Fluch aus vergangenen Tagen

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Fluch aus vergangenen Tagen
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Daniela Christine Geissler

Fluch aus vergangenen Tagen

Fluch
aus vergangenen Tagen

Mystischer Roman

Daniela Christine Geissler

Fluch aus vergangenen Tagen

Daniela Christine Geissler

Copyright: © 2012 Daniela Christine Geissler

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-4125-9

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1. T E I L. 13

Kapitel 1. 14

Kapitel 2. 16

Kapitel 3. 23

Kapitel 4. 29

Kapitel 5. 38

Kapitel 6. 45

Kapitel 7. 55

Kapitel 8. 69

2. T E I L.. 71

Kapitel 9. 72

Kapitel 10. 77

Kapitel 11. 91

Kapitel 12. 97

Kapitel 13. 104

Kapitel 14. 110

Kapitel 15. 115

Kapitel 16. 118

Kapitel 17. 122

Kapitel 18. 125

Kapitel 19. 127

Kapitel 20. 130

Kapitel 21. 132

Kapitel 22. 137

Kapitel 23. 141

Kapitel 24. 146

Kapitel 25. 151

Kapitel 26. 154

Kapitel 27. 157

Kapitel 28. 161

Kapitel 29. 165

Kapitel 30. 168

Kapitel 31. 170

Kapitel 32. 174

Kapitel 33. 177

Kapitel 34. 179

Kapitel 35. 186

E p i l o g. 198

Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.

Lukas 24, 29

PROLOG

Spätes Mittelalter

Es war still geworden auf dem Marktplatz. Die lodernden Flammen züngelten sich dem Himmel entgegen und man hörte nur mehr das leise Knistern des Strohs. Bald ganz umgab der Ring des Feuers das Weib, welches mit abwesendem Blick gegen den Himmel starrte. Der Inquisitor, ein hagerer Mann Mitte Fünfzig, stand abseits, gerade so, als ob er Furcht hätte - Angst vor dem Fluch einer Hexe.

Hier und da vernahm man spöttisches Gelächter. Ein Junge bewarf die junge Frau mit einem Stein und jauchzte

„Jetzt brennst du….Hexe!“

Die Trommeln wurden langsam, in monotoner Weise, angeschlagen. Der Gleichklang der Schläge hallte wie ein Echo in Luises Ohren.

Ihr wurde übel. Schon seit geraumer Zeit drang der Rauch in ihre Lungen, ihre Sinne schwanden zunehmend, sonderbare Bilder einer ihr unbekannten Zeit durchzogen ihren Geist. Voll Mitgefühl schwenkte der Pfarrer das lange hölzerne Kreuz vor ihren Augen auf und ab. Ein Lächeln glitt selbst jetzt noch über ihren Mund, als sie den zarten Körperbau des Pfarrers durch den Rauch erkennen konnte. Er hat mehr Furcht als ich, dachte sie einen kurzen Moment lang, bis sie von den eigenartigen Bildern wieder eingeholt wurde.

Der Rauch benebelte ihre Sinne und doch sah sie die inneren Bilder klar vor sich: Ein Kasten auf Räder, der von selbst fährt. Ein Haus in einem Garten. Menschen die sie nicht kannte und doch kamen sie ihr bekannt vor. Der Pfarrer nahm eine blonde Haarfarbe an und der Inquisitor drehte sich grotesk um einen steinernen Altar.

Mit offenen Mäulern stand der Mob in einem Kreis um den brennenden Scheiterhaufen, der schon bald die Füße des jungen Weibes erreichen würde.

