Rubine im Zwielicht

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Rubine im Zwielicht
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Jandt

Rubine im Zwielicht

Wuppertal-Krimi mit Rezepten


Dieter Jandt

Rubine im Zwielicht

Wuppertal-Krimi mit Rezepten


Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2008 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Inga Driemeyer & Thorsten Hartmann

Umschlag: Tom van Endert & Thorsten Hartmann

unter Verwendung eines Fotos von ninino/photocase.de

Rezepte: Linna Grage, Dieter Jandt und Roland Tauber

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-938568-41-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Kurzvita Dieter Jandt:

 Jahrgang 1954, lebt und arbeitet in Wuppertal, seit zehn Jahren als Freier Autor und Journalist für den Hörfunk tätig, meist Stundenfeature zu aktuellen Themen, ›grauen‹ und schillernden Phänomenen, u. a.:

 Münze im Mund – die Kultur des Bettelns – DLF

 Alles 1 Euro – Szenen vom Schnäppchenmarkt – DLR

 Liebe Lüge – ein Plädoyer fürs Geflunker – DLR, WDR, HR, SR, DW

 C‘est la vie – Kriminalhörspiel, gemeinsam mit Ulrich Land – WDR, NDR

1.

Der Typ hastete zum Bahnsteig hinauf. Junger Mann, schlaksige Figur. Sah ein wenig abgehetzt aus. Aber das lag wohl an seinem schlechten Timing. Wagner saß bequem im vorderen Wagen der Schwebebahn, die allmählich über dem Sicherheitsgitter ausschaukelte. Durch die geöffnete Tür konnte Wagner die Treppe im schrägen Winkel teilweise einsehen. Er beobachtete, wie der Typ zwei Stufen auf einmal nahm. Immer sehen sie so gehetzt aus, wenn sie die Schwebebahn noch erreichen wollen, dachte Wagner gelangweilt, steckte die Hände in die Taschen seiner grauen Windjacke und räkelte sich im Schalensitz. Neben ihm am Fenster saß eine junge, dicke Mutter. Ihr Kind trampelte auf ihrem Schoß herum und befingerte alles, was in seiner Nähe war. Dazu gehörte offensichtlich auch Wagners Gesicht, der dann und wann gezwungen war, mit dem Kopf auszuweichen.

Der Typ hatte jetzt die Plattform erreicht. Er ruderte mit den Armen, hielt den Kopf nach unten und den Mund schräg aufgerissen, als könnte er sich so an etwas festbeißen. Dazu dieses alberne Blümchenhemd. Weit offen stehend. Hawaii ließ grüßen. Eine Silberkette mit einem blauen Anhänger baumelte über der nackten Brust. Zu allem Überfluss hielt er eine kleine, schwarze Herrentasche in der Hand. Kunstleder, das sah man aus hundert Metern Entfernung. Wagner wünschte sich, dass die Türen rechtzeitig vor dieser Visage zuklacken würden. Der Mann richtete den Blick starr auf den ersten Waggon, er fixierte ihn. Welch ein Unsinn, wo doch alle vier Minuten eine Bahn kam, dachte Wagner. Er wartete gespannt, ob der Mann das schaffen würde. Immerhin sah das sportlich aus, was der Typ da veranstaltete. Wagner konzentrierte sich auf dessen braun gebrannte, unbehaarte Brust, vermutlich rasiert.

Wagner wunderte sich, warum der Mann sich noch einmal umschaute, dann setzte er zum Sprung an. Die Türen klackten zu, der Typ hing fest. Das linke Bein stand im Inneren des Waggons, ebenso der erhobene linke Arm mitsamt der Herrentasche, die vom Handgelenk baumelte. Der Mann schaute mit großen Augen durch den Spalt ins Wageninnere, als sei er erstaunt über die vielen Fahrgäste. Einige Passagiere riefen laut nach vorn und beschimpften den Fahrer. Jemand lachte. Man sah, wie der Mann mit der rechten Hand die Tür aufzudrücken versuchte. Dann plötzlich riss er die Augen auf, und ein Blutschwall ergoss sich aus seinem Mund, schwappte gegen die Tür und zwischen den Spalt hindurch auf den Waggonboden. Dann noch ein kleinerer Schwall. Die Leute schrien auf. Das Kind krähte, zappelte und schlug auf die Brüste der Mutter ein. Der Typ glotzte auf den Wagenboden, als sei er erschrocken darüber, was er da unten angerichtet hatte. Einige Passagiere sprangen auf, andere schrien nach vorn. »Dieser Idiot! Der muss den doch im Spiegel gesehen haben!« »Das sieht denen ähnlich. Aber die Fahrpreise erhöhen!«

Das alles ging blitzschnell. Endlich reagierten die Kontaktsensoren. Die Türen sprangen auf. Der Typ fiel wie ein Sack in sich zusammen, sein Oberkörper bedeckte die Blutlache, die Beine lagen angewinkelt auf dem Bahnsteig. Auf dem Blümchenhemd breitete sich zwischen den Schulterblättern ein roter, runder Fleck aus. Das Kind hielt endlich still und steckte den Zeigefinger in den Mund.

2.

Schlechte Luft und schlechte Sicht: Zigarettenrauch hing schwer über den Tischen. Dunkelhaarige Männer saßen in kleinen Gruppen beisammen und spielten Tavla, die türkische Variante von Backgammon. Drüben am Fenster spielten einige Männer Okay, sie langten nach bunten Chips mit verschiedenen Zahlen und steckten sie auf Holzleisten, die jeder vor sich stehen hatte. Von den weiß getünchten Wänden hallte ständig das Klacken von Spielsteinen wider, die geworfen oder geschoben wurden. Ein riesiger Ventilator an der Decke schwappte die rauchige Luft zurück über die Tische.

Mustafa Sa saß an einem kleinen Tisch in der Nähe des Durchgangs, der mit einem schweren, roten Stoff behangen war. Sa presste die beiden Tavla-Würfel gegeneinander und schleuderte sie mit einer ruckartigen Bewegung des Handgelenkes über das Spielbrett. Pasch fünf. Er nahm sein Gegenüber verächtlich in den Blick, griff dann auf das Spielfeld und verschob zwei der hellen, runden Steine. Er nahm einen dunklen Stein heraus und legte ihn lässig auf dem Mittelsteg ab.

»Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich das nicht leiden kann«, sagte der andere hinter seiner Sonnenbrille hervor. »Glaubst du, ich seh das nicht, wenn du dir die Zahlen in der Hand zurechtlegst. Du schiebst die Würfel ja nur übers Spielfeld anstatt sie zu werfen! So kann ich das auch!« Kemal Derintop griff nach den Würfeln und schleuderte sie lustlos zurück auf das Brett. Er stützte die behaarten Arme auf die Knie und beugte sich über das Spielgeschehen.

»Was willst du?« antwortete Sa. »Du wirst es nicht glauben, aber ich bin in der Lage, einen Großteil meiner Zahlen anzusagen. Und zwar so, wie ich sie brauche.«

»Das ist es ja, was ich meine! Du schaust, was du brauchst, fummelst dir die Zahlen in der Hand zurecht und schiebst die Würfel blitzschnell übers Holz. Glaubst du, ich wäre blind?« Derintop setzte endlich einen seiner Steine vorwärts und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Er war einer jener Typen, die zu allen möglichen Gelegenheiten eine Sonnenbrille trugen, mochte es noch so dunkel sein. Eine dicke Goldkette hing um seinen Hals. Türkisches Rotgold. Derintop war ein kräftiger Mann von Mitte dreißig, stiernackig. Er hatte einen starken Bartwuchs. Obwohl er sich jeden Morgen mit einem Messer rasierte, prangten schon nachmittags wieder dicke Stoppeln um sein Kinn. Das Gesicht war kantig, die Kiefer mahlten ständig, wie das Menschen tun, die was zu verarbeiten haben. »Spiel endlich anständig!«

»Spiele du endlich schnell«, lachte Sa. »Man schläft ja ein. Bei Tavla muss das zack zack gehen, sonst geht die Spannung verloren. Warum weißt du das nicht?«

Der schwere Vorhang teilte sich. Ein kleines, dürres Männlein mit einer Schürze kam aus dem vorderen Raum. Es trug ein Tablett mit kleinen, schlanken Gläsern, die mit Çay, dem hellbraunen, türkischen Tee, gefüllt waren, und ging hinüber zu den Tischen am Fenster.

»Du bist ziemlich gereizt, seitdem dein Bruder tot ist«, sagte Sa und wiederholte sein betont lässiges Wurfritual. »62. Hast du schon mal was von der Einwirkung des Geistes auf Materie gehört? Wenn ich gut drauf bin, weißt du, so ein bestimmtes, absolut sicheres Gefühl, dann werfe ich genau das, was ich brauche. Das ist einfach so. Billige Tricks habe ich dann nicht nötig.« Mustafa Sa setzte zwei Steine und kratzte sich an der grauen Schläfe. An diesem Mann schien alles grau zu sein. Der Anzug, die Augen, die Haare, sogar die blutleeren Wangen. Sein Alter war schwer zu schätzen. Wahrscheinlich Mitte fünfzig. Wenn er sprach, hielt er den Kopf seitlich und so hoch, dass er sein Gegenüber von oben herab betrachteten konnte. Dazu seine zur Schau getragene Lässigkeit, und wenn er nicht gerade Spielsteine und Würfel bewegte, die ihm wie von selbst aus der Hand zu fallen schienen, fummelte er an einer Gebetskette, die er zwischen den Fingern aufwarf. Jetzt langte er in die Innentasche seines Jacketts, zog eine 50-Euro-Note hervor. Er schob sie neben das Brett und lächelte in die schwarzen Löcher von Derintops Sonnenbrille hinein.

 

Der Kellner trat an ihren Tisch heran und stellte zwei Gläser mit Çay ab. Er schob zögernd die kleinen Löffel zurecht, die auf den Untertassen lagen. Dann murmelte er hastig: »Lochner ist tot!«

Der Kopf mit der Sonnenbrille ruckte hoch. Derintop schien aufspringen zu wollen. Das Männlein zuckte zusammen.

»Ich weiß sonst auch nichts. Ich hab‘s nur gerade gehört«, entschuldigte es sich und verdrückte sich eilig hinter den Vorhang.

Sa schmunzelte. »Dann brauche ich ja nicht lange zu raten, was? So langsam bist du also doch nicht. Ich dachte zwar, ich hätte dich gewarnt, aber – gut. Wie lange hast du ihm aufgelauert? Drei Tage?«

Derintops schwarze Löcher waren auf den Boden gerichtet, er schien zu überlegen. Sa deutete auf das Spielbrett »Du bist am Zug.«

»Da hast du Recht.« Derintop war aufgestanden. Seine Bewegungen waren flinker als es seine massige Figur vermuten ließ. Wortlos verließ er den Raum.

3.

Wagner schloss die Wohnungstür hinter sich und warf die Herrentasche auf den Küchentisch. Er setzte sich und verhielt sich mucksmäuschenstill, als sei er soeben in eine fremde Wohnung eingedrungen. Sein Atem ging schwer. Nicht durchtrainiert, stellte er fest. Wie auch, bei diesem Scheißjob den ganzen Tag zwischen Notebook und Computer.

Wagner horchte nach draußen, dann ruckte er den Reißverschluss der Tasche auf. Er schaute kurz hinein. Da war ein blauer Luftpostumschlag mit asiatischen Schriftzeichen und einer hiesigen Adresse. Wagner zog den Brief heraus und bestaunte die fremdartigen, fein geschwungenen Buchstaben, die sich in langen Reihen über die Zeilen zogen, ohne einen Abstand zwischen den Worten. Wagner zuckte mit den Schultern, schob den Brief in den Umschlag zurück und zog eine handgroße Cellophantüte heraus. Darin weitere kleinere Cellophantüten, etwas Buntes schillerte ihm entgegen. Ungeschickt drückte er an der Schweißnaht herum, bis sich die Tüte endlich öffnete. Er schüttete den Inhalt aus. Vier blaue Steine kollerten über den Tisch und blieben funkelnd liegen. Die nächste Tüte enthielt zwei gelbe Steine, wie die blauen erbsengroß. Wagner sah genau hin. Er hatte keinen blassen Schimmer von Edelsteinen. Waren die echt? Die gelben hatten dunkelbraune Flecken. Also doch eher nicht. Die anderen beiden Tüten warf er ungeöffnet auf den Tisch. Rötlich funkelte es darin.

Wagner stand auf und ging zum Wohnzimmer hinüber. Die rote Lampe des Anrufbeantworters blinkte. Wahrscheinlich die Redakteurin des Anzeigenblattes. War vermutlich mit seiner Reportage zum diesjährigen Schützenfest noch immer nicht zufrieden. Sollte sie sie doch selber schreiben! Drei Fassungen für den hohlen Zahn, wo kam man da hin? Als ob er nicht schreiben könnte! Er schaltete den Fernseher ein, der in der Ecke an der Wand hing, und trat zur Kommode, die schräg darunter stand, ein schweres, dunkles Möbel mit Löwenköpfen an den Türen. Er zog die obere Schublade auf und kramte darin herum. Die Sprecherin erzählte etwas von Anschlägen in Bagdad, dann fing sie von den Düsseldorfer Modemessen an. Wagner kramte weiter. Endlich zog er eine kleine Briefmarkenlupe hervor. Er ging wieder in die Küche und reinigte das Glas kurzerhand an einem Trockentuch, das achtlos über einer Stuhllehne abgelegt war. Die Einrichtung der Küche war eine wahllose Ansammlung von Einzelstücken. Ein kleiner Kühlschrank, ein Elektroherd, beide ehemals weiß und Secondhandware, an der rechten Wand ein antiquierter Nussbaum-Küchenschrank mit Brotkasten und Gewürzläden. Unter dem großen Fenster ein schwerer, runder Tisch und vier schlichte Stühle, alle für Wagner. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens allein gewohnt. Mittlerweile war er Anfang vierzig, ein Mann mit vollem, welligem Haar, das bis über den Kragen reichte, seine Ohren bedeckte und seinem Gesicht einen gutmütigen Ausdruck verlieh. So, wie man Wagner ansah, dass er nicht viel aus sich und seinem Äußeren machte, ohne dabei ungepflegt zu wirken, so tolerant vermutete man ihn gegenüber seinen Mitmenschen. Von diesem Mann ging keine Gefahr aus.

Wagner drückte seinen Bierbauch gegen die Tischkante und beugte sich mit der Lupe vor dem rechten Auge über einen der blauen Steine. Geschliffen waren sie, das konnte man erkennen, und er wusste, dass es verschiedene Techniken gab, Steine zu schleifen, aber zu sagen, was das hier für ein Schliff war, damit war er überfordert. Doch aus der Tatsache, dass sie überhaupt geschliffen waren, schloss er auf ihre Echtheit. Er wendete den Stein zwischen zwei Fingern hin und her und beobachtete eine Weile das Funkeln des Steines, wenn sich das Licht darin brach, und die vielen verschiedenen Blautöne und Schattierungen, die mosaikartig zu den Rändern hin dunkel ausliefen. Er sah die aufgerauten weißen Ränder auf seinen Fingerkuppen – wie Negative von polizeilich abgenommenen Fingerabdrücken. Wagner nahm die Lupe herunter und legte den Stein auf den Tisch zurück.

Die Sprecherin nebenan redete von der Schwebebahn. Wagner stand auf und stellte sich in den Durchgang zum Wohnzimmer. Er sah den Bahnsteig, rot-weiße Absperrbänder und die mit einem weißen Tuch verhüllte Leiche. Die Schwebebahn war fort. »… kann mittlerweile davon ausgegangen werden, dass der 35-Jährige hinterrücks von der Treppe aus erschossen wurde, während er in der Tür des Schwebebahnwaggons eingeklemmt war. Es wird vermutet, dass der Täter einen Schalldämpfer benutzte, da von den Zeugen niemand einen Schuss gehört hat. Fahrgäste oder Passanten, die eine verdächtige Person während der Tatzeit rund um die Station Landgericht gesehen haben, melden sich bitte …« »Quatsch!« murmelte Wagner. »Hätte ich doch sehen müssen, jemanden auf der Treppe.« »Köln. Nach neuesten Erkenntnissen …« Wagner griff zur Fernbedienung und stellte auf einen Musiksender um, dann gleich auf den nächsten, sah Schnipsel von Rap tanzenden, jungen Gestalten in sackartigen Hosen, schnitt ihnen das Bild ab, zappte zurück zu den Nachrichten und ging wieder in die Küche.

Er griff in die Herrentasche und zog ein Papier hervor. Er faltete es auseinander, sah reichlich Stempel und begann zu lesen, bis er begriff, dass es sich um ein Zertifikat handelte. Es bestätigte die Echtheit eines Rubins mit Angaben über Größe, Gewicht und Reinheit. Also wirklich echt. Wagner bestaunte die rötlich funkelnden Steine in einer der Cellophantüten und stupste sie vorsichig mit dem Zeigefinger an. Also doch einen Riecher, lächelte Wagner. Im Wohnzimmer war die Sprecherin bei Polizeipferden angelangt, die vom Land Nordrhein-Westfalen wieder eingestellt werden sollten.

Warum er das getan hatte? Wusste er‘s? Warum sollte er verdammt noch mal nicht über eine journalistische Spürnase verfügen, die ihn instinktiv hatte zugreifen lassen? Oder war es dieser verdammte Alltag mit Reportagen über Kaninchenzüchtervereine und Taubenauflasszeiten, der ihn dazu trieb, alles Mögliche anzustellen, um endlich mal an was Vernünftiges zu geraten. Hatte einfach zugelangt, sich im Gedränge, das sich um den Toten gebildet hatte, herangeschoben, sich gebückt und diese Herrentasche mit den Fingerspitzen langsam über den Boden gezogen und dabei aufgepasst, dass ihm niemand auf die Füße trat. Unmöglich, dass das jemand gesehen hatte. Die Leute waren viel zu sehr mit sich und ihrer Sensationslust beschäftigt. Sie schoben sich gegenseitig hin und her. Jeder wollte einen Blick auf den Toten werfen. Dazu versuchte die dicke Mutter, die mit ihrem Kinderwagen in der Menge verkeilt war, hinaus zu gelangen. Das Kind stand zwischen Kissen und Decken, schrie und trampelte hektisch darauf herum. Von draußen versuchte sich der Fahrer ins Abteil zu drängen. Wagner angelte sich die Tasche, schaffte es, sich im Durcheinander wieder aufzurichten, und nutzte die Lücke, als die Mutter sich endlich mit dem Kinderwagen nach draußen gequetscht hatte.

Wagner spielte mit der Visitenkarte des Toten zwischen den Fingern: Dirk Lochner. Schmuck + Design. Spontan griff er zum Handy, um anzurufen. Einfach so. Um die Stimme des Anrufbeantworters zu hören, die Stimme eines Toten. Oder die einer Frau, die soeben erfahren hat, dass ihr Mann … Er legte das Handy auf den Tisch zurück und fragte sich, was er jetzt mit seinem Abenteuer anfangen sollte.

4.

Der Anrufbeantworter auf der Fensterbank blinkte rot und zeigte eine 5 an. Nok saß auf dem Küchenstuhl und hatte einen Mörser aus Ton zwischen die Oberschenkel geklemmt. Sie stampfte den Stößel in schnellem Rhyhtmus, um grüne und rote Chilischoten zu einem Brei zu hacken. Der CD-Player hinter ihr spielte Thai-Pop mit einer hohen männlichen Stimme aus Issan, dem Armenhaus Thailands.

Nok war einer dieser typischen thailändischen Spitznamen und bedeutete Vogel. Noks Alter war schwer zu bestimmen. Asiaten sahen meist wesentlich jünger aus als sie waren. Man mochte sie auf Mitte zwanzig schätzen. Sie hatte langes schwarzes Haar. Es war zu einem Zopf zusammengebunden, der zum Rhythmus des Stößels vor ihrer Brust baumelte. Sie trug ein rosafarbenes T-Shirt und verwaschene Jeans. Sie war klein und zierlich. Ihre nackten Fußspitzen berührten gerade einmal den PVC-Boden, während sie dasaß und die Chilischoten bearbeitete.

Auf der Anrichte der Einbauküche Ahorn Nachbildung lagen drei kleine Pakete mit Reisnudeln, eine Papaya, weitere Chilischoten und auf einem Kunststoffbrett eine angeschnittene Salami, daneben ein Messer. Nok erhob sich, schaute mit einem schnellen Blick aus dem Fenster, schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Dann drückte sie die Abhörtaste des Anrufbeantworters. Der erste Anruf bestand aus dem schweren Atmen eines Übergewichtigen. Dann wurde aufgelegt. Das ging so weiter bis zur Zahl vier. Dann endlich hörte man den Bass eines älteren Mannes: »Nok. Melde dich doch. Ich weiß doch, dass du da bist. Ich will dich sehen. Hörst du?« Eine kleine Pause folgte. Man spürte, wie der Mann lauernd in die Stille hinein horchte. »Nok!« Dann legte er auf. Der fünfte Anruf bestand wieder nur aus schwerem Atmen. Nok zuckte mit den Schultern, setzte sich wieder hin und griff zum Mörser.

Sie lebte seit etwa einem Jahr allein. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, einem Alkoholiker, den sie vor zehn Jahren in Udon Thani, einer Großstadt im Nordosten Thailands kennengelernt hatte. Aber das war Vergangenheit, zumindest für sie. Nok ging hinüber zur Anrichte und riss die Plastikverpackungen mit den Glasnudeln auf. Der CD-Player wechselte zum nächsten Track, es klingelte an der Wohnungstür. Nok blieb erschrocken mitten in der Bewegung stehen und drückte dann die Stopptaste des CD-Players. Sie schlich wieder zum Fenster, lugte vorsichtig unter der Gardine her und überlegte einen Moment. Dann ging sie zur Tür.

Wagner stand im Korridor, einen grünen Rucksack über der Schulter. Er machte ein scheiß-freundliches Gesicht, so wie es Frauenversteher immer machen, wenn sie versuchen, die geschlechts-spezifische Spannung zwischen Mann und Frau zu überspielen. »Ach, Sie sind sicher Chawiwan Messerschmitt?«

»Wenn Sie das sagen«, Nok lächelte, aber das hatte nichts zu bedeuten.

»Tja, wissen Sie, also ich komme im Auftrag, oder nein, besser gesagt …« Wagner wand sich. Er wirkte, als wollte er versuchen, die Größe Noks zu erreichen, die er um anderthalb Köpfe überragte. »Also, ich bin Journalist und arbeite an einer Reportage über asiatische Einwanderer. Und da dachte ich …, also ich bin einfach das Telefonbuch durchgegangen und …«

»Und da hat es bei Messerschmitt Klick gemacht oder wie das bei Ihnen auf Deutsch heißt?«

»Nein, bei Chawiwan.«

»Sie haben das Telefonbuch nach Vornamen durchsucht?«

»Nein, es war eher Zufall«, antwortete Wagner verlegen. Schlecht vorbereitet, wie er selber fand. Er hatte sich diese Ausrede mehr oder weniger spontan zurechtgelegt. Er konnte ja schlecht sagen, dass er ihre Adresse auf einem Briefumschlag entdeckt hatte, die in der Herrentasche eines Ermordeten steckte. Überzeugt, dass er ein ausgeprägtes, journalistisches Gespür hatte, beschloss er, diesem Gefühl weiter nachzugehen. Ein reines Gefühl, weiter nichts, ohne Anhaltspunkte. Also stand er nun hier und schaute auf diese Frau herab, die aus schmalen Augenschlitzen ständig zu lächeln schien.

»Und keine Kamera?«

»Ja, nein, Zeitung, nur Zeitung. Hier, sehen Sie, mein Presseausweis.« Wagner zog eine kleine Plastikkarte aus der Brusttasche seines Hemdes.

 

»Ja, dann wollen Sie bitte eintreten.« Ihre Sprachkenntnisse schienen sehr gut zu sein. Volkshochschul-Deutsch für ausländische Mitbürger, das immer etwas steif und förmlich ausfiel. Nok ließ Wagner an sich vorbei. »Ich nehme an, Sie wollen Ihre Schuhe hier schon ausziehen?« Sie wies auf eine Ecke im Flur. »Ich bin immer froh, wenn jemand an thailändischer Kultur interessiert ist.«

Wagner schob seine klobigen Schuhe in die Flurecke und folgte Nok in die Küche. Sie trat wieder an das Fenster, lugte hinaus und zog mit einem Ruck den lindgrünen Gaze-Vorhang zu. Sie lächelte Wagner beinahe höhnisch an, der in schmutzigweißen Socken vor ihr stand, aber Wagner wusste, dass Asiaten zig verschiedene Arten zu lächeln hatten. Vermutlich kannten sie deren tiefere Bedeutung selbst nicht. Wagner blieb mitten in der Küche stehen und sog beinahe theatralisch die Luft durch die Nase ein.

»Das ist Papaya-Salat, wir nennen ihn Som Tam. Wenn Sie wollen … die Nudeln sind schnell gekocht. Dann lernen Sie auch sogleich etwas.« Nok zeigte auf einen der Küchenstühle. »Also, schreiben Sie!«

»Ja, Moment, ich weiß doch noch gar nicht, was?« Wagner stellte den Rucksack neben dem Stuhl ab.

»Aber Sie machen doch eine Reportage, was wollen Sie wissen? Haben Sie keinen Kugelschreiber?« Nok begann die Salami mit dem Messer in kleine Würfel zu schneiden. »In welcher Zeitung soll das erscheinen?«

»Wupper-Kurier. Das geht auch heute nicht mehr mit Kugelschreiber«, erklärte Wagner generös und fischte die Herrentasche aus dem Rucksack. Er legte sie auf den Küchentisch, zog den Reißverschluss auf und holte ein kleines Diktiergerät heraus. Er bemerkte nicht, dass Nok zusammengezuckt war, als sie die Herrentasche sah, einen winzigen Moment nur, dann wandte sie sie sich wieder der Anrichte zu. Wagner war wahrscheinlich nicht einmal bewusst, dass er hier die Tasche des Toten benutzte. Er hatte sie einfach kurz entschlossen als praktisch für sein Diktiergerät empfunden.

»Wenn Sie wollen, unterhalten wir uns und ich nehme das auf. Und später zu Hause werte ich das in Ruhe aus, wissen Sie, ich bin kein rasender Reporter.«

»Dann verdienen Sie sicher auch nicht viel Geld.« Nok machte eine enttäuschte Miene und Wagner war unsicher, ob das gespielt war oder nicht.

»Und Sie, leben Sie allein?« Wagner erschrak über die Direktheit seiner Frage, und legte dennoch gleich nach. »Wie kommt man denn da so zurecht. Ich meine, heutzutage, wo es kaum noch Arbeit gibt?«

»Wollen Sie das schreiben? Ich dachte, Sie wollten etwas über mein Land wissen, und wie ich hierhergekommen bin?«

Wagner fragte sich, wie er auf Edelsteine zu sprechen kommen sollte. Nok gab die Reisnudeln in ein Sieb und ließ sie abtropfen. Und während Wagner umständlich und nicht einmal geheuchelt zu erkennen gab, dass auch er ein Interesse für asiatische Küche habe, trug Nok die Teller auf und erklärte, dass das hier nur als Zwischenmahlzeit zu betrachten sei, gewöhnlich äßen Thailänder ›variantenreicher‹, diesen Ausdruck hatte sie wohl in der Volkshochschule aufgeschnappt. Sie stellte Wagner ein Glas hin und füllte es mit Mineralwasser: »Das werden Sie brauchen.«

Wagner achtete nicht darauf, er schaute sich in der Küche um und suchte weiter nach einer gescheiten Frage.

»Lassen Sie es sich schmecken.« Nok setzte sich dazu und griff zu ihrer Gabel. Sie hatte sich eine kleine Portion Reisnudeln neben den Papaya-Salat gehäuft und begann zu essen. Wagner ahmte es ihr nach. Er kaute und glaubte wieder grinsen zu müssen. Er fühlte sich Nok gegenüber unsicher und aß schnell. Nok sog hörbar Luft zwischen die Zähne ein. Wagner hielt das für eine typisch thailändische Marotte. Er wollte gerade fragen, ob es in Thailand Edelsteinfundorte gebe, als er das Brennen im Mund spürte, das sich schnell steigerte und sich über die Schleimhäute bis tief in den Rachenraum fortsetzte.

»Warum trinken Sie denn nicht?«

Wagner begann zu husten. Er setzte schnell das Glas an den Mund und trank es auf einen Zug leer. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Augen wurden feucht.

»Essen Sie Reisnudeln, das hilft.« Nok lächelte und sog wieder Luft zwischen die Zähne ein. »Sie müssen nicht glauben, dass es für uns Thailänder nicht auch scharf wäre, aber wir sind das gewohnt.«

Wagner hatte einen hochroten Kopf bekommen. Er stocherte mit der Gabel auf dem Teller herum und versuchte, die kleingehackten Chilischoten auszusortieren. Dann schob er sich mit zusammengekniffenen Augen die nächste Portion in den Mund. Nok goss Mineralwasser nach. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und trank in gierigen Zügen.

