Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper

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Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper
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Impressum:

Humbug & Mumpitz – ‚Regietheater‘ in der Oper

Christian Springer

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © Christian Springer 2016

ISBN 978-3-7418-5673-0

In memoriam

Gottfried Cervenka

Gottfried Cervenka (1947-2015) war ein beliebter Rundfunkmoderator, der mit profundem Fachwissen auf dem Gebiet der Oper und der Gesangskunst über Jahrzehnte im ORF-Radiosender Ö1 Portraits von historischen Sängern, Dirigenten usw. gestaltete.

INHALT

Vorwort

Die Rezeption italienischer Opern im deutschen Sprachraum

Musikkritik im Italien des 19. Jahrhunderts

Internationale Kritiker im 19. Jahrhundert

Der Verdi-Hasser Eduard Hanslick

Die italienische Oper

Erste Spielleiter

Der erste bedeutende Regisseur: Ein Bühnenautor

Das deutsche ‚Regietheater‘

Prima la regía, poi l’opera?

Musikalische Details, so manchem Noten-Analphabeten unbekannt

Ansätze des Regietheaters in der Oper

Ein neuer Schlussakt für La traviata

Le nozze di Figaro à la Strindberg

Tannhäuser im Puff und im Irrenhaus

Fidelio vom Regisseur verstümmelt

Manon Lescaut mehrfach verunglückt

Falstaff in der städtischen Kanalisation

Der tauchende Müllabfuhrarbeiter Amonasro

Münchener Affentheater

Onegin am Brokeback-Mountain

Hintersinn in München

Gildas Opa

Exkremente, Schlamm und Kotze

Macbeth-Desaster in Wien

La Forza Del Destino – unbewältigt und verunstaltet

Macbeth im Kongo

Stuhlgang als Kunst – Kunstverständnis und Dummheit

Clownerien der Kunst-Mafia

Die Oper ein Traum

Ahnungslose Intendanten

Ein brünstiger Prolet namens Scarpia

Schlechte Übersetzungen

Il trovatore „Von kaum zu überbietender Unsinnigkeit“

Parasiten im Theater

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben

Ideologie und Publikum

Bilderübermaler

Es gibt nur eine einzige Interpretation eines Kunstwerks

Klassenkampf

Die Realität abseits der Ideologie

Kritik im 20. und 21. Jahrhundert

Des Kaisers neue Kleider

O tempora, o Zores!

Ein renommierter Gegner des Regietheater-Problems und ein Lösungsansatz

Historisch akkurat

Oper im Wachkoma

Verlachtes Regietheater und nutzlose Experimente

Quellennachweis

Der Autor

Anmerkungen

VORWORT

Der vorliegende Text zum Thema ‚Regietheater‘ in der Oper ist weder eine musik- oder theaterwissenschaftliche Untersuchung noch eine musiksoziologische Betrachtung. Es handelt sich vielmehr um die einschlägigen Beobachtungen und Gedanken von jemandem, der seit den 1950er Jahren Opernvorstellungen besucht und seit 1981 in musikhistorischen Publikationen versucht, Details über die Arbeit von Librettisten, Komponisten und ihren Interpreten – vorwiegend Sängern und Dirigenten[1] – des 19. Jahrhunderts darzustellen und zu vermitteln. Das Thema „Regie“ kam dabei bis dato nicht zur Sprache, aus einem einfachen Grund: Es rückte erst im 20. Jahrhundert in das Blickfeld des Publikums. Zuvor war Regie nichts anderes als die handwerkliche Umsetzung der Vorgaben der Librettisten und Komponisten der aufgeführten Werke, die im Einklang und in Zusammenarbeit mit diesen erfolgte. Für die Beobachtungen des Autors war dabei wesentlich, dass er im Laufe seiner Karriere als Opernbesucher viele Werke szenisch noch so aufgeführt erlebte, wie es dem dokumentierten Willen ihrer jeweiligen Schöpfer entsprach.

