Schottenkaro

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Christian Vosmer

Schottenkaro

Liebeserinnerungen

2018

Ich kann das machen. Ich also auch. Habe es in mir. Es kann geschehen, dass ich es tue, dass ich es tat, könnte passiert sein. Das bedeutet nicht, dass ich wirklich eine Wahl habe. Dass ich es mir überlege. Mir den Gedanken durch den Kopf gehen lasse und mit ihm spiele. Am Anfang widersetzte ich mich ihm sogar heftig. Jetzt lasse ich ihn gewähren.

Der Gedanke war plötzlich da. Es ist ein Sonntagmorgen, früh, kühl und trüb, es hat die ganze Nacht geregnet, aber nun ist es endlich trocken. Die Bäume triefen. Wir sind beim Gassi gehen und gehen langsam, weil die durchnässte Natur überall verschlüsselte Botschaften für Bello verbirgt, alle so viele Meter hält er ein, riecht, leckt und schmeckt die emporwachsenden Grashalme, es ist Ende April, Frühling. Ich denke an die vergangene Nacht, die erste, ohne Ellen, und lasse mich an der Leine führen. Wir verlassen den Park. Der Hund hält an der Straβenseite. Es gibt nur sehr wenig Verkehr. Langsam und lärmend rollt ein Laster heran. Halbbewusst fixiere ich die übergroβen Laufräder und vergesse die graugrüne Welt um mich herum. Ich konzentriere mich aufs Stehen bleiben, aufs mich nicht rühren, aufs warten, bis der LKW vorbeigerasselt ist, darauf, dass mir nichts zustoβen kann, wenn ich jetzt bloβ nichts mache. Ich schaue auf Bello, geduldig erwidert er meinen Blick, worauf wir weitergehen.

Zu Hause, in der Küche, wo ich mir mein Frühstück machen will, ist der Gedanke sofort wieder da, nun in einer anderen Form, er lenkt meinen Blick auf das Brotmesser, groβ und scharf blitzt es in der Schublade. Wieder gelingt es mir, nichts zu machen, stattdessen fasse ich, damit ich die Hände voll habe, nach Tasse und Teller, schlieβe die Schublade mit der Hüfte, gehe raus aus der Wohnung, setze mich auf den Balkon und frage mich, was mit mir los ist, was wohl in mir gefahren ist und unverzüglich geht es wieder los, ich befinde mich im fünften Stock, ich soll aufstehen und den Schritt nach vorne machen, bleibe jedoch widerwillig ruhig sitzen und kaue langsam das Brot.

In den ersten Wochen habe ich noch versucht, mich der Gedanke zu erwehren. Es gelang nicht. Er drängt sich in meinen Kopf rein, er ist jedes Mal in diesen Formen wieder da. Ich habe mich schlieβlich damit abgefunden. Es ist ja nur ein Gedanke. Meine Gefühle waren schon immer stärker. Ich muss es nicht tun. Noch nicht. Vorläufig nicht. Es gibt ja noch den Hund. Ursprünglich unser Hund. Das Tier litt mit. Nach drei Wochen war ihm wohl klargeworden, dass Frauchen nicht mehr kommen sollte, um ihn zu holen, um zu zweit in dem Wald spazieren zu gehen. Dann wollte er eine Weile zu Hause kaum noch essen, spielen oder gestreichelt werden. Danach wurde er rebellisch, lehnte sich gegen mich auf und rannte mir wochenlang drauβen ständig davon. Nach einigen Tagen kapierte ich, dass er jede Frau verfolgte, die in Hundenaugen Ellen glich. Von der Silhouette oder vom Gang her. Seit er das letztendlich ergebnislos aufgegeben hat, seit er verstand, dass unser ohnehin schon kleiner Rudel sich um ein unverzichtbares Mitglied verringert hat, folgt er mir mit seinen treuen Augen und lässt mich nicht mehr aus seinem Blickfeld.