Der Inquisitor öffnete seinen Mantel. Die flimmernde Hitze hatte auch ihn erreicht. Die Trommeln wurden nun lauter und schneller. Dem Inquisitor ging der Lärm auf die Nerven. Er wollte, dass es endlich vorbei war, aber er konnte sich dem Schauspiel nicht entziehen und so starrte er zu der Gestalt, deren Beine bereits Feuer fingen und brummte vor sich hin

„Immer dieses Getrommel! Als ob die Ketzer deshalb schneller brennen würden.“

Der Bürgermeister des kleinen Dorfes blickte erstaunt zu ihm auf

„Die Leute wollen unterhalten werden. Es ist ein Schauspiel.“

Verächtlich blickte die große Gestalt auf den kleinen Dorfvorstand herab und sprach ehrfürchtig, fast stolz

„Eine Hexe zu verbrennen ist kein Spiel für den Pöbel, es ist zur Ehre Gottes - ein Heiligtum.“, und weiter sprach er, den glasig fanatischen Blick in den vom Feuer sprühenden Himmel gerichtet

„Nichts ist heiliger, als eine Seele durch das Flammenmeer hindurch, zu Gott zu führen! Amen.“

Kurz zuvor noch hatten die Einwohner des französischen Dorfes die junge Frau verspottet, sie beschimpft, sie ausgelacht, doch jetzt im Angesicht des Todes, warteten sie angespannt auf die nächsten Minuten ihres Todeskampfes.

Genugtuung und Mitleid spiegelten sich auf den von den Flammen erhellten, groben Gesichtern. Vor der glimmenden Hitze und dem glühenden Funkenflug mussten sie nun trotz Neugier zurückweichen.

Die Hexe war außer ihr Blickfeld geraten. Fast schützend umfingen die Flammen ihren Leib und verdrängten die Umstehenden. Man erwartete ihr Wimmern, ihr Schreien, wie man es von anderen gewohnt gewesen war, doch es blieb aus.

Der junge Priester schwenkte verzweifelt das Kreuz vor ihr und betete laut das Pater noster. Dabei erinnerte er sich an jenen Tag des Gerichts, als man sie vorführte. Anklage über Anklage ergoss sich über die junge Frau, die trotzig vor den ehrwürdigen Herrn stand und kein Wort zu ihrer Verteidigung vorbrachte. Er betrachtete diese Hexe, wie man sie nun nannte und sah die Schuld. Trotz seiner kurzen Amtszeit als Priester in diesem Dorf hatte er schon ein Gefühl dafür bekommen, wer wirklich schuldig war und wer nicht. Diese Frau war es. Doch den Feuertod hatte, seiner Meinung nach, kein Mensch verdient. Er setzte sich beim Inquisitor für sie ein und hoffte ihn zu besänftigen „Könnte man den Feuertod vermeiden? Sie könnten sie stattdessen köpfen lassen.“ Erschrocken wich der hagere alte Mann vor dem Priester zurück „Ihr wollt Gnade für eine Frau, die einen Mann Gottes verführt hat? Gnade für so ein Geschöpf der Hölle?“ Er war so aufgebracht, dass der junge Priester es vorzog schnell den Rückzug anzutreten, denn diese hohen Herren aus Rom waren gefährlich und schnell verneigte er sich. Er hatte sich vorher fest vorgenommen für sie zu kämpfen. Er sah es als seine Aufgabe in diesem Amt an, für den Menschen da zu sein und musste feststellen, dass es ein sehr naiver Gedanke war, zu glauben, er könnte den Feuertod von ihr abwenden.

Einen Tag zuvor hatte er ihr im Verlies die Beichte abgenommen. Sie lächelte, als er in ihre Seele drang, ihre Schuld zu bereuen

„Der Herr kennt Gnade. Er will, dass all seine Kinder zu ihm finden. Bereue es doch, bitte.“ Ihr Gesicht wurde hart

„Ihr meint, dass Euer Gott ein guter Gott ist? Und warum ließ er mich dann hungern, frieren und vor Armut fast krepieren?“ Er versuchte es noch einmal „Wir alle werden vom Herrn geprüft. Deine Armut war deine Prüfung. Siehst du das nicht ein?“ Zynisch lächelnd entgegnete sie „Na, dann könnt Ihr ja froh sein, dass der Herr Euch mit dieser Prüfung verschont hat.“ „Du musst verstehen, er war ein Mann Gottes. Du hast große Schuld auf dich geladen.“, wand er bitter ein. Sie schüttelte ihren Kopf, wobei ihr die dunkle Mähne ins Gesicht fiel. „Männer sind alle gleich. Sie können gar nicht anders und heilig ist kein Mann in dieser Welt, auch Ihr nicht, Priesterlein.“ Sie provozierte ihn weiter, denn sie wusste ihr Leben war vorbei. Sie kannte die Realität dieser Welt und sie dachte, dass dieser Junge, der so erhaben in seiner Soutane vor ihr stand, noch viel lernen musste.

 

„Ihr werdet sehen, dass Eure Herren kein Erbarmen mit mir kennen und so frage ich Euch, wieso Ihr glaubt, dass Ihr alle für Gott arbeitet. Euer Gott ist also ein gütiger Herr, doch warum kennt Ihr hohen Herren dann keine Gnade mit uns Armen? Nein, Priester, Ihr braucht um meine Seele nicht zu schachern. Es ist vorbei und ich bereue nichts!“ entgegnete sie verbittert und er verzweifelte dabei, ihr zuzuhören.

Nun brannte sich die hitzige Luft in seinen Lungen, doch er wollte in diesem Moment für sie da sein. Sie sollte wissen, dass jemand Anteil an ihrem Schicksal nahm, dass sie Mitleid erwarten konnte und so wandte er seinen Blick nicht von ihrem brennenden Körper ab.

Seine lateinischen Verse drangen an ihr Ohr und vermischten sich mit der Glut, welche sich nun erbarmungslos in ihren Körper fraß. Im Todestaumel überkamen der Hexe Luise quälende Erinnerungen und vor ihrem inneren Auge sah sie den Mann, der am Boden lag und röchelte.

Der Fluch des sterbenden Mönchs drang an ihr Ohr

„Niemals wirst du mich loswerden! Meine arme Seele, der du alles genommen hast, wird sich holen, was ihr Eigen ist! Im Namen deines Herrn werde ich dich verfolgen, werde dich stellen und dich vernichten. Das schwöre ich dir bei meiner verlorenen Seele.“

Sie vernahm entsetzte Schreie und gemeines Lachen von den Umstehenden, welche sie nur mehr schwach durch den Rauch erkennen konnte. Der Rauch verdichtete sich zunehmend und brachte sie zum Husten, wobei die Glut immer unerträglicher wurde. Das Flammenmeer, in das sie nun ganz einzutauchen schien, verwandelte sich plötzlich in eine sonderbare Kälte. Ihr fröstelte, obwohl sie brannte. Sie nahm den Geruch ihres eigenen verschmorten Fleisches wahr. Sie spürte die Flammen, welche sich den Weg unaufhaltsam in ihren Körper bahnten und jeden Teil ihres Körpers in Besitz nahmen.

Das Weib namens Luise war alleine. Abgeschieden führte sie ihren flammenden Todeskampf, der sie in eine ferne Zukunft zu führen schien.

1. T E I L

Kapitel 1

Philadelphia 1940

Der Junge lag am Boden. „Es tut weh, Mr. Lee, es tut so weh!“ Er war bleich, sein kleiner Körper wand sich vor Schmerzen. Mr. Lee, sein Volksschullehrer eilte ins Sekretariat und rief die Rettung an. Neugierig standen seine Mitschüler um ihn herum. Noch bevor die Rettung da war, verlor der Junge das Bewusstsein. Verzweifelt fluchte der alte Lehrer vor sich hin. Endlich kam der Rettungswagen. Man legte ihm eine Sauerstoffmaske an und schob ihn in den Wagen.

Dunkelheit. Er befand sich in der oberen Ecke des Zimmers. Der Raum schien in ein diffuses grünliches Licht getaucht worden zu sein. Die Menschen hatten grüne Mäntel an und grüne Masken auf, selbst die Kacheln an der Wand waren so gefärbt. Über ihm schwebte ein Licht, das ihn nicht zu blenden schien. Obwohl es von blitzender Helligkeit war, konnte er hineinsehen, ohne zu blinzeln. Zuerst schien es ihm, als ob sein Leib ins Meer tauchen würde, denn auch dort fühlte er seinen Körper nicht. Schwerelos trieb er dahin, gerade wie eben jetzt, nur dass der Widerstand des Wassers fehlte und er keinen Körper mehr besaß.