Es stimmt zufrieden, dass man beispielsweise 2016 an der Wiener Staatsoper seit 1964 eine den Wünschen ihrer Autoren entsprechende Produktion von Puccinis La bohème und seit 1958 eine Inszenierung von Puccinis Tosca sehen kann, die weder die Interpretationswillkür noch die „Einfälle“ und Fehler unqualifizierter, inkompetenter oder wichtigtuerischer Regisseure (worauf diese – auf den ersten Blick möglicherweise rüde wirkenden – Epitheta basieren, wird im Text ersichtlich) aufweist, noch das Werk aktualisiert, dekonstruiert, zertrümmert, ironisiert oder verfremdet, sondern bei der Realisierung der Bühnenbilder, Dekorationen, Einrichtungen, Versatzstücke, Requisiten und Kostüme ebenso wie bei der Personenregie all das berücksichtigt, was von den Autoren vorgegeben und für das Verständnis des mit einem historischen Ereignis untrennbar verknüpften Stücks erforderlich ist.

Tosca ist nur ein Beispiel für zahllose andere bedeutende Werke der Opernliteratur aller Epochen, die keiner ideologisch motivierten Intellektualisierung oder hintergründigen soziologischen Neudeutung bedürfen, um verstanden zu werden, und die auch nicht ohne Substanzverlust in die Gegenwart transferiert werden können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass nicht alles, was ‚Regietheater‘-Regisseure nicht verstehen, auch vom Publikum nicht verstanden wird. Das Gegenteil ist der Fall.

Wie beim Regieführen heute vielfach vorgegangen wird, zeigen zahlreiche Beispiele aus der Opernpraxis seit Aufkommen des ‚Regietheaters‘, die für ein intelligentes und gebildetes Publikum weder verständlich noch begründbar sind. Die Banalität der behaupteten Gründe für das Zustandekommen solcher Inszenierungen und das Fehlen eines echten Anspruchs solcher zwar kurzlebiger, jedoch trotzdem ärgerlicher Interpretationen wird nur allzu rasch evident, auch wenn das Feuilleton eilfertig vermeintlichen Tiefsinn dahinter ortet. Dass keineswegs alles ‚verstaubt‘, ‚überholt‘ oder ‚reaktionär‘ ist, was sinnvoll und gut ist, beweisen unzählige gegen das Regietheaterunwesen gerichtete Stellungnahmen von Könnern unter Regisseuren (Jonathan Miller, Peter Stein, Franco Zeffirelli), Interpreten (Piotr Beczala, Dietrich Fischer-Dieskau, Riccardo Muti) und Autoren (Daniel Kehlmann, Ephraim Kishon, Georg Kreisler, Botho Strauß,), die sich aus Gründen der beruflichen Kompetenz, der Bildung und nicht zuletzt des gesunden Menschenverstandes von der Regietheatermode weder täuschen noch infizieren lassen. Sie alle kommen hier zu Wort.

Bevor dies geschieht, empfiehlt sich ein Exkurs zum Wesen der italienischen Oper und zu ihrer Rezeption innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein meinungsbildender Kritiker des 19. Jahrhunderts wie Eduard Hanslick am Entstehen des Phänomens des deutschen ‚Regietheaters‘ und seiner Methoden entscheidend beteiligt war.

Die pauschale Verachtung, die Hanslick auf dem Gebiet der Musik ganzen Nationen („Das französische Volk besitzt von Haus aus wenig musikalische Anlage, es hat ein schlechtes Gehör und wenig Empfänglichkeit für sinnliche Schönheit des Tones.“[2] oder: „Die singende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volkes.“[3]) oder gleich der halben Menschheit in Person der Frauen („[...] warum die Frauen, welche doch von Natur vorzugsweise auf das Gefühl angewiesen sind, in der Komposition nichts leisten? Der Grund liegt – außer den allgemeinen Bedingungen, welche Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten – eben in dem plastischen Moment des Komponierens [...]“[4]) entgegenbrachte, ähnelt fatal dem selbstherrlichen, respektlosen Umgang der ‚Regietheater‘-Regisseure mit den von ihnen inszenierten Werken.

Dass Hanslick mit Äusserungen wie diesen und mit seinen berüchtigten Kritikexzessen die historische Basis für die mit der üblichen Verzögerung aufgetretenen Regieexzesse der letzten Jahrzehnte geschaffen hat, ist zu naheliegend, um nur eine These zu sein. Er war der erste, der die Leserschaft im deutschen Sprachraum lehrte, dass man mit musikalischen Meisterwerken nach Belieben verfahren kann: Man darf sie und ihre Schöpfer verhöhnen, beschimpfen und in den Schmutz zerren. Er war auch der Meinung, es gäbe „Musikstücke, die man stinken hört“. Wir haben heute die betrübliche Gewissheit, dass es Inszenierungen gibt, die man stinken sieht.

... ein einfacher Regisseur, ein Subalterner ...

Cosima Wagner über den Schriftsteller und Regisseur Hermann Schmidt

Das Publikum ist ein Vieh, das alles schluckt.

Arrigo Boito an Giuseppe Verdi, 16. Jänner 1881

Modernes Regietheater ist das aus der richtigen Erkenntnis einer fehlenden Notwendigkeit erschaffene Überflüssige.

Karl Kraus

(Kraus hat zwar „Architektur“ anstelle von „Regietheater“ geschrieben, der Gedanke ist aber derselbe.)

DIE REZEPTION ITALIENISCHER OPERN IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM

Das in der Überschrift enthaltene Spannungsfeld zwischen ‚italienischer Oper‘ und ‚deutscher Sprachraum‘ ist deshalb von besonderem Interesse, weil im deutschen Sprachraum seit jeher eine besonders ausgeprägte Verbundenheit mit symphonischer Musik vorherrschte[5], während in Italien, wo die Kunstform Oper erfunden und zur Hochblüte gebracht wurde, das Hauptinteresse von Komponisten wie Publikum schon immer den Stimmen und dem Gesang galt. Dementsprechend stark unterscheiden sich Rezeption und Kritik von italienischer Opernmusik im deutschsprachigen und im italienischen Raum. Die stilistische Unvereinbarkeit dieser beiden Welten – die vorwiegend von Musikern und Kritikern im deutschen Sprachraum sowie auf akademischer Ebene als solche wahrgenommen wurde, während das Publikum italienische Spielzeiten mit italienischen Interpreten bejubelte (man denke nur an das in Wien ab 1822 grassierende Rossini-Fieber) – schlug sich nicht nur in Diskussionen über die ästhetischen Unterschiede zwischen italienischer Oper und deutscher Instrumentalmusik nieder, wie sie beispielsweise zwischen Pauline Viardot und Clara Schumann geführt wurden, sondern auch immer wieder in Urteilen, die – bewusst oder unbewusst – das Unverständnis ausdrücken, das viele Nicht-Italiener italienischem Gesang gegenüber zum Ausdruck brachten: „Man gab auch viele Vokalstücke, die auf lächerliche Weise gesungen wurden. Wir bekamen Lachkrämpfe.“[6]

 

Obwohl dieses weit verbreitete Unverständnis, dessen berühmtester und wirkungsmächtigster Vertreter im 19. Jahrhundert, als es sich bei klassischer Musik noch um zeitgenössische Musik handelte, der Kritiker Eduard Hanslick war, sich zu seiner Zeit nur auf die Musik und ihre Rezeption bezog, findet es heute seine Fortsetzung in der szenischen Darstellung italienischer Opern in einer Art und Weise, die nichts mehr mit den Werken zu tun hat.

Bevor darauf näher eingegangen wird, soll kurz die Haltung Eduard Hanslicks erläutert werden. Zuvor mag es aber aufschlussreich sein, die Musikkritik in Italien zu betrachten.

MUSIKKRITIK IM ITALIEN DES 19. JAHRHUNDERTS

Die Musikkritik im Italien des 19. Jahrhunderts war vorwiegend „Dilettanten, Stümpern, Chronisten und ignoranten Pseudojournalisten“[7] anvertraut. Musikanalysen der Arbeiten von Rossini, Mercadante, Pacini, Bellini, Donizetti oder Verdi gab es zu deren Lebzeiten in Italien fast überhaupt nicht. Verdi, dem dies schmerzhaft bewusst war, beklagte das fast völlige Fehlen einer seiner künstlerischen Statur und Entwicklung entsprechenden zeitgenössischen Musikkritik:

Dumme Kritiken und noch dümmere Lobhudeleien: kein erhabener, künstlerischer Gedanke; nicht einer, der meine Absichten begriffen hat; immerzu albernes Geschwätz und Unsinn, und hinter allem eine gewisse Missgunst mir gegenüber, als hätte ich ein Verbrechen begangen, dass ich die Aida geschrieben habe und sie gut aufführen habe lassen. Keiner, der wenigstens die ungewöhnliche Aufführung und mise en scène hervorgehoben hätte! Nicht einer, der zu mir gesagt hätte: Hund, ich danke dir![8]

Zwar gab es den Kritiker Filippo Filippi (1830-1887), einen Juristen, der auch eine musikalische Ausbildung genossen hatte und ab 1858 als Musikkritiker bei Ricordis Gazzetta Musicale tätig war, diese von 1860 bis 1862 leitete und von 1859 bis zu seinem Tod Kritiker bei der in diesem Jahr gegründeten Tageszeitung La Perseveranza sowie bei weiteren Fachpublikationen wie der Gazzetta Musicale di Napoli war, doch verstellte ihm seine Wagner-Bewunderung die ungehinderte objektive Sicht auf Verdis Schaffen (obwohl er zwiespältig aufgenommene Opern Verdis wie den Simon Boccanegra durchaus verteidigte). So befand Filippi beispielsweise – von der Atmosphäre der musikalischen Zwietracht des neuen Italien infiziert, wo futuristische Musik und von jenseits der Alpen importierter Modernismus die Oberhand zu gewinnen schienen, obwohl man all das nicht wirklich verstand und vorwiegend nur aus Kunst-Snobismus zu goutieren vorgab –, dass in der Aida die Verschmelzung von Altem und Neuem nicht so gut gelungen sei wie im Don Carlos. Und er fügte die polemische Bemerkung hinzu, dass den Einfluss von Gounod, Meyerbeer und Wagner auf Verdi zu leugnen der Behauptung gleichkomme, die Sonne sei dunkel. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass derlei Äusserungen weniger durch profunde Musikanalysen denn durch beleidigte Eitelkeit begründet waren: Verdi hatte Filippis Angebot, nach Kairo zu reisen[9] und von den dortigen Aida-Proben zu berichten, trocken abgelehnt. Zu La forza del destino war Filippi nichts Klügeres eingefallen, als Verdi öffentlich eines Plagiats zu bezichtigen: Er meinte, in Leonoras Arie „Pace, pace mio Dio“ Anklänge an Schuberts „Ave Maria“ vernommen zu haben.[10] Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit reagierte Verdi nach Rücksprache mit Ricordi auf diese absurde Anschuldigung und wies sie brieflich, nicht ohne Ironie, zurück.[11]

Filippis Verdi-Kritiken, immerhin die Arbeiten eines professionellen Musikkritikers, gingen in keinem Moment so in die Tiefe wie die 1859 in Florenz erschienene Arbeit Studio sulle opere di Giuseppe Verdi[12] von Abramo Basevi (1818-1885), einem Arzt aus Livorno, der neben seinem Brotberuf eingehende musikalische, philosophische und psychoakustische Studien betrieben hatte. Dieses Werk bewies Einsichten in die Kompositionen Verdis, wie sie der Musikkritik der Zeit verschlossen waren. Nicht umsonst wird Basevis Werk in Italien bis heute immer wieder neu aufgelegt.[13]

Viele Rezensionen gaben oft nur geschwätzig und schwülstig subjektive Hörerlebnisse oder Beschreibungen des Verlaufs von Opernabenden oder Konzerten sowie der Publikumsreaktionen wieder, ohne auf die Musik oder deren Interpretation einzugehen. Dieser Musik-Boulevardjournalismus beschränkte sich vielfach auf die Wiedergabe von Theaterklatsch und Berichte über lächerliche Banalitäten im Umfeld der Oper wie die Toiletten der Damen oder ihr glitzernder Schmuck. Man mag über den Stellenwert von Musikkritik – sowohl der Werkkritik als auch der Interpretationskritik – als Mittel der Weiterentwicklung eines Künstlers durchaus geteilter Meinung sein, doch dass sie über das Niveau von Hagiographien, Operntratsch, Ablaufberichten von Premieren und geistlosen Betrachtungen des bei diesen Gelegenheiten stattfindenden Gesellschaftslebens hinausreichen sollte, ist wohl unbestritten.

Zwar konnte man den Opernkritiken entnehmen, welches Werk aufgeführt wurde, doch wie es gesungen und gespielt wurde, blieb zumeist im Dunkeln. Anders verhielt sich dies bei Konzerten, bei denen sogar oft unklar blieb, welche Werke gespielt wurden. Dies ist bei der in Italien damals üblichen Form der Konzerte – mit Opern-Ouverturen oder kurzen Symphonien, Instrumentalkonzerten oder einzelnen Sätzen aus solchen, beliebten Opernarien, bei denen beispielsweise ein berühmter Geiger wie Paganini den Vortrag einer berühmten Sängerin wie Giuditta Pasta begleitete und paraphrasierte usw. – gravierend, da ihre Programme nur in wenigen Fällen komplett rekonstruiert werden können.

Das Programm eines solchen Konzertes – es fand in Triest am 15. November 1824 statt – sah beispielsweise wie folgt aus:

Erster Teil

Vorspiel für großes Orchester.

Kavatine aus La gazza ladra des Maestro Rossini, gesungen von Signora [Antonia] Bianchi.

Konzert in einem Satz in E, ausgeführt von Paganini.

Zweiter Teil

Ouverture für volles Orchester.

Kavatine aus Il barbiere di Siviglia des Maestro Rossini, gesungen von Signora Bianchi.

Rezitativ und drei bekannte Arien mit Variationen einzig auf der vierten Saite der Violine, ausgeführt von Paganini.

Dritter Teil

Lebhafte Symphonie für volles Orchester.

Kavatine mit Echo aus La pietra del paragone des Maestro Rossini, gesungen von Signora Bianchi und ausgeführt von Paganini.

Sonate für großes Orchester.

Larghetto und kleine Polonaise mit Variationen, ausgeführt von Paganini.

Zwar kann man rekonstruieren, dass es sich beim Programmpunkt 3 um Paganinis Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 handelte, von dem er oft nur den ersten Satz spielte, doch sind Autoren und Werke der Programmpunkte 1, 4, 6, 7, 9 und 10 nicht eruierbar. Da von der Presse schon den Programminformationen so geringe Bedeutung zugemessen wurde, kann man sich unschwer vorstellen, dass sich Zeitungsleser wohl oder übel mit Berichten wie dem folgenden zufriedengaben:

Die Violine Paganinis, die über die Menschen solch eine magische Macht ausübt, hat keine Gewalt über das Wetter, das den ganzen Tag und besonders gestern sehr schlecht war. Aber was macht das schon! Das Verlangen, ihn zu hören, war so stark, dass trotz des strömenden Regens der Zulauf gewaltig war; wunderschöne Damen schmückten alle Logen; und bereits lange bevor es beginnen sollte, blieb im Parkett kein Platz mehr frei. Paganini erschien. Seine ersten Töne erregten Bewunderung und Erstaunen, auf diese folgte Begeisterung, und der Saal hallte wider vom Beifall.[14]

Was hätte man über Paganini Spielweise, seine Phrasierungen, seine Griff- und Bogentechnik sowie seine Scordatura-Tricks nicht alles berichten können, wären kompetente Kritiker am Werk gewesen!