Also Bello, jetzt nur noch mein Hund. Als er noch fast ein Welpe war und ein Kampfhund, hellbraun und den Rücken voller Narben, unangeleint auf mich zu kam, dessen Herrchen fünf Meter fluchend dahinter, sprang er dazwischen, fletschte die Zähne und fing so mächtig zu bellen an, dass das Untier verunsichert innehielt, soviel verbale Gewalt hatte er wohl nicht aus einem so kleinen Artgenossen erwartet. Einige Sekunden nur dauerte das Patt, dann fasste der Angreifer sich und als er nun statt meiner auf meinen Verteidiger losgehen wollte, der die bevorstehende Auseinandersetzung aussichtslos verlieren, ja wohl überhaupt nicht überleben würde, das Maul zum zubeiβen und zerreiβen geöffnet, griff sein Besitzer ihn laut schimpfend beim Genick, schleppte die nun jaulende Bestie davon und verprügelte sie rücksichtslos. Bello hatte sich währenddessen nach getaner Arbeit auf meine Schuhe gesetzt, ich ging in die Knie, hielt ihn und versprach ihm, auch immer für ihn da zu sein, brav so.

Viel ist es nicht. Vielleicht ist es genug.

Aber der Gedanke hat, trotz seiner abgründigen Grauen, jedes Mal, wenn er schwindet, auch etwas Beruhigendes, denn ich kann offenbar zu jeder Zeit beschlieβen, dass ich nicht weiterlese, ich kann jedes Kapitel, das mir zu arg wurde, das letzte sein lassen, das Buch schlieβen und bevor ich es endgültig weglege, meine Hand über den Buchdeckel gleiten lassen, ich war der Lesende, der entschied, an welcher Stelle es reichte, wo genau Schluss war, Ende stand.

Ihre Mutter kannte ich eigentlich nur aus den Geschichten, die Ellen mir nachts über ihre eigene Jugend erzählte, denn getroffen habe ich sie vielleicht fünfmal und etwas mehr als nur mit ihr geplaudert nur bei einer einzelnen Gelegenheit. Sie, Ende zwanzig, hübsch und ihrer Tochter ähnlich auf den Schwarzweiβfotographien, die ich von Ellen habe, wohlerzogen, aus einem guten Nest, aber damals schon krank, heiratete ihn, um einige Jahre jünger und ihre erste und einzige groβe Liebe, das Gegenteil in allem, einen Lebensgenieβer, angeblich bar jeden Verantwortungsgefühls, zimperlich war ihre Mutter Ellen gegenüber nicht mit ihren Verleumdungen. Die Ehe, ihre Verwandte waren von Anfang an vehement dagegen gewesen, hielt vier Jahre, bald wurde eine Tochter geboren und als ihr Geld, der einzige Grund weshalb er sie überhaupt geheiratet habe, verscherbelt war, verschwand er von der Bildfläche und sollte nie wieder etwas von sich hören lassen. Ellen wurde dann so gut es eben ging von ihrer Mutter alleine erzogen, denn seit ihrem sechzehnten, als ihr Vater plötzlich starb, litt die nämlich stark unter einer manisch-depressiven Psychose. Dreimal war sie nicht fähig, sich um ihre Tochter zu kümmern, dreimal landete Ellen als kleines Mädchen in eine Pflegefamilie, zuerst bei den Eltern ihres Vaters, dann bei einem befreundeten Ehepaar ihrer Mutter und zuletzt beim Bruder der Mutter und dessen Frau. Das erste Mal war kurz nach der Geburt, Ellen war zu jung, um es sich erinnern zu können, ihre Mutter hatte es ihr verschwiegen, ich erfuhr es vor kurzem von einer Schwester des Vaters. Der Grund, dass Ellen dreimal von der Mutter getrennt wurde, war stets der gleiche, nämlich, dass die Mutter sich selbst etwas hatte antun wollen und in eine Nervenanstalt aufgenommen werden musste. Beim letzten Mal, Ellen spielte auf der Galerie, hatte sich die Mutter auf der anderen Seite der Wohnung vom Balkon im dritten Stock geworfen, brach sich dabei den Rücken aber überlebte im Dickicht. Man hatte bereits seit ihrem ersten Versuch auf die Mutter eingeredet, so etwas könne man dem Kinde doch nicht antun, aber sie wollte ihre Tochter nie, niemals aufgeben, jetzt reiche es ihnen aber und da sie nun, schwer verletzt, weit weg rekonvaleszieren musste und sich nicht wehren konnte, nahm man ihr die elterliche Gewalt, Ellen sollte ab nun endgültig beim Onkel aufwachsen, in einer soliden Familie, zwei Töchter im gleichen Alter gab es, materiell war alles vorhanden, Winterferien in Österreich, Reitstunden und andere Sachen, die sich die Mutter nicht hatte leisten, aber weiter gab es dort in der Villa nichts, was Ellen hätte trösten können. Untröstlich auch die Mutter, ihr Schuldgefühl erfüllte sie nun mit Kampfgeist, sie setzte alles auf ihre körperliche und psychische Heilung und saβ ein Jahr später in ihrem Rollstuhl im Gerichtssaal, beteuerte, es gehe ihr wieder gut, die Ärzte bestätigten es ja, es gebe keinen Grund, sie jetzt nicht mit Ellen nach Hause zurückkehren zu lassen, Mutter und Kind gehören ja zusammen, gegenüber ihr, der Richter, nickend, neben ihr, der Bruder, schweigend, und hinter ihr, Ellen, in den Armen ihrer Oma, seelisch - so stelle ich mir den Rechtsgang vor, die Realität ist, dass ich ihn mir unfundiert gedanklich konstruiere und nur weiβ, dass die Mutter vor Gericht musste, um die Entscheidung rückgängig machen zu lassen, dass sie es ihrem Bruder nie verziehen hat, das ganze veranlasst und ihr die Tochter weggenommen zu haben und dass Ellen bei ihrer Oma Halt suchte, wenn ihre Mutter nicht für sie da sein konnte.

Auch über das nächste Jahrzehnt ihres Lebens weiβ ich nur sehr wenig. Scheinbar hatte die Mutter ihre Krankheit weitgehend unter Kontrolle und rehabilierte weiter zu Hause. Sie zogen zweimal um, Ellen half bei der Verpflegung, freundete sich für den Rest ihres Lebens mit den Frauen, die ihre Mutter betreuten oder für den Haushalt da waren, an, überhaupt machte sie leicht neue Freunde, und hatte endlich eine fast normale, stabile und glückliche Kindheit, Schule, Adoleszenz, alles klappte, ab und zu hatte die Mutter einen neuen Liebhaber, aber keinen, der für Ellen den Platz ihres Vaters hätte einnehmen können.

Als Ellen zwanzig war, erkrankte ihre Mutter, diesmal aufs Schlimmste. Ich erinnere mich, wir schliefen bei mir und unterhielten uns nachts noch lange, dass Ellen behauptete, ich weiβ nichts mehr wie wir auf das Thema kamen, wahrscheinlich der Mücken wegen, Schmerzen seien dem Jucken vorzuziehen, und weil ich fragte, wieso das denn, erzählte sie mir, dass ihre Mutter ihr sagte, dass unter ihrer Kleidung eine weiβe Substanz aus ihrer Haut hervorquölle, es jücke schrecklich, es sei nicht auszuhalten, sie könne es niemandem zeigen aber es war überall, sie habe noch lieber jene Tortur in der Nervenanstalt damals, wobei sie in einem groβen Rad hing und alle so viel Stunden gedreht wurde, um den Rücken heilen zu lassen.

