Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Herausforderungen der Wirtschaftspolitik
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Dirk Linowski

Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

UVK Verlag · München

Umschlagmotiv: © iStockphoto tobiasjo


Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Linowski studierte an der Universität Rostock und an der Université Paris I, Panthéon Sorbonne, Mathematik und Mathematische Statistik. Im Jahre 1999 promovierte er an der Universität Rostock in Betriebswirtschaftslehre. Nach einer Assistenzprofessur an der Universiteit Nijmegen in den Niederlanden und einem einjährigen Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Tongji Universität Shanghai und der Shanghai Normal University (VR China) wurde er im Jahre 2004 auf den Lehrstuhl für Asset Management mit ab 2006 verbundenem Direktorat des Instituts for International Business Studies an der wissenschaftlichen Steinbeis-Hochschule Berlin berufen, das er bis 2021 innehatte. Prof. Linowski war von 2005 bis 2009 MBA-Direktor eines gemeinsamen Programms der Universität Lettlands, deren Ehrendoktortitel er trägt, und der Steinbeis-Hochschule Berlin; er ist – neben zahlreichen Lehr- und Forschungsaufenthalten in den Niederlanden, Frankreich, Neuseeland, den USA, Namibia, Tunesien, Kirgisien und Äthiopien – seit 2004 „Distinguished Guest Professor“ an der Shanghai Normal University (VR China) und seit 2008 dauerhafter Gastprofessor an der Riga Graduate School of Law, Lettland.

2., vollständig überarbeitete Auflage 2022

1. Auflage 2021

DOI: https://doi.org/10.36198/9783838557915

© UVK Verlag 2022

— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

utb-Nr. 5432

ISBN 978-3-8252-5791-0 (Print)

ISBN 978-3-8463-5791-0 (ePub)

Inhalt

  Vorwort zur 2. vollständig überarbeiteten Auflage

  Vorwort und Danksagung

  Einleitung

  Teil I: Demografie, Bildung und Arbeit

 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung1.2 Werte und Werteorientierung1.3 Positive vs. Normative TheorieExkurs: Ökonomie als Wissenschaft

 2 Demografie und Demografisierung2.1 Fertilität2.2 Altersverteilungen2.3 Bevölkerungsszenarien2.4 Migration2.4.1 Zu- und Abwanderung2.4.2 Alterung und BinnenmigrationExkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik

 3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung3.1 Kranken- und Pflegeversicherung3.1.1 Zur Entwicklung der Kosten im deutschen Gesundheitssystem3.1.2 Einige Betrachtungen zum Gut Gesundheit und zu dessen Regulierung3.2 RentenversicherungExkurs: Das Bruttoinlandsprodukt

  4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 4.1 Bildung im Lauf der Jahrzehnte: Der Weg zu Massenabitur und Massenuniversitäten 4.2 Entwertung der Nichthochschulbildung 4.3 Bildungspolitik und Ideologie 4.4 Rahmenbedingungen für Bildung, Bildungseinrichtungen und Bildungsteilhabe 4.5 (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Arbeit Exkurs: Zur gesellschaftlichen Diskursfähigkeit

  5 Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab 5.1 Exportweltmeister? 5.2 Die deutsche Volkswirtschaft in der EU Exkurs: Kunst, Wissenschaft und Politik

  Zwischenresumé Teil 1

  Im Text direkt zitierte Literatur

  Teil II: Staat und technologischer Wandel

  Einführung

 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte6.1 Alle Jahre wieder6.2 Der „Giftcocktail“6.2.1 Währungsmärkte6.2.2 Zinspolitik von EZB und Fed6.2.3 Auswirkungen der Niedrigzinspolitik6.2.4 Target2-SaldenExkurs: Von der Macht der Ideen (und den Grenzen des Verständnisses)

  7 Zur Rolle des Staates Exkurs: Zu Kompromissen verdammt

  8 Wettbewerb und Regulierung Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung

  9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 9.1 Grundprinzipien der Umweltökonomie 9.2 Muscheln in Helmut Schmidts Garten Exkurs: Nicholas Georgescu-Roegen und die vergessenen Denker

  10 Digitalisierung und Industrie 4.0 10.1 Innovationen 10.2 Historischer Abriss zur Digitalisierung 10.3 Bewertungen und (Markt-)Macht 10.4 Datenökonomie 10.5 Wirtschaftliche und erste politische Konsequenzen 10.6 Big Data 10.7 Medien 10.8 Krypto-Geld 10.9 Politische Dimensionen Exkurs: Die Wirtschaftsprüfung in der Wissensgesellschaft