Wie sehr sich das Kritikerwesen im Italien des 19. Jahrhunderts im großen und ganzen durch Inkompetenz disqualifizierte, wurde auch von italienischer Seite beklagt:

Es ist wenig bekannt, dass trotz all diesem Elend auf dem Gebiet der Kritik [in Italien] die Musik Verdis im vergangenen Jahrhundert doch auch von einem bedeutenden Kritiker – allerdings nicht in Italien – beurteilt wurde, nämlich Eduard Hanslick, dem Autor jener kleinen Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen, die der bekannteste Beitrag ist, den die Musik[kritik] zur Ästhetik geleistet hat, jenem unversöhnlichen Gegner der Kunst Wagners, dem Paladin der Brahms’schen Klassik [...].[15]

Diesem Text des Musikwissenschafters, Kritikers und Verdi-Kenners Massimo Mila (Turin 1910-1988), den er 1951 anlässlich der Gedenkfeiern zu Verdis 50. Todestag verfasste und der zu Eduard Hanslick überleitet, ist zu entnehmen, dass selbst anerkannte Experten zu Mitte des 20. Jahrhunderts über die Inhalte von Hanslicks Beurteilungen von Verdis Opern nicht informiert waren. Mila dürfte nur Hanslicks erwähntes Büchlein gekannt haben, nicht aber all das, was im folgenden an Äusserungen Hanslicks über Verdi wiedergegeben wird, sonst hätte er sich ganz anders geäussert.

INTERNATIONALE KRITIKER IM 19. JAHRHUNDERT

Im 19. Jahrhundert – als die Werk- und noch nicht die Interpretationskritik im Zentrum des Interesses der Kritik stand – verfassten musikalisch hochqualifizierte Kritiker wie Robert Schumann, E.T.A. Hoffmann oder Hugo Wolf im deutschsprachigen Raum, Hector Berlioz, François-Joseph Fétis oder Claude Debussy in Frankreich, Pjotr Iljitsch Tschaikowski oder Alexander Nikolajewitsch Serow in Russland, Filippo Filippi oder Abramo Basevi in Italien, aber auch brillante Nicht-Musiker wie Friedrich Nietzsche oder George Bernard Shaw kluge Musikanalysen und -kritiken, die vorwiegend in der einschlägigen Fachliteratur erschienen. Es entstanden auf Musik spezialisierte Publikationen wie die Allgemeine musikalische Zeitung und die Neue Zeitschrift für Musik sowie zahllose musiktheoretische Schriften, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben.

Da es im 19. Jahrhundert noch keine Tonaufnahmen gab, die Rezensenten zu Hörvergleichen heranziehen hätten können, war es unerlässlich, dass die Vertreter der Kritikerzunft sowohl etwas von Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre verstehen als auch das Partiturlesen sowie ein Instrument so weit beherrschen mussten, dass sie sich ein eigenes Bild von den zu rezensierenden Kompositionen machen konnten. Daneben war eine sehr gute Allgemeinbildung abseits des Musikwesens Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit.

Da so mancher Kritiker beim Verfassen von Kritiken dennoch mehr von seinen persönlichen Vorlieben als von objektiven Beurteilungskriterien ausging, brachte der bedeutende amerikanische Musikkritiker William James Henderson (1855-1937), ein Absolvent der Princeton University, wo er nicht nur Musiktheorie, sondern auch Gesang studiert hatte, die Anforderungen an einen professionellen Kritiker, der über Interpretation und Gesang schreibt, unmissverständlich auf den Punkt:

 