Zu dieser Zeit sah ich Ellen noch nicht sehr häufig. Ich wollte schon, sie aber nicht, mit mir Ausgehen mochte sie nicht mehr, sie gab ihre Telefonnummer nicht her, im Telefonbuch war nur ihre Mutter verzeichnet, die ihren mir unbekannte Mädchenname beibehalten hatte, eine Adresse hatte ich nicht, und aufsuchen konnte ich Ellen nur in der Tankstelle, wo ich sie kennengelernt hatte, kannte aber ihre Schichten nicht, versuchte es wochenlang immer wieder, ging hin um etwas kleines zu kaufen, stets war nicht sie sondern ein Kollege an der Arbeit, mir sagen, wann sie denn wieder da sei, konnten sie nicht, und als ich sie endlich wieder öfters dort traf, sagte ihre ganze Körpersprache mir, dass ich fehl am Platz war, sie stellte mich kalt, indem sie sich den Kunden widmete oder sich mit einem anderen zufälligen Besucher unterhielt. Ich lieβ nicht locker, denn sie ging mir schon damals nicht aus dem Sinn, und nach einem Monat wirkte sie entspannter und wollte mich nach der Arbeit bei mir treffen.

 

Damals liebten wir uns noch nicht. Ich war nur ein Freund, bei dem sie manchmal schlief, wann sie es nachts nicht alleine aushielt und dem sie ziemlich viel anvertraute. Wir hatten beide getrunken, es war spät, wir saβen uns auf dem Teppich bei Kerzenlicht gegenüber, hörten uns Musik an und sie erzählte, wie ihre Mutter lange auf sie eingeredet hatte, sie umzubringen, und wie sie ihr, auf der Couch liegend, das Kissen fest ins Gesicht drückte, während ein Freund, ein schwuler Zuhälter, Ende vierzig, den Ellen während der Nachtschicht hatte kennen lernen und der einen sehr jungen Freund hatte, der anfangs für ihn arbeitete, jetzt aber sein Liebchen war und nun auch kaum achtzehnjährige Klassenkameraden, alles legal, fürs Geschäft warb, anschaffen gingen sie, es waren die Neunziger, für Luxuskonsumgüter, ihr an den Handgelenken festhielt, bis Ellen, schon nach wenigen Sekunden, sagte, ich kann’s nicht.

Ich erinnere mich die beiden Frauen eine Weile danach, sitzend auf der breiten Holzbank neben dem Aufzug im alten, ehemaligen katholischen Krankenhaus. Ellen hatte mich gebeten, mitzukommen, ihre Mutter hatte sich auf ihr Drängen in die örtliche psychiatrische Abteilung aufnehmen lassen. Ich hatte mich kurz davor entfernt, damit die beiden sich unterhalten konnten, es war Besuchsstunde, ich lief eine Runde durch das Krankenhaus, vermischte mich mit den körperlich Kranken, weil ich mich unter ihnen heimlicher fühlte und als ich die beiden nach einer Weile wieder aufsuchen wollte, sah ich sie aus der Ferne und hielt inne, sie lachten, eine Tochter, die ihre kranke Mutter besucht, ich wollte nicht stören.

Als ich Ellen einige Wochen nachher, so ungefähr war jetzt die unregelmäβige Frequenz unserer Begegnungen, wieder sprach, war sie gerade zu Hause ausgezogen. Ihre Mutter hatte es so gewollt. Sie erzählte, ich kann nicht genau sagen, wie ihr zumute war, wo sie jetzt wohnte, ich kannte die Straβe, es war drei Minuten von mir entfernt. Es sei besser so, sagte sie mehr sich als mir, sie habe sich abends und morgens immer gefürchtet, als sie auf dem Heimweg die Strecke über das Industrieviertel die Eisenbahn entlang radelte, jetzt brauche sie nur den Parkplatz zu überqueren und schon sei sie da. Eine Freundin ihrer Mutter hatte ermittelt und ein gutes Wort für sie eingelegt, daher konnte sie so schnell einziehen. Die meisten Möbel, kein Krempel wie bei mir, in ihrer neuen Wohnung hatte sie von ihrer Mutter mitnehmen dürfen, denn auch sie wollte demnächst ausziehen. Sie hatte eine kleinere Wohnung in der Innenstadt gefunden und keinen Platz mehr dafür.

In ihrer neuen Wohnung habe ich die Mutter einmal alleine besucht. Ich weiβ nicht mehr, wie ich reingekommen bin, ob sie mir aufgeschlossen hat oder ob Ellen mir die Schlüssel mitgegeben hat, ich erinnere mich nur, dass Ellen etwas vorbeibringen sollte und mich bat, es zu erledigen, dass die Mutter im Bett saβ und ich mich, weil es sonst kein Sitzmöbel im Schlafzimmer gab, auf den Fuβboden setzte und dass wir uns vielleicht eine halbe Stunde unterhielten. Meine künftige Schwiegermutter war freundlich, stellte mich Fragen über meine persönlichen Umstände, wirkte nicht abnormal und war mir nicht abhold.

Ich kann die Intervalle nicht so richtig einschätzen, es wird einige Monate nachher gewesen sein. Es war morgens. Das Telefon klingelte nur einmal. Ich arbeitete konzentriert am Schreibtisch und wollte nicht die Botschaft für eine der beiden Studentinnen, für die oft angerufen wurde und die ebenso oft raus waren, annehmen, hörte oben Musik spielen und wusste daher, dass mein Hausgenosse da war, lieβ ihn in seinem Zimmer aufnehmen, indem ich nichts tat, auch bei meiner Arbeit hielt ich inne und wartete, ob der Anruf vielleicht doch mir galt. Zwei Sekunden blieb es still, dann rief er meinen Namen, es war seine mir vertraute Stimme aber irgendetwas bedrohliches lag darin. Elektrifiziert ergriff ich den Hörer in meinem Zimmer im Erdgeschoss, hörte, wie er sofort auf hing, und bevor ich etwas hätte ausbringen können, hatte Ellen schluchzend meinen Namen genannt, weiter konnte ich nichts verstehen, auβer dem einen Wort, Mama. Ohne abzuschlieβen rannte ich aus meinem Zimmer, durch den langen, schmalen Gang und über den von meinem Vater gelegten Fliesen in der schmalen Küche, hinaus in den Hof, schwang mich aufs Fahrrad und eilte zu deren Wohnung. Unterwegs überlegte ich mir nicht, was passiert sein könnte. Neben der Eingangstür stand Ellens Hollandrad, die vielen Autos von den Leuten oben übersah ich, ich drückte die entsprechende Taste, sofort wurde mir geöffnet, eilte die Treppe hoch, verlangsamte den Schritt erst, als ich durch die aufgesperrte Tür in die Wohnung trat, hielt im Flur inne, sah vor mir im Schlafzimmer auf den Rücken von Rettungsdienst und Polizisten, mit gedämpften Stimmen sprechend und resigniert mit irgendetwas beschäftigt, wandte den Blick ab und fand, was ich suchte im Wohnzimmer, setzte mich neben sie, wollte sie halten und trösten, sie hatte sich etwas beruhigt, sie wehrte ab und ich lieβ sie.

*

Es war spätabends. Ich lag hellwach auf der graumelierten Couch. Nebenan schlief Ellen in ihrem Einzelbett auf das Beruhigungsmittel, das der Hausarzt ihr morgens, nachdem er aus dem Schlafzimmer der Mutter gekommen war und sich zu uns gesetzt hatte, um sich kurz und leise mit ihr zu unterhalten, gegeben hatte. Sie müsse sich ausruhen, für zwei Personen war es diese Nacht zu schmal und ich überlegte mich, was Ellen mir vor dem Schlafengehen erzählt hatte. Dass sie gestern noch telefonierten. Dass ihre Mutter wüsste, dass sie heute kommen würde. Mit den Einkaufen, wie abgemacht. Dass Ellen die Wohnungstür aufschloss. Dass sie sagte, sie sei da. Dass ihre Mutter nicht antwortete. Nicht im Wohnzimmer und auch nicht in der Küche sei. Dass sie sie suchte. Dass sie die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Dass ihre Mutter auf dem Rücken auf dem Bett läge. Dass Ellen dachte, sie atme noch. Und ihr die Plastiktüte daher vom Kopf riss. Jedoch auf die blauen Lippen starrte.

Es tue ihm leid, sagte der Arzt, als er sich in seinem Büro wieder hinsetzte, normalerweise sage man den Verwandten ja Bescheid, wenn das Ende absehbar sei und bei meinem Vater mit seinem Lymphdrüsenkrebs war das vor zwei Tagen gewesen, aber auf die Frage, ob es welche gebe, habe mein Vater nur den Kopf geschüttelt, und gestern hatte der Arzt, der doch herausgefunden hatte, dass ich und mein Bruder existierten, direkter gefragt, ob, da es keine Aussicht auf Gesundung mehr gebe, er denn keine Kinder habe, die er noch sehen wollte, es gehe ja noch, noch sei er bei Bewusstsein, entgegnete mein Vater, einsilbig, nein.

Wir standen auf, brauchten nur den Flur zu überqueren, schon waren wir da und standen am Bett meines Vaters. Ich hatte weniger Zeit gehabt, um mich nach dem Gespräch mit dem Arzt wieder zu fassen, als ich erwartet hatte und also hielt ich einige Meter Abstand, während mein Bruder sich ans Kopfende stellte, der Arzt etwas abseits in dem sonst leeren und stillen Zimmer. Mein Vater war kleiner und schmaler, als ich ihn mir erinnerte, der alte Kämpfer wirkte fast schmächtig unter der weiβen Decke, ich hatte ihn nun zwei Jahre nicht gesehen, mein Bruder fünf, unser Vater wollte es nicht mehr.

Ich bedankte mich beim Arzt, er war jung, wirkte intelligent und einfühlsam, ich spürte es an der Art, wie er seine Worte wählte und sie behutsam zu Sätzen zusammenlegte, für seinen Anruf und für seine Sorgen, mein Vater habe sich nach Umständen bestimmt wohl bei ihm gefühlt, und war aufrichtig. Der Arzt überreichte mir darauf noch eine kleine Tasche mit darin meines Vaters Siebensachen, Rasiergerät, Geldbörse, Handy, Klamotten, Schlüssel.

Wir beide fuhren zurück und unterhielten uns über unsere Kindheit, nur kurz, dann wechselten wir das Thema darauf, was nun zu tun sei und einigten uns auf die Verteilung der Aufgaben, mein Bruder sollte, da er weiter entfernt lebte, das rechtliche erledigen, ich die Ausfahrt auf mich nehmen und unsere Mutter verständigen. Mein Bruder setzte mich vor meiner Haustür ab, die Fahrt hatte zwanzig Minuten gedauert, es war Anfang Oktober und noch angenehmes Wetter, ich stieg aus, wir verabschiedeten uns, es war Mittagszeit.

Als erstes rief ich Ellen an. Es ging ihr gut, elf Jahre waren seit dem Tode ihres Mutters vergangen, sie hatte vor kurzem eine neue Stelle gefunden und verblieb diese Woche irgendwo in einem Hotel für den Einführungskurs. Dennoch konnten wir uns kurz unterhalten, denn als ich sie anrief wollte man gerade essen, sie tröstete mich und versprach mir, heute Nacht für mich zu Hause zu sein, es könne spät werden, bevor sie da sei, sie, was ich denn jetzt machen wolle, ich, dass ich jetzt den Nachmittag alleine durchbringen und abends meine Mutter besuchen wollte, pünktlich um acht im Altenheim, in dem sie jetzt seit einem halben Jahr wohnte. Ich kochte mir eine einfache Mahlzeit, legte mich noch eine Stunde auf die Couch und sah unkonzentriert etwas fern. Dann stand ich auf um meine Mutter zu besuchen und ersinne mich heute noch Wort vor Wort unser Gespräch: Ist er tot? - Wer soll denn tot sein? - Dein Vater. - Wie kommst du denn auf den Gedanken? - Ich spüre es. Ist er tot? - Ja, er ist tot. - Geh nach Hause, Junge.

Mehr wurde nicht ausgesprochen. Ich habe mir die Szene noch oft durch den Kopf gehen lassen. Wie ich ihr dunkles und leeres Wohnzimmer betrat, wie sie in ihrem Bett lag, das Gesicht zur Wand und sich halb zu mir umdrehte, wie ich leise und vorsichtig das Schlafzimmer betrat und wie traurig sie zu mir sprach, dass wir uns nicht grüβten, wie es jedes Mal ziemlich lange still blieb, da ich mir verdutzt meine Antworten überlegen musste und dass das Ganze noch keine Minute dauerte, bevor ich wieder drauβen war.

Sie konnte es nicht wissen. Ich konnte alle Möglichkeiten ausschlieβen. Es war heute Morgen geschehen. Er war erst kurz davor eingeliefert worden. Der Arzt hatte nur mich verständigt. Ihn hatten im Krankenhaus nur zwei alte Bekannte besucht, mit denen sie nicht in Kontakt stand. Sie hatte ihn seit über fünf Jahren nicht mehr gesehen. Sie hatte sich vor zehn Jahren von ihm trennen lassen. Und doch wusste sie es. Ich hatte ihn soweit es nur ging aus meinem Bewusstsein gedrängt, als er das zweite Mal den Kontakt mit mir abbrach und jetzt musste ich mich wieder mit ihm befassen.

*

Mein Vater war unmöglich. Ich übertreibe das nicht. Unmöglich. Er überwarf sich zeitlebens mit allen Freunden, Nachbarn, Bekannten und Verwandten, mit seinen drei Brüdern, seiner Ehegattin, mit seinen beiden Söhnen also, ja sogar seine eigene Mutter besuchte er eine Zeit lang jähzornig nicht, bis sie es nicht mehr aushielt und heulend meine Mutter anrief, ich war neun und meine Eltern noch verheiratet, und als meine Groβmutter sie fragte, was denn los sei, wieso ihr Sohn nicht mehr vorbeikomme, versprach meine Mutter ihr, mit ihm zu reden und erst als sie ihm sagte, das könne er ihr nicht antun, das sei seine Mutter, erst dann ging er wieder hin und tat, als sei nichts passiert und erfahren, was eigentlich los gewesen war, haben die beiden Frauen nie.

Seine Mutter und mein Vater, sie hatten es nichts einfach, als sie noch eine Familie bildeten, sie nicht, weil sie als kleines Mädchen von Milchwagen überfahren wurde, dabei den rechten Arm verlor und viel später als behinderte, erwachsene Frau für fünf Männer den Haushalt schmeiβen musste, und er nicht, weil er so grundsätzlich anders war als seine drei Brüder, das Häuschen soll für sechs Personen zu klein und armutig gewesen sein, das letzte einer einzelnen Häuserreihe auf dem Lande, längst abgerissen, meine Tante hat es mir mal beschrieben, als sie mir den Ort zeigte, nur Felder und Wind.

Am liebsten verbrachte er seine Zeit bei seinem Groβvater - dessen drei Töchter übrigens drei Brüder aus dem gleichen Dorf heirateten - beim einzigen Menschen, den mein Vater mir je zärtlich beschrieb, sogar auf dessen platten Dialekt erzählte er dann, wie er als Junge eines Tages mit dem armen Schlucker auf einer Insel im Venn einen einzigen Karnickel und mehrere Zibben, die dem Fleischmangel abhelfen sollten, aussetzten und wie das ganze Eilandchen, unerreichbar für die natürlichen Feinde der Tierchen, ständig rot war von den vielen Geburten.

 

Da mein Vater, als er achtzehn war, seinen Kriegsdienst nicht leisten wollte, nur wegen der Drohungen, zu Hause abgeholt und dorthin transportiert zu werden, in die Kaserne ging und sich dort sofort weigerte, zu unterschreiben, dass er seine Uniform in guter Ordnung erhalten habe, wohlwissend, dass er sich mit vierundzwanzig Monaten Schikane und Langeweile einverstanden erklärte, sobald er jenes Kleingedruckte auf der Hinterseite automatisch mitunterschrieb, landete er in den Knast, wo er bleiben sollte bis er unterschrieben hatte und auch wohl die ganze Dienstzeit geblieben wäre, hätte sich nicht ein Offizier nach einigen Tagen neben ihn auf die Pritsche gesetzt und ihn gefragt, ob er doch nicht lieber raus in die frische Luft und auf Kosten der Armee den groβen Führerschein mit Sonderanhänger machen wolle, um dann die restliche Zeit als LKW-Fahrer britische Centurion Panzer in ihre Besatzungszone zu transportieren, gab er, nur um aus der Kaserne zu kommen, nach und fügte sich, das Aufsäβigste an seinem Benehmen war, dass er englische Hemden schmuggelte und unterwegs in den Kneipen verkaufte, indem er sich eins mit darunter Bluejeans anzog, sich hinsetzte, rauchte und sein Bier trank.

Ich kenne das Leben meines Vaters, bis er meine Mutter traf, nur so, anekdotisch. Aber auch danach, wann meine Mutter es mir aufhellt, bleibt es oberflächlich. Nur ein einziges Mal lieβ er uns in sein Seelenleben zu, ich ging noch in die Grundschule, unsere Eltern, in ihren schicken Klamotten, kamen heim und was wir nicht wussten war, dass sie sich an diesem Tag eigentlich hatten trennen lassen wollen. Er setzte sich auf die Couch und rief meinen Bruder und mich zu sich, sagte uns, sich neben ihn zu setzen und versprach uns, sich auch künftig um uns zu kümmern, uns war das ganze unheimlich, so kannten wir unseren Vater nicht, uns gegenüber hatte sich inzwischen, schweigend, unsere Mutter hingesetzt, sie hatte die Scheidung beantragt aber dann nicht durchgesetzt.

Ich hatte ihrer Entscheidung eine glückliche Kindheit zu verdanken und habe sie immer als etwas ganz Normales erlebt, seit Ellen mir jedoch über ihre Jugend erzählte, betrachte ich sie beinahe als idyllisch mit Bruder, Vater und vor allem eine Mutter, die für uns da sein konnte. Wir alle meinen ja, unsere Mutter sei die liebste der Welt und sogar einige meiner Klassenkameraden sagten mir, dass die meine es sei.

*

Als sie mit sechzehn zu arbeiten anfing, wurde so ungefähr die Altersrentenversicherung eingeführt und, weil sie nicht mehr um ihre Finanzen bangen musste, verlangte meine Groβmutter ihr kein Kostgeld ab. Ihre ‘zehntausend’ konnte meine Mutter so zusammensparen, dafür wurde nach der Heirat in einem zehn Kilometer entfernten Dorf eintausend Quadratmeter Baugrund, an der Straβenseite oval, auf den beiden benachbarten Seiten gerade und wegen der unregelmäβigen Form günstig, erworben und sofort bei der Bank für die gleiche Summe wieder hypothekarisch belastet. Mein Vater konnte sich selbstständig darauf ihr Traumhaus, einen kleinen Bungalow, bauen, dabei nur wenn er alleine nicht mehr voran kam von ihren Eltern finanziell oder von Kumpels maschinell unterstützt. Er war geschulter Bauarbeiter und konnte alles, auch das übertreibe ich nicht, alles machen was er wollte, seine Hände machten, was seine Augen sahen, mauern, zimmern, alles machte er selbst, jede Schraube im Haus hatte er selber festgedreht, jeden Nagel selber reingehauen.

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