bleiben - es tat am ganzen Körper nur weh! Aber es musste sein. Wir hielten jeweils mit einer Hand den Rand fest und zogen das Fass schwimmend rüber zur Insel. Dort angekommen holten wir alles wieder heraus und rollten das Fass ins Wasser zurück, so dass es versank.

„Wir müssen alles verbuddeln damit die Hunde es nicht riechen können. Nur den großen Schlafsack nicht - den brauchen wir gleich noch!“ befahl ich. Mit bloßen Händen gruben wir in den weichen Sandboden ein kleines Loch, legten die Sachen hinein und deckten es mit Erde und Ästen gut ab.

„Und jetzt graben wir uns selber auch noch ein - bis an die Nasenlöcher!“ sagte ich total ernstgemeint. „Los doch, Ben. Warst du noch nie am Meer in Urlaub?“

Zum Glück bestand der Boden aus dem leichten Schwemmsand und das machte uns das Graben leichter. So ein manngroßes Loch auszuheben wäre sonst so schnell nicht möglich gewesen. Schließlich war es geschafft. Fast nicht mehr nass, völlig verkühlt und nackt zwängten wir uns gemeinsam in den Schlafsack und schoben uns mit den rausschauenden Armen und Händen den Sand über die Beine, den Körper und vorsichtig auf das Gesicht. Wie ein kleiner Hügel lagen wir nun still auf unserer Rettungsinsel bestens versteckt.

Wir warteten endlos lange und völlig regungslos. Durch die Isolation des Schlafsacks wärmten sich unsere Körper zum Glück allmählich wieder auf. Immer wieder hörten wir das Bellen näher kommen, dann war es wieder weiter weg. Offensichtlich suchten sie uns eine ganze Weile, aber ohne Erfolg. Als es dunkler wurde, herrschte schließlich Stille. Sie hatten es aufgegeben!

Ich schob mein Gesicht als erster aus der Erde und flüsterte zu Ben rüber: „Wir können wohl wieder raus kommen. Die sind wir los.“

Meine Glieder waren steif und taten schrecklich weh. Unbeholfen kletterten Ben und ich aus dem Schlafsack wieder heraus - wir sahen aus wie Ferkel. Am liebsten hätte ich mich zuerst einmal gründlich gewaschen, aber das wäre in dem kalten Fischteich bestimmt mein Tod gewesen. So gruben wir unsere Sachen wieder aus, rieben uns den Dreck so gut es ging vom Körper ab, nahmen unsere Kleider und zogen sie einfach wieder an. Das Zelt wurde mühsam mit klammen Fingern aufgerichtet und mit herabgefallenen Birkenästen verdeckt. Sofort krochen wir hinein.

„Wir schlafen diese Nacht zusammen in einem Schlafsack. Dann können wir uns gegenseitig wärmen.“ schlug ich vor.

Die ganze Aktion und auch die Nacht waren einfach nur schrecklich… Aber - wir hatten überlebt!