  Zwischenresumé und -plädoyer

  Im Text direkt zitierte Literatur

  Teil III: Deutschland in der Welt

  Einführung

 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde11.1 Klassifizierungsansätze von Ländern gemäß ihres wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes11.2 Unternehmen vs. Staaten11.3 Zum Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion11.4 Die BRIC(S)-Märkte11.4.1 Indien11.4.2 Südamerika und BrasilienExkurs: Wallersteins Modern World System-Theorie

 

  12 Russland 12.1 Zur geopolitischen Situation im Jahr 2020 12.2 Investitionen in Russland 12.3 Russland und die EU Exkurs: Renten, Rentiers und Rentenökonomien

 13 Der Wiederaufstieg Chinas13.1 Geistige Wurzeln und Verbindungen zur Gegenwart13.2 Mao Zedong, Deng Xiaoping und Konfuzius13.3 Der wirtschaftliche Reformprozess in China seit 197813.4 Demografie Chinas13.5 Die Internationalisierung des chinesischen „Modells“13.5.1 Handelsbeziehungen und -politik13.5.2 Kulturexport13.6 Von der Reformpolitik in die Gegenwart13.7 Chinas Status im Jahre 2021Exkurs: Die BRI in Afrika

  14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA Exkurs: Schulden Aufgaben zur Selbstüberprüfung

 15 Die unterste Milliarde15.1 Die wirtschaftliche Marginalisierung der ärmsten Länder15.1.1 Warenverkehr15.1.2 Kapitalströme15.1.3 MigrationExkurs: Rassismus vs. Sklaverei

  Schlussbetrachtung

  Direkt im Text zitierte Literatur

  Anhang

  A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung

  B. Abkürzungsverzeichnis

  C. Glossar

  D. Personenregister

  E. Literaturverzeichnis

  F. Sachwortverzeichnis

Vorwort zur 2. vollständig überarbeiteten Auflage

Das vor Ihnen liegende Buch „Herausforderungen der Wirtschaftspolitik“ unterlag in seiner Konzeption dem Spannungsfeld, einerseits nicht zu sehr der Tagespolitik verhaftet, andererseits aber nicht von einer Abstraktionshöhe verfasst zu sein, die dem Leserpublikum zu weit entfernt ist. Zwischen der ersten und der zweiten Auflage liegt weniger als ein Jahr. Die Frage ist somit, was neben der Aktualisierung einzelner Daten sowie der Eliminierung einiger weniger Tippfehler und sprachlicher Ungenauigkeiten eine derart frühe Überarbeitung rechtfertigt? Hauptgrund dafür sind Gespräche mit Lesern und deren Fragen und Anregungen zum Buch!

Die Schwerpunkte der wirtschaftspolitischen Argumentationen in diesem Buch basieren auf Ausführungen zu Demografie und Technologie. Im Unterschied zu unserer Wahrnehmung gibt es zu diesen beiden „Metaebenen“ in der westlichen Welt und in ChinaChina in den letzten ca. 20–25 Jahren qualitativ kaum Neues zu berichten. Längere Entwicklungen sind im Verlauf der Corona-Krise dafür sichtbarer geworden; die Welt hat sich, frei nach Ernst Bloch, zur Kenntlichkeit verändert. Die Geburtenraten stabilisieren sich in Europa auf dem nicht bestandserhaltenden Niveau um die 1,5 Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter und das Lebensalter steigt quantitativ derzeit nicht mehr signifikant an. Die Bevölkerung unseres Nachbarkontinentes Afrika wächst zwar inzwischen mit geringerer Stärke, dafür aber von höherem Niveau, um ca. 40 Millionen Menschen pro Jahr. Der durch Versteppung als Teil einer globalen Umweltkrise aufgebaute Migrationsdruck aus Gesamtafrika und dem Nahen Osten wird a priori die folgenden Jahrzehnte bestehen bleiben.

Ob wir am Beginn einer Revolution der Biotechnologie stehen, wird sich bereits in naher Zukunft erweisen. Das letzte echte – disruptive – technologische Ereignis war die Einführung des Internets und der damit verbundenen Technologien wie Mobilfunk, GPS sowie alles, was mit dem Schlagwort Künstliche Intelligenz (KI) in Verbindung gebracht wird. Neue iPhone-Generationen oder Game-Stations, ebenso der Ausblick auf Weltraumtourismus, schüren somit offensichtlich nur die Illusion von qualitativer Innovation.

Ebenso verhält es sich in der internationalen Politik: Das Scheitern der westlichen Afghanistanpolitik bzw. der Rückgang der Bedeutung des Westens und der Strahlkraft seines „Modells“ im Rest der Welt fand in derselben Zeitspanne von ca. 20 Jahren parallel statt. Zugenommen hat allenfalls die Diskrepanz zwischen westlichem Gestaltenwollen und Gestaltenkönnen. Dies betