Zahlen sind Waffen

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Zahlen sind Waffen
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Zahlen sind Waffen

Sibylle Berg, Dietmar Dath

Zahlen sind Waffen

Herausgegeben von Jens Balzer, Maja Beckers,

Thomas Vašek und Lars Weisbrod


Mit

Sibylle Berg (SB)

Dietmar Dath (DD)

Jens Balzer (JB)

Maja Beckers (MB)

Thomas Vašek (TV)

Lars Weisbrod (LW)

Inhalt

»Zahlen sind Waffen«

Sibylle Berg und Dietmar Dath im Gespräch mit Jens Balzer und Lars Weisbrod

»Freiheit ist etwas Gesellschaftliches«

Dietmar Dath im Gespräch mit Maja Beckers und Thomas Vašek

»Albernheit ist der Motor, der mich gut gelaunt durch mein Restleben führt«

Sibylle Berg im Gespräch mit Jens Balzer und Maja Beckers

Textnachweise

»Zahlen sind Waffen«
Sibylle Berg und Dietmar Dath im Gespräch mit Jens Balzer und Lars Weisbrod

LW: Wir wollen über die Zukunft reden.

SB: Ich kann gar nicht so gut reden.

JB: Das geht uns genauso.

SB: Ich kann eigentlich nur denken, während ich schreibe.

DD: Ich habe im letzten März aufgehört mit dem Denken, seitdem rede ich.

JB: Ich rede immer schneller, als ich denke.

SB: Bei mir ist es umgekehrt. Ich denke schnell, aber ich rede ziemlich langsam, was zu einer Rückkopplung und Implosion führt.

LW: Aber dafür bist Du ja im Gegensatz zu anderen Schriftstellern sehr telegen! Im Fernsehen funktionierst Du toll, zum Beispiel bei aspekte.

SB: Nur weil ich so brillant aussehe.

LW: Auch weil Du so einen Vibe hast. Du bist so …

SB: … so langsam.

DD: Ja, das hat ein bisschen was Cooles. Wie bei Norman Mailer. Der hat sich in den härteren Fällen hingesetzt, hat sich die Frage angehört, dann auf den Boden geguckt und gesagt: »Ja, aber was Sie hätten fragen sollen …«. In so ganz mitleidigem Ton.

LW: Wollen wir mit dem Interview anfangen?

SB: Können wir vorher noch das Licht dimmen? Oder meinetwegen auch ausmachen?

LW: Gute Frage.

DD: Also draußen hatten wir zwei Schalter entdeckt, aber keinen für die Lampe hier.

SB: Warum hängt man so eine schreckliche Lampe hier überhaupt hin? Können wir mal mit dem Eigentümer reden?

LW: Das ist nicht unser Besprechungszimmer.

SB: Wessen Besprechungszimmer ist es denn? Fangen wir doch mal so an.

DD: Das ist Licht wie bei einem Verhör.

SB: Ich würde auch gern noch einen Kaffee bekommen, bevor es losgeht.

LW: Ich habe hier noch einen unangerührten Kaffee, den ich mir auf dem Weg am Hauptbahnhof geholt habe …

SB: Nein, den finde ich einfach viel zu bitter.

LW: Bitter?

SB: Gleich implodiere ich. Komm, frag mich irgendwas.

LW: Sibylle, in Deinem Roman GRM zeichnest Du eine düstere Zukunft: Du erzählst, wie Großbritannien in einen futuristischen Überwachungsstaat umgebaut wird, ein Faschismus der Drohnen und Daten. Eine Dystopie haben das viele genannt. Kannst Du mit dem Wort etwas anfangen?

SB: Ich habe das Gefühl, mit dem Etikett wollen Menschen, die ihr Haus – oder auch ihr Inneres – kaum verlassen, die Realität von sich weglabeln. Was heißt Dystopie? Kannst Du mir das mal ordentlich wie ein Mensch erläutern?

JB: Ich versuch’s mal andersrum. Dietmar, Du schreibst selbst Science-Fiction-Romane und Du schreibst über Science-Fiction, im Herbst 2019 hast Du ein tausendseitiges Werk namens Niegeschichte veröffentlicht, eine Theorie der Science-Fiction. In der Betriebsliteratur wird Zukunft gerade vor allem als Bedrohung empfunden. Mit Betriebsliteratur meinen wir …

DD: Literaturhausliteratur.

JB: Ja.

SB: Was ist das?

JB: Sagen wir mal: das, was im Feuilleton besprochen wird.

SB: Aber im Feuilleton besprechen die doch oft keine Literatur, sondern eher Heimatkunde, oder?

LW: Heimatkunde?

DD: Na ja, so Bücher über: Wie schlimm waren die Nazis? Die Eltern sind krank, was nun?

SB: Romantische Ideen von Innerlichkeit.

DD: Diese Sachen, die im Imperfekt irgendwelche Zustände von Kleinbürgern schildern und deren Sorgen: Geht das alles in Zukunft auch noch gut? Also das, was in Deinem Buch die Professoren lesen, die am Ende nur noch auf einer Mülltonne sitzen. Diese abgetakelten Professoren, die Joyce-Übersetzungen übersetzen. Das hat mir irre gefallen. Übersetzungen übersetzen, das ist überhaupt das Geilste.

SB: Ja, das müsste viel mehr gemacht werden.

LW: In diese Welt der Literaturhausliteratur scheint uns neuerdings etwas einzubrechen, was man vielleicht den Hang zur Dystopie nennen könnte, also zur Beschäftigung mit der Zukunft unter dem Zeichen der Apokalypse. Warum ist das so, warum gibt es gerade so viele Dystopien?

SB: Können wir bitte wirklich erst mal den Begriff klären? Ich habe das Gefühl, der wird pauschal überall draufgeklatscht, wo es kein Happy End gibt. Was heißt Dystopie?

DD: Ich kann’s auch nicht leiden, wenn immer von Dystopien geredet wird. Das liegt ja zum einen daran, dass der Literaturliteraturbetrieb und das Mainstream-Feuilleton nie ein Interesse für Science-Fiction besessen haben; was Zukunftsliteratur eigentlich bedeutet und welche Rolle die Zukunft darin spielt, davon hat es in diesen Kreisen nie einen Begriff gegeben, man hat das alles immer möglichst weit von sich ferngehalten. Der einzige Autor, der da akzeptiert wurde, war George Orwell. Den hat man während des Kalten Krieges irgendwann als Klassiker zugelassen, weil er in 1984 so schön erklärte, warum das, was die Russen machen, eigentlich dasselbe ist wie bei Hitler. Das war so schön handlich, und darum ist da dieses Dystopie-Backförmchen entstanden.

JB: In der Dystopie kommt die Zukunft also nur als etwas vor, das man verhindern muss.

DD: Ja, und das ist der andere Grund für die Beliebtheit dieses Begriffs. Es gibt diese Neigung bei allem, das nicht diese Befindlichkeitsund Sozialkunde-Literatur ist, unbedingt einen Kunstzweck zu erraten: Was wollen die Bücher? Die Bücher wollen warnen, die Bücher wollen mahnen, die Bücher wollen aufbauen, irgendwie so was. Und das reduziert alles auf Kinderliteratur. Da mag es ja stimmen, dass die Autoren möchten, dass Kinder sich besser verstehen und sich nicht immer hauen, wenn zu wenig Kuchen da ist. Aber bei Erwachsenenliteratur? Dazu kommt: Science-Fiction oder Dystopie definiert das Literaturhaus nach Kriterien wie »da gibt’s Überwachung« oder »da gibt’s Roboter«. Nach Requisiten, nach Motiven, nach Apparaten. Aber niemand würde sagen: Der historische Roman ist Ritter und Nazis. Niemand würde sagen: Der psychologische Roman ist, wenn eine Frau weint –

LW: Aber –

SB: Nicht ihn unterbrechen, jetzt rollt er gerade so schön los! Er ist richtig gut erregt! Mich stört das nämlich auch so wahnsinnig. Diese Einordnungen und dieses Gerede von Dystopien. Ich denke mir immer: Kinder, verlasst Ihr euren Arbeitsplatz nicht? Es geht doch nur darum, sich für die Welt zu interessieren. Und zwar die Welt außerhalb von uns selbst. Und die ist –

LW: Schlimm?

SB: Ja.

JB: Dietmar, warum gibt es Dystopien?

DD: Man kann auf zwei Arten von einer Welt erzählen, die die Leser nicht erleben, nicht kennen. Die eine Art: Du erklärst die Welt einfach. Dann hast du info dumps, mal so zwei Absätze lang nur irgendwelche Namen nennen und beschreiben, wie irgendwas funktioniert. Da muss man dann aber so cool sein wie Sibylle Berg in ihrem Buch, damit das nicht nach Volkshochschule klingt. Und die zweite Möglichkeit, wie ich über etwas reden kann, das die Leute nicht kennen: Ich mach es kaputt. Und habe deswegen einen Grund, zu erklären, wie es funktioniert. Oder warum es nicht mehr funktioniert.

JB: Das ist dann die richtig verstandene Dystopie?

DD: Ja. Die Kritikerinnen und Kritiker verstehen etwas falsch, wenn sie sagen: In der Dystopie wird gewarnt und gedroht und gemahnt. Es geht da um die pure Freude daran, zu sagen: Ein Teil von dem, was ich hier erfinde, ist Scheiße und kaputt!

SB: Ich glaube, mein Buch ist in der Science-Fiction-Sparte ganz falsch. Teile spielen ja in der Gegenwart oder sogar in der nahen Vergangenheit, manches ist sogar schon wieder überholt. Beim Schreiben habe ich viel weggelassen, was vermutlich beim Erscheinen schon wieder überholt gewesen wäre.

DD: Mir gefällt das gerade. In Deinem Buch steht der geilste Satz überhaupt, ich hätte mir echt die letzten vierhundert Seiten meines Buches sparen können, wenn ich den schon gekannt hätte: »Nach dem Brexit war ein wenig Ruhe gewesen.« Das ist super wegen der Zeit, die hier durcheinandergebracht wird. Das liest jemand zu einem Zeitpunkt, als noch gar kein Brexit war und als noch völlig unklar war, ob einer kommen würde. Es ist eine Erinnerung an etwas, das vielleicht gewesen hätte sein können, aber nicht gewesen ist. Das ist Science-Fiction: Diese Kompliziertheit der Zeitverhältnisse, die eben nicht so sind, wie irgendein lineares Arschloch das gerne hätte …

 

LW: Sibylle, wenn Du keine Dystopie schreiben wolltest, was hat Dich überhaupt daran gereizt, Dir den Verfall der westlichen Welt auszumalen? Ist das Angstlust?

SB: Nein, ich habe nicht viel Angst. Aber Freude daran, zu zeigen, was sonst zugedeckt wird mit romantischem Scheißdreck. Das Verdeckte macht mir Angst! Mich schaudern zum Beispiel Männermassen in Anzügen. Da denke ich immer, was versteckt ihr unter dieser Kleidung und hinter diesen Gesichtern, die alle gleich aussehen? Und ich entspanne mich erst, wenn jemand das anspricht und zeigt: Wir sind in Wirklichkeit fast alle gierige, eklige Viecher, die zusammengehalten werden von einer Moral, auf die wir uns geeinigt haben, und von Gesetzen. Aber wie schnell all das wegbricht, das sehen wir jetzt. Deswegen machen mich auch viele Bücher so wütend, das ist alles Verdeckungsliteratur, was so besprochen und gefeiert wird. Alles wird verdeckt hinter Schwurbelsätzen. Könnt ihr mir folgen?

DD: Als Marxist würde ich Dir an dieser Stelle jetzt widersprechen und sagen: Die Leute sind gar nicht tief drin unten irgendwelche Bestien und schlimm und so – das waren immer die Stellen in Deinem Buch, wo ich dachte: Ich weiß nicht genau. Ich würde eher sagen: Niemand ist viel schlimmer, als sie oder er glaubt, sein zu müssen – und da liegt das Problem. Was Du über Verdeckungsliteratur sagst, kann ich aber gut nachvollziehen: In der Literaturhausliteratur darf man über all diese Sachen nur reden, wenn man dann gleich in die Dritte Welt geht oder ins Problemviertel, wo es ganz schlimm ist, aber alle sind letztlich genauso versöhnungsbedürftige Kleinbürgerherzen wie wir, bloß in dreckig. Da bricht für mich der Unterschied zwischen Tröstung und Trost auf. Tröstung ist, wenn irgendein Nikolaus kommt und sagt: Das ist ja alles nicht so schlimm. Trost ist: Ja, so schlimm ist es. Dann weiß ich wenigstens: Endlich wird mal nicht gelogen in diesem Zimmer für fünf Minuten.

SB: Ja, vielleicht geht’s um das.

DD: Harlan Ellison hat mal geschrieben –

SB: Wie merkst Du Dir das denn alles? Wer da irgendwas geschrieben hat …

DD: It’s my life, it’s all I am.

SB: Oh my God.

DD: Jedenfalls hat der Science-Fiction-Autor Harlan Ellison mal gesagt, diese Fiktionen, wo vor Schreck die Leute weglaufen, der verrückte Poe unter Drogen, der Baudelaire: These are the only moments of truth in a life of endless lies.

SB: Das ist wunderbar, jetzt weiß ich, warum mir das so gefällt.

LW: Dietmar, Du schreibst in Deinem Buch über Science-Fiction, die wisse, »was ich als kleiner Junge lernte, sobald mir auffiel: Meine Ängste vor dieser oder jener Zukunft sind zumindest insofern nicht ernst zu nehmen, als es zwar manchmal schlimm kommt, manchmal schlimmer, aber nie wie ausgemalt.« Schreibt und liest man Dystopien, weil man hofft, dass es dann so nicht kommt?

DD: Das war noch die Kinderidee, ich habe inzwischen eine pubertäre, die ist ein bisschen weiter. Es geht nicht darum, dass das, was ich in der Kunst machen kann, nicht passieren wird, sondern dass ich weiß: Immerhin kann ich noch Kunst machen. Ich bin nicht im Luftschutzbunker, solange ich einen Roman über einen Luftschutzbunker schreibe. Selbst wenn ich drin sitze, im Schreiben kann ich mir was dazudenken und was wegdenken. Es ist Freiheit.

SB: Ich freue mich auch täglich, wie wunderbar es ist, dass ich noch irgendwas machen kann und nicht im Keller eingesperrt bin. Du hast in Deiner Jugend Science-Fiction gelesen, ich in meiner Kindheit Edgar Allan Poe. Ich wollte immer wissen, was kommt. Was bei uns allen kommt, ist der Tod. Und der Weg dahin kann unterschiedlich unangenehm sein. Eine demütigende Überforderung, dieses Wissen um das sichere Ende – auch bei GRM ging es mir darum: eine Einordnung der Überforderungen, die wir gerade erleben. Die digitale Revolution mit der Möglichkeit unbegrenzter Überwachung, die Naturkatastrophen, die schwindenden Ressourcen, der blühende Faschismus. Gelingt es mir, zwischen diesen Punkten eine Verbindung herzustellen, auch wenn sie eventuell falsch ist?

LW: Und gibt es so etwas wie ein revolutionäres Subjekt? Das ist auch eine Frage, die Du in GRM stellst, und die Antwort fällt pessimistisch aus. Es gibt eine Hackergruppe, die das Ausmaß der Datenkontrolle und Überwachung anschaulich macht, indem sie alles, was sich im Netz über die Menschen herausfinden lässt, auf Bildschirme in deren Nachbarschaft projizieren lässt. Die Rebellen glauben, dass es jetzt endlich zu einem Aufstand kommt gegen die digitale Komplettherrschaft. Aber das Gegenteil ist der Fall, die Leute sind begeistert davon, dass sie über ihre Nachbarn jetzt alles wissen. Dass es überhaupt keine Intimität mehr gibt. Ist das nicht der äußerste Grad der Dystopie? Dass es niemanden mehr gibt, der gegen die schlechten Verhältnisse überhaupt noch aufbegehren will?

SB: Das ist der Moment in dem Buch, in dem ich zu zeigen versuche, dass nun die Diktatur eingesetzt hat. Die Überwachung wird überall ausgebaut – einfach, weil es geht. Weil die Künstliche Intelligenz die Möglichkeit bietet, die Kontrolle flächendeckend und total werden zu lassen. Jeder Staat hat jetzt so viele Möglichkeiten wie nie zuvor, Informationen über den Einzelnen zu sammeln, das ist ein Festessen, warum sollte es irgendeinen Staat geben, der das ausschlägt? Die nächste Stufe ist dann natürlich, aus der Kontrolle in die Manipulation überzuwechseln; wir wissen ja, dass das schon passiert, mit der Manipulation von Wahlen zum Beispiel. Stufe drei ist dann, durch Kontrolle und Manipulation jede Gegenwehr gegen das System zu verhindern. Du weißt im Vorhinein schon: Da gibt es Gefährder, die planen eine Demonstration – und du kannst das ganz einfach verhindern, weil du ihre Kommunikation kontrollierst und weil du genug Fake News streuen kannst, um den Widerstand im Voraus zu diskreditieren und zu zermürben. Das ist natürlich ein feuchter Traum von allen Staaten, oder? Aber ich bin optimistisch genug, um zu denken: Irgendeinen Widerstand wird es immer geben, es wird immer Leute geben, die sich zur Wehr setzen. Wenn sie Pech haben, landen sie dann im Lager oder werden erschossen. Das ist vielleicht ein Thema für den nächsten Roman: ob angesichts des Gegners, mit dem wir es jetzt zu tun haben, überhaupt noch irgendeine zivile Gegenwehr möglich ist.

DD: Dazu passt die alte Scherzfrage: Was ist der Unterschied zwischen einem Pessimisten, einem Optimisten und einem Ingenieur? Der Pessimist sagt: Das Glas ist halb leer. Der Optimist sagt: Das Glas ist halb voll. Der Ingenieur sagt: Das Glas ist genau doppelt so groß, wie es sein müsste, um die komplette Flüssigkeit aufnehmen zu können. Ich mag diesen Ingenieursblick. Und ich glaube, dass er auch eine ästhetische Qualität hat; letztlich ist gerade das die ästhetische Qualität der Science-Fiction.

JB: Was sagt der Ingenieur zur Frage nach dem revolutionären Subjekt?

DD: Louis Pasteur sagt: Das Glück ist mit denen, die ein bisschen vorbereitet sind. Das heißt: Selbst wenn ich nicht optimistisch genug bin, um zu glauben, dass die Verhältnisse wirklich auf einen revolutionären Umschlag zustreben – wie blöd wäre es, wenn es doch passiert, und wir haben dann überhaupt keinen Plan und noch gar nicht darüber geredet! Das sehe ich als meinen Job, da ich so privilegiert bin, nicht beim REWE an der Kasse zu sitzen und den ganzen Tag bipbipbip machen zu müssen – mein Job ist, mit dafür zu sorgen, dass dieser vorbereitete Geist nicht nur meiner ist, sondern der von vielen Leuten. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass immer, wenn sich irgendwo für eine Form des Widerstands eine Tür schließt – dass man dann eine Tür finden kann, die sich gerade wieder öffnet. Zum Beispiel kenne ich einen Haufen Leute aus meiner Welt, die sich von der Hoffnung auf die arbeitenden Leute verabschiedet haben. Die sagen: Die Streikwaffe als Mittel der revolutionären Praxis ist stumpf geworden; denn wenn die arbeitenden Leute streiken, wird die Produktion nach Tschechien verlagert oder nach Taiwan. Okay, aber was brauchen die Kapitalisten dafür, damit dieser Trick funktioniert? Ein Transportwesen. Na, dann müssen wir halt das Transportwesen bestreiken. Wenn die im Südsudan billigen Reis aus China importieren, dann müssen wir halt die lokalen Lastwagenfahrer agitieren – die sehen ja auch, wie ihre Gegend dadurch verkommt, dass die ihren Reis nicht selber anbauen. Und die finden das ja vielleicht sinnvoller, sich dagegen zu wehren, als dass sie sich alle halbe Jahr gegenseitig überfallen für ihre Viehweiden und aufeinander schießen. Jede Beschreibung von einer Scheißsituation enthält auch die Möglichkeit zu ihrer Veränderung. Wie heißt es bei Leonard Cohen? »There is a crack in everything / That’s how the light gets in.« But to find a crack you have to talk about the everything.

JB: Das heißt doch aber: Keine revolutionäre Praxis ohne eine Veränderung des menschlichen Bewusstseins, wie es Marx schon in den Thesen über Feuerbach formuliert. Wenn man beschreiben will, wie Menschen zu widerständigen Subjekten werden – muss man dann nicht auch ihre psychologische Entwicklung beschreiben? Und sind wir dann nicht wieder bei jener Befindlichkeitsliteratur, die Du vorhin als das Gegenteil Deiner eigenen Position aufgebaut hast?

LW: Das ist ja, was die Literaturkritik der Science-Fiction oft vorwirft: einen Mangel an Psychologie. Dass die Figuren nicht glaubwürdig sind und nicht stimmig erzählt.

DD: Die Antwort auf diesen Unsinn steht bei Joanna Russ, der besten Stilistin überhaupt in der Geschichte der Science-Fiction. In ihrem Roman Picnic on Paradise, 1968 erschienen, wandern Touristen auf einem fremden Planeten durch ein Bürgerkriegsgebiet. Die Touristen sind alle komplette Idioten, sie bestehen förmlich nur aus ihrem Psychologiegeschwätz. »Meine Tochter ist unsicher, denn sie weiß nicht, ob ich sie liebe«, blablabla. Außer einer, ein Jugendlicher, der auch eine Figur aus GRM sein könnte, er nennt sich »Maschine«. Weil er mit all dem nichts zu tun haben will: Ich bin eine Maschine, lass mich in Ruhe.

SB: Das ist mein Satz! Ich sage immer: Ich bin eigentlich ein Computer.

DD: Und dieser Jugendliche sagt irgendwann: Ich hab’s jetzt, ich glaube, die anderen reden deshalb die ganze Zeit von Innenleben, weil sie ahnen, dass sie gar keins haben. Und das wäre die Antwort der Science-Fiction auf diesen Vorwurf.

JB: Sibylle, haben Deine Figuren ein Innenleben?

SB: Keine Ahnung.

JB: Also nein?

SB: Ich verstehe die Frage nicht richtig – was ist Innenleben? Wir leben halt so. Am Ende hocken wir allein mit uns da und fragen uns nicht nach unserer Kindheit, sondern wir sind einsam oder / und haben Angst vor dem Tod oder haben Angst vor diesem oder vor jenem. Das ist kein Innenleben, oder?

JB: Aber was ist an einer Geschichte interessant? Ist der Weg interessant, den die Figur nimmt? Oder interessieren mich eher Konstellationen von Figuren und Situationen, aus denen heraus sich etwas entwickelt – wo die offizielle Literaturkritik dann sagen würde: Ach, das ist ja nur Thesenliteratur! Nehmen wir mal zum Beispiel Isaac Asimov, einen der größten SF-Autoren. Der war ja nun wirklich nicht der geilste Stilist. Aber wie er seine – meinetwegen beschränkten – literarischen Mittel benutzt hat, um die Robotergesetze auseinander zu klamüsern …

DD: Ja, das ist toll, aber man muss nicht bei dieser Stufe stehen bleiben. Ich mag Leute wie Asimov auch, aber es ist mir lieber, man kommt noch einen Schritt weiter. So wie Joanna Russ. Denn der Schritt, den sie weitergeht, das ist ja fast ein … So, jetzt kommt das größte Scheißwort hier am Tisch … ein philosophischer.

SB: Eijeijei.

DD: Entschuldigung. Und zwar ist das der Schritt, der sagt: Diese Idee von einem Innenleben – die ist einfach falsch. Diese Idee von einem Innenleben als dem, was mir niemand nehmen kann, was niemand infrage stellen kann, was nur ich habe und was ich gewiss weiß. Also im Sinne von Descartes: »Ich denke, also bin ich«. Ich weiß sonst nichts, aber dass ich gerade was denke, das weiß ich.