»Wenn Sie wollen, drücken Sie ruhig die Aufnahmetaste. Wir Thailänder lieben die Konversation beim Essen. Ganz anders als bei Ihnen. Da heißt es doch: Mit vollem Munde spricht man nicht. Stimmt das?«

Wagner antwortete nicht. Er fühlte sich genötigt, ihrer Anregung zu folgen schob das Diktiergerät neben ihren Teller und drückte auf die Aufnahmetaste, ohne auf irgendwelche Einstellungen zu achten. Es galt, den Schein zu wahren, und so entwickelte sich ein beiläufiges Gespräch. Wagner stellte belanglose Fragen und überlegte während der ganzen Zeit, wie er nun doch den Dreh auf Edelsteine hinkriegen sollte. So weit er sehen konnte, trug Nok keinen Schmuck. Er könnte sie direkt danach fragen, aber dann überlegte er es sich anders, weil Nok das missverstehen könnte, wenn jemand einfach in ihre Wohnung kam und sogleich nach Schmuck fragte. Stattdessen griff er ihren Vorschlag auf und erkundigte sich, wie sie nach Deutschland gekommen war.

Nok erzählte von ihrer unseligen Beziehung mit einem groben Menschen, den sie zehn Jahre lang ertragen hatte. Die Hauptschuld gab sie sich im Nachhinein selbst, wie sie freimütig erzählte. Es liege eben an der asiatischen Mentalität, die von endloser Geduld und Leidensfähigkeit geprägt sei und es ermögliche, dass man sich selbst sehr stark zurücknehme und in der Lage sei, klaglos über lange Zeiträume unliebsame Schicksale hinzunehmen. Sprach‘s und aß mit flinken Handbewegungen. Irgendwie passte das, was sie erzählte, nicht zu dem Eindruck, den sie dabei machte. Sie wirkte unbekümmert, anders als Wagner, der immer noch gegen das Brennen im Mund anzugehen und es herunter zu schlucken versuchte. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, das Diktiergerät hatte er völlig vergessen.

»Sie müssen entschuldigen«, sagte er zwischen gepressten Zähnen hervor und hielt sich nun an Reisnudeln pur. Den Papayasalat ließ er links liegen. Und dann, unvermittelt: »Aber was ich noch fragen wollte: Sie tragen überhaupt keinen Schmuck. Ist das nicht ungewöhnlich. Soweit ich weiß, legt man in Ihren Breitengraden sehr viel wert auf Gold und … nun ja.«

Nok verharrte einen Moment in ihrer Bewegung, indem sie die Gabel mit einigen Reisnudeln über dem Teller hielt und irritiert auf das Diktiergerät schaute. Dann sah sie Wagner direkt an: »Sie haben mich doch vorhin gefragt, wie ich zurechtkomme, als Alleinstehende.« Wagner nickte

»Glauben Sie, da könnte ich mir Schmuck leisten?« Wagner nickte.

»Was ist jetzt mit Ihren asiatischen Einwanderern? War das schon alles?«

»Nein, nein, es war ja nur … das sollte nur eine Art Probegespräch sein.«

»Ach so, Sie wollten mich testen, ob ich für Ihre Reportage tauge?« Wagner nickte.

»Und? Tauge ich?« Nok warf sich lächelnd in Positur, indem sie den Oberkörper vorstreckte und eine Faust in die Seite stemmte.

Wagner hielt es einfach nicht mehr aus: dieses entsetzliche Brennen, dazu das Gefühl, heute nicht in Form zu sein, sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren zu können, und diese Frau, die ihn mit ihren zig Arten des Lächelns und ihrem Selbstbewusstsein verwirrte. Und vielleicht war er ja wirklich auf der falschen Spur, zumindest was die Edelsteine und seinen Fall anging.

»Wir können ja einen Termin vereinbaren«, sagte er, »und dann machen wir ein ausführliches Interview.« Er griff eilig zum Diktiergerät, drückte die Stopptaste und verstaute es in der Herrentasche. Er schaute Nok an und glaubte, lächeln zu müssen.

Nok schaute mit ausdrucksloser Miene zurück. »Was darf ich Ihnen dann zu essen anbieten?« fragte sie höflich. »Eine milde Hühnersuppe? Mit grünen Nudeln?«

Wagner steigerte sich zunehmend in ein Gefühl der Minderwertigkeit, von dem er gleichsam wusste, dass es grundlos war, aber nicht, wie er es im Moment loswerden sollte. Er war aufgestanden, nahm den Rucksack, ging in den Flur und zog die Schuhe an. Das Ganze bekam nun fast den Charakter einer Flucht. Als er die Stufen hinab ging, stand Nok lächelnd in der Wohnungstür.

»Ich rufe Sie an«, rief Wagner zurück, bevor die Tür hinter ihm zuschnappte. Er würde wiederkommen, auf jeden Fall. Das sagte ihm sein Gespür.