Die Menschen unter ihm beugten sich über ein Kind, das auf einem Bett lag. Er erfasste ihre Panik, konnte ihre Gedanken hören, ihre Gefühle miterleben. Nur sein Wille führte ihn. Es war ihm möglich sich fortzubewegen, ohne zu laufen.

Der Junge war Herr über sein Ich, er war f r e i.

„Wir verlieren ihn!“, hörte Richard die Stimme unter sich. Die Ärzte beugten ihre Köpfe über den kleinen Körper, der regungslos auf dem Tisch lag. Einem Adler gleich, schwebte sein Geist über ihnen. Er vernahm die Stimmen seiner Eltern.

Sein Geist durchbrach die Wände, führte ihn zu den beiden. Sie standen vor dem Operationssaal. Er versuchte ihnen mitzuteilen, dass es ihm gut gehe und er keine Schmerzen mehr habe, doch er musste feststellen, dass sie ihn nicht hören konnten. Er wollte, dass sie ihn verstehen. Ihre Stimmen konnte er doch auch vernehmen. Er verstand das alles nicht. Eine grelle Lichtgestalt winkte ihm zu. Endlich nahm jemand Notiz von ihm. Er folgte der lichten Gestalt in den Operationssaal zurück. Die Ärzte kämpften um das Leben des kleinen Körpers und er stellte fest, dass es sein Körper war. Richard verstand nicht, was hier geschah. Was mit ihm geschah. Er schien von sich selbst getrennt zu sein und es war ihm, als ob es ihn zweimal geben würde. Unten und oben. Eine sonderbare Ambivalenz ergriff seine Seele. Seine Seele wollte mit der Lichtgestalt gehen, doch diese drückte ihn immerfort in die Richtung seines Körpers, der unten lag. Er konnte dem Willen dieser Lichtgestalt nicht widerstehen und fiel langsam hinab. Sogleich hellten sich die Gesichter wieder auf.

„Wir haben ihn wieder!“ Mit diesem Satz wurde er in eine enge Dunkelheit gesogen.

Mr. Nelligan saß am Krankenbett, hielt die kleine Hand seines Sohnes, während seine Mutter ihren Rosenkranz betete. Richard erwachte und flüsterte selig

„Es war schön, Pa, es war so schön!“

„Ja, ja, ruh dich aus.“, sprach er und fuhr ihm zärtlich über die Stirn. Aufgeregt erzählte er seinen Eltern, was er erlebt hatte, aber sie ignorierten seine Geschichte.

Oftmals versuchte er seiner Umwelt das Erlebnis näher zu bringen, doch nach wiederholten Spötteleien, sprach er mit keinem Menschen mehr darüber.

Erst viele Jahre später wurde ihm die Tragweite seines sonderbaren Erlebnisses bewusst und die Schuld aus einstigen Tagen, sollte seine Seele zur Läuterung aus dem irdischen Karussell führen, um Erlösung aus längst vergangenen Zeiten zu finden.

Kapitel 2

Philadelphia, Frühherbst 1975

Väterlich legte er seine Hand auf ihre schmale Schulter “Bist du soweit?“

Aufgeregt, als würde man sie zu ihrer Hochzeit bringen, antwortete sie feierlich „Ja, wir können gehen.“

Dabei wandte sie sich zur halb geschwungenen, weißen Wendeltreppe um und betrachtete das Ölgemälde an der Wand, das sie als Kind darstellte. Ruth erinnerte sich daran, wie er sie damals zärtlich ermahnte „Steh ruhig! Ich kann dich nicht malen, wenn du ständig von einem Fuß auf den anderen hüpfst.“ Ihre Kindheit war eine Zeit voller Wehmut und Sehnsucht. Nur die Gegenwart von Onkel Richard konnte jene trüben Tage mit ein wenig Freude füllen. Alle liebten ihn.

Als würde man ein Lamm zur Schlachtbank führen. Welch eine Vergeudung an Jugend, an Schönheit, an das Leben überhaupt, quälte er sich. Er hatte das Bedürfnis Ruth zu schütteln, bis sie endlich zur Vernunft kommt, um aus diesem Albtraum zu erwachen. Als Richard jedoch in ihr verklärtes Gesicht sah, fürchtete er, dass es keinen Sinn hatte. Die Welt hatte ein liebliches Geschöpf weniger.