 

JB: Das ist natürlich Quatsch …

DD: Ja, es ist Quatsch. Nur weiß das ein Großteil der Schmockliteratur überhaupt nicht. Obwohl das inzwischen tatsächlich die Mehrheit der Menschheit langsam rausgekriegt hat. Ich find’s immer scheiße, wenn die Künstler weniger wissen als jeder Depp. Der Punkt ist, wenn du zum Beispiel denkst: »Ich bin glücklich, denn ich beherrsche die Welt« – dann irrst du dich eben doch über deinen inneren Zustand, denn es gibt gar keine inneren Zustände, die nicht zugleich von etwas Äußerem handeln. Also: Ich bin glücklich, weil ich verliebt bin – ich bin nicht einfach nur so glücklich. Niemand würde sagen: Ich habe ein Gefühl, ich weiß aber nicht, wovon oder worüber. Du hast automatisch schon eine Beziehung zum Draußen. Wie beschreibt man diese Beziehung? Nehmen wir mal Cixin Liu, der beschreibt zum Beispiel im ersten Band seiner Trisolaris-Trilogie – Die drei Sonnen – die Schrecken der chinesischen Kulturrevolution an verschiedenen Orten gleichzeitig, und er hat ein Bild dafür: Er sagt, das ist wie ein Parallelprozessor. Und dann sagt mir ein Kollege von der Zeitung: Ja, ja, das Buch ist toll, aber irgendwie so schlecht geschrieben, der emotionale Rumms fehlt. Für mich hat das aber einen enormen emotionalen Rumms, wenn ich denke: Oh Gott, ich bin in einem Parallelprozessor. Weil mir die Metapher was gibt, weil ich mich für dieses Zeug interessiere. Und wir wären eine Ecke weiter, wenn die Literaturkritik ehrlich sagen würde: Mich interessiert das einfach nicht.

LW: Cixin Liu ist ein gutes Stichwort. Du interessierst Dich für die neue chinesische Science-Fiction, und beim Lesen Deiner Artikel habe ich schon mehrfach den Eindruck gehabt, dass Du tatsächlich auf China HOFFST. Als einen globalen Player, der langfristig etwas zum Guten bewegt. Das ist ja eher eine Minderheitenmeinung. China steht wie kein anderes Land als Symbol für das Grauen eines neuen Überwachungsregimes. Setzt Du tatsächlich auf diesen Staat?

DD: Auf diese Frage gibt es zwei Antworten. Die eine davon hat mit meiner Haltung zur klassischen West-Linken zu tun und wiederum mit deren Haltung zur Technik. Die West-Linke hat den technischen Fortschritt ja immer abgelehnt, weil sie darin nur Bedrohung erkennen konnte und die kommende Apokalypse. Im Sinne von: Die blöden Weißkittel haben unsere Welt zerstört, jetzt haben wir die Atombombe und die Überwachung. Das war in den westlichen Staaten auch eine Ausrede für Leute, die jeden Scheiß glauben, der ihnen gesagt wird; die sich gegenseitig verscherbeln, weil ihnen das gesagt wird; und die Idioten wählen, obwohl sie sogar tatsächlich wählen dürfen. Technikskepsis ist immer die billigste Ideologie, um sich im Status quo einrichten zu können. Und jetzt gucken wir mal über den westlichen Tellerrand, und dann sehen wir beschissen arme Länder, in denen aber nun der Versuch unternommen wird, eine völlig neue Gesellschaft zu errichten. Die müssen zwei Sachen machen, die müssen sich eben mit dem Bau dieser Gesellschaft befassen; und die müssen in technologischer Hinsicht schnell aufholen, weil sie sonst völlig im Arsch sind. In China gibt es viele Menschen, die genau darüber nachdenken. Wir nehmen das immer nur als Monolithen wahr. Aber das ist eine wahnsinnig komplizierte Gesellschaft. Wenn man sagt, ich bin »für China« oder ich bin »gegen China«, dann ist das so, als ob man sagt: Gestern war es in Europa 16 Grad warm. Es gibt da so viele Strömungen, Leute, Personen, auf die ich nicht setze in einem starken politischen Sinne. Aber ich würde sagen: Deren Debatten sind so viel interessanter und weiter vorne als das, was mir Robert Habeck gerade erzählt.

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