If it is out of tune, it makes no difference who ‚thinks‘ that he thinks it is not. The only question is, ‚Can you hear it or can’t you?‘ Whether an orchestra is out of tune, whether it is out of balance, whether its tone is coarse and vulgar, whether the men are playing with precision and accuracy, whether the strings are poor or the brass blatant are not matters of opinion at all. These are matters of fact and due to be reported upon by persons trained to hear them. Whether a singer has a voice equalized throughout, whether the lower tones are white and sombre, whether her coloratura is broken, spasmodic and labored; whether her cantilena is marred by inartistic phrasing, whether she sings out of tune or not, whether she sings the music according to the score or according to her own caprices – these are not matters of opinion; they are matters of fact. In short, nothing is more clearly known than the results which technic in performance can attain, and the only question that can ever be raised about a critical report is, ‚Did the man hear correctly?‘ If it can be shown that he is in the habit of hearing incorrectly, then he is as unfit for his business as a color blind man would be for the calling of art critic.[16]

Bald fand für manchen bekannten Vertreter des Metiers im deutschen Sprachraum die Bezeichnung „Kritikerpapst“ Anwendung. Dieser dubiose Begriff ist allerdings weniger ehrenvoll als vielmehr verräterisch, zeigt er doch, dass seine Anhängerschaft dem Kritiker Unfehlbarkeit zuschreibt und sich selbst als seine ihm blind ergebene Glaubensgemeinde definiert. Genau das ist das Problem bei jeder Form von Kritik, die per definitionem eine prüfende Beurteilung nach begründetem Maßstab sein sollte. Letzterer fußt auf musikalischen und technischen Parametern, mit deren Hilfe objektive Kritik möglich wäre, doch war und ist Musikkritik leider zumeist etwas Subjektives, weit entfernt davon, unfehlbar zu sein. Der Regisseur Sven-Eric Bechtolf bestätigt: „Sie [die Kritik] folgt nicht mehr halbwegs objektiven Kriterien, sondern sie verkommt zu apodiktischer Geschmacksveräusserung. Mich ärgert das.“[17]

Im 20. Jahrhundert änderten sich die für den Kritikerberuf erforderlichen Voraussetzungen radikal. Die fundierte Sachkenntnis erfordernde Werkkritik wandelte sich zur Aufführungskritik und spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Metier, abgesehen von wenigen rühmlichen Ausnahmen, in der Tagespresse oft von musikalischen Laien ausgeübt, deren einzige Qualifikation entweder die parteipolitisch motivierte Anstellung in der Kulturredaktion einer Tageszeitung, das persönliche Naheverhältnis zu einem Herausgeber oder Chefredakteur, das rudimentäre Erlernen des Blockflötenspiels im Kindergarten oder das allgemeine Talent zum Karrieremachen war. Das führte in einigen Fällen dazu, dass manche der neu gekürten Kritikerpäpste nicht einmal Noten lesen konnten. Falls dieser Umstand jemandem harmlos erscheinen sollte, möge er bedenken, dass es genau dasselbe bedeutete, wenn ein Literaturkritiker nicht lesen könnte. Es kam deshalb vielfach zu unqualifizierten Urteilen, die aber trotzdem gedruckt, gelesen und geglaubt wurden.

Dazu gesellt sich ein weiterer unerfreulicher Umstand, der vom Chefredakteur einer großen österreichischen Tageszeitung so zusammengefasst wurde: „In keinem anderen Land Europas ist der gekaufte Journalismus so ausgeprägt wie in Österreich.“[18] Was auf die unheilige Allianz zwischen Politikern und Journalisten abzielt, gilt für Kunst, Kultur und Journalismus in gleicher Weise, wie jeder Kenner der Szene weiß, und wie man – sollte man es nicht wissen – so mancher Rezension unschwer entnehmen kann. Das gilt für den gesamten deutschen Sprachraum: „Mit Wahrheit, Objektivität und Unabhängigkeit hat das, was die meisten Medien da im deutschsprachigen Raum beständig produzieren, heute absolut nichts mehr gemein. Eher schon mit einer Art der Gleichschaltung.“[19]

Das Phänomen der unqualifizierten Kritiker war in Wien schon in den Jahren nach 1848 bei vielen Musikkritikern zu beobachten, die sich von nationalen Ressentiments zu absonderlichen xenophoben Urteilen hinreissen ließen.[20]