Dabei hatte er wirklich alles versucht, um ihr das Leben danach - nach dem schrecklichen Unfall - erträglich zu machen. Ihre Freundinnen beneideten sie um ihren Onkel und schmolzen dahin, wenn er einer von ihnen sein charmantes Lächeln schenkte. Er war der Liebling der Frauen, ein Don Juan, ein Casanova und noch vieles mehr.

„Mach nicht so ein Gesicht, Richard! Ich gehe zum Herrn, nicht zu meiner Beerdigung.“, scherzte sie. Sein Hals brannte, er fühlte sich als Versager. Üblicherweise hatte er auf Frauen einen gewissen Einfluss, dem sich diese kaum entziehen konnten, doch Ruth entglitt ihm wie eine Wachsfigur, die unter seiner Fürsorge schmolz.

Vor einigen Jahren verlor die Familie Nelligan bei einer Europareise durch einen Autounfall ihren Sohn Phil, die Schwiegertochter Janet und fast auch Ruth. Doch die Ärzte schafften das Unmögliche, besser ausgedrückt, Richard schaffte es.

Toskana, 1966, zwei Uhr nachts:

Richard schreckte im Schlaf, von einem bösen Traum wachgerüttelt, auf. In den letzten Tagen schon, überfiel ihn immer wieder eine seltsame Furcht. Er spürte, wenn ein Unglück nahte - er fühlte es mit seinem ganzen Körper.

Es war, als ob jemand die Zeit still stehen ließe und er darin gefangen war. In solchen Momenten konnte er nur abwarten. Er hatte eine Gabe, er war fähig Schicksalsschläge vorher zu sehen, aber es war ihm nicht möglich, diese abzuwenden. Richard richtete sich im Bett auf und sah den Wagen vor seinem inneren Auge den regennassen Asphalt entlang fahren. Er sah die Kurve bildlich vor sich und das verzerrte Gesicht von Phil und er wusste, dass es gerade jetzt passierte. Das Auto krachte seitlich durch die Planken und überschlug sich die Böschung hinunter. Phil und Janet waren sofort tot. Es ging alles rasend schnell. Richard bangte um das Kind. Mit seinem Geist hüllte er seine Nichte ein und drückte sie in den Sitz, bis seine Hände weiß waren. Schweißgebadet von dieser Horrorvision fiel er erschöpft ins Kissen zurück. Jetzt konnte er nur mehr auf den Anruf warten, wenn man ihm den Tod seines Bruders mitteilte. Morgens um sieben Uhr erhielt er jenen Anruf, der von diesem Tag an, das Leben der Familie Nelligan veränderte. Er nahm Ruth ihre Eltern und machte seinen Vater zum Trinker. Wie das Kind den Unfall überleben konnte, war den Experten ein Rätsel. Das Auto war ein einziger Schrotthaufen. Ruths Verletzungen waren äußerst ernst, aber nicht lebensbedrohlich.

Der Oberarzt der Pädiatrie meinte, dass es eine schwere Zeit für Ruth werden würde.

Richard, damals zweiunddreißig Jahre alt, versuchte danach alles Mögliche, um seiner neunjährigen Nichte das Trauma ihrer Kindheit zu verscheuchen.

Grenoble, Frühherbst 1975

Richard machte sich Vorwürfe, vielleicht hätte er länger bei ihr bleiben sollen. Er fühlte, dass er den Kampf verloren hatte. Er hatte es nicht geschafft sie ins Leben zurückzuholen. Genauso gut hätte sie damals sterben können, dachte er betrübt und betrachtete ihr immer noch kindliches Profil.

Nachdem sie am Internationalen Flughafen in Grenoble angekommen waren, nahmen sie sich ein Taxi. Nach einer kurvenreichen Fahrt durch die Alpen hielt der Wagen vor dem Kloster. Der weiße Kies knirschte unter den Reifen, als der Fahrer den Wagen vor das monumentale Gebäude lenkte, das sich bedrohlich gegen den Himmel reckte. Hol sie endlich! Du willst sie, weil ich sie dir damals nicht geben wollte und jetzt, da hast du sie, und nun mach sie glücklich, haderte sein Innerstes mit Gott. Eine schwarz gekleidete Gestalt näherte sich, um das große, eiserne Tor zu öffnen.

Richard registrierte eher ein Schweben, als ein Schreiten. "Wohl zu stolz zum Gehen, was? Diese Leute müssen sich einher schwingen, um sich selbst und anderen als würdig zu erweisen. Einfach lächerlich dieses Getue.“, murmelte er vor sich hin. Ruths Gedanken hingen an ihrem zukünftigen Lebensabschnitt und sie nahm nur undeutlich am Rande, die Worte ihres Onkels wahr „Was hast du gesagt, Richard?“

„Ach, nichts! Sie kommen um dich zu holen.“, murmelte er weiter und starrte trotzig zum Kloster. Abzuholen in ein Irrenhaus, dachte er den Satz zu Ende.

Bevor er die Wagentür öffnen konnte, lugte die schwarze Gestalt bereits ins Wageninnere. Richard stöhnte bei dem Anblick dieser Kleidung und rätselte, warum diese Leute sich so seltsam kleiden mussten. Er hielt nichts vom Glauben der Religionen und deren Einheitskleidung verglich er mit dem Gewand von Sträflingen. Einige katholische Männerorden kleideten ihre Mönche in diese braunen, groben Gewänder. Darin erweckten sie den Eindruck riesiger Ratten und die Nonnen mit ihren Häubchen glichen flatternden Fledermäusen, fand er. Außerdem war die Katholische Kirche für ihn ein Verein von Genussverächter und er konnte sich nicht damit abfinden, seine Nichte dort zu lassen. Ein Haufen von Narren, die meinten, dass Gott ihnen für dieses Kasperltheater der Verkleidung, am Tag des Letzten Gerichts den goldenen Teller vor die Nase stellen würde. Ihm schwindelte bei dem Gedanken, dass seine Nichte ihr weiteres Leben, bei diesen schrägen Frauen verbringen sollte, die seiner Meinung nach, vom Wahnsinn keine zwei Schritte entfernt waren. Zwei weitere Gestalten, ebenfalls so gekleidet, kamen zu ihnen und führten sie ins Kloster. Für Richard, der als Maler, alles Schöne liebte, war dies eine geschmacklose Fantasieentgleisung und dachte: Wenigstens laufen sie nicht frei herum und sind auf die grandiose Idee gekommen, sich selbst einzusperren. Die Schwestern würdigten Richard kaum eines Blickes, nur ein spartanisches „Grüß Gott!“, gaben sie von sich, wenn sein Blick sie streifte. Er fühlte sich sichtlich unwohl. Eine solche Aversion gegen weibliche Gesellschaft empfand er selten. Man geleitete sie in einen Aufenthaltsraum, außerhalb der Klausur, der die Atmosphäre eines unfreundlichen Klassenzimmers hatte. Musste sie sich ausgerechnet diesen Orden aussuchen? Es gibt sicher freundlichere, überlegte er und betrachtete die vergitterten Fenster.

 

Die beleibte Mutter Oberin saß vor ihnen, die Hände vor der gewaltigen Brust verschränkt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Ruth und mit strengem Ton, betont würdig, begann sie „Sie haben sich also entschlossen, unserem Orden der Karmelitinnen beizutreten und Ihr Noviziat hier anzutreten.“ Dabei nickte sie selbstzufrieden und ein Redeschwall über die Ordnung im Kloster ergoss sich über die beiden. Nach fünf Minuten konnte er kein Wort mehr ihres diktatorischen Vortrages vom „Dienst an dem Herrn“, mehr hören. Ihm wurde übel vor so viel Selbstherrlichkeit, doch Ruth hing an ihren Lippen. Bald würde auch sie eine von ihnen sein und ihre Persönlichkeit wird bis ins kleinste Detail, aus ihr herausgeschält werden, um sich diesem Leben anpassen zu können.

Er hielt es nicht mehr aus, erhob sich und unterbrach so abrupt den monotonen Monolog der Nonne, die entrüstet zu ihm aufblickte. Aus seiner trockenen Kehle entfuhr ihm „Ich werde mich wieder auf den Weg machen. Also dann, Ruth, bye.“ Seine Augen brannten, seine Stimme klang heiser. Die Tür öffnete sich und Schwester Agnes trat ein. Es war ihm nicht mehr möglich sein Umfeld zu erfassen, so sehr schmerzte ihn dieser Augenblick. Ein weißer Lichtstrahl fiel auf Richards kantiges Profil.

An seiner Wange konnte Schwester Agnes eine Träne sehen. Mit einer heftigen Geste zog er Ruth zu sich, umarmte sie, löste sich schnell wieder und wandte sich zur Tür.

Eingehüllt in ein gleißendes Sonnenlicht, welches vom Gang ins Zimmer fiel, verstellte ihm eine zierliche Gestalt den Weg und wie er an ihr vorbei näher zur Tür schritt, traf ihn ihr Blick. Noch nie zuvor hatte sie einen Mann weinen gesehen. Für einen kurzen Moment versenkten sich ihre staunenden Augen in seinen Schmerz und ein kühler Hauch kam auf ihn zu. Ihre bernsteinfarbenen Augen umgaben dichte, schwarze Wimpern. Selbst jetzt noch in seinem Schmerz war er ganz Künstler, erfasste das ebenmäßige Gesicht und ihren geraden Blick. Er glaubte Reinheit zu sehen, vermengt mit einer überirdischen Sinnlichkeit. Sie kann kaum Dreißig sein, fuhr es ihm durch den Sinn.

Sie fühlte seine Energie, seinen Trotz der Welt gegenüber. Er senkte seinen Kopf und schloss die Tür hinter sich. Mutter Elisabeth, von dieser Szene mehr peinlich, als traurig berührt, fuhr schnell mit ihrer Ansprache an ihren neuen Zögling fort. So war es Ruth gar nicht mehr möglich an Richard zu denken und schon bald versank sie ganz in der neuen Rolle der Novizin, als Gehorchende.

Mit hängenden Schultern marschierte Richard stereotyp Richtung Wagen. Sein Zynismus war ihm vergangen. Er hatte nicht gedacht, dass es so bitter sein würde. An seinem Rücken spürte er Kälte und er begann, trotz des sonnigen Tages, zu frieren.

Ihre Aura erreichte seinen sensitiven Sinn, ihre Schritte waren kaum zu hören. Er blieb stehen, drehte sich um und betrachtete sein Gegenüber. Die Regelmäßigkeit ihres ovalen Gesichts wurde unterstützt von dem einrahmenden Ordensschleier. Ihre schön geformten Lippen und ihr Blick gaben Schwester Agnes das Flair eines überirdischen Wesens.

„Es tut mir leid.“, hörte er ihre klare Stimme.

Richard schüttelte den Kopf und bellte „Was tut ihnen leid?“ Gleich darauf bereute er seinen schroffen Tonfall. Sie ging einen Schritt zurück und sagte bestimmt „Weil es Ihnen nicht möglich ist, sie zu verstehen!“

Er war zu müde, ihr zu widersprechen, um ihr das Gegenteil klar zu machen. Er drehte sich einfach um und ging weiter. „Kommen Sie wieder und besuchen Sie Ruth.“, rief sie ihm sanft nach. Leichter Zorn erfasste ihn und barsch rief er zurück „Oh ja, ich werde sie mir in einem Monat ansehen, werde sehen, was ihr dann aus ihr gemacht habt!“ Sie entfernte sich. Nochmals bereute er seinen Tonfall, denn dieses Verhalten entsprach nicht seiner charmanten Art. Er rief ihr nach „Gut, ich werde wieder kommen!“

Sie unterbrach ihren sicheren Schritt und blickte kurz zurück

„Sie wird sich sicher freuen.“

„Und Sie? Werden auch Sie sich freuen?“

Sie blickte auf den Boden, richtete sich auf und sprach wie ein gut ausgebildeter Soldat „Es würde mich freuen, wenn es Ihnen dann wieder besser geht.“ Daraufhin drehte sie sich um und entfernte sich raschen Schrittes.

Er starrte ihr nach, bis er nur mehr ihre Umrisse erkennen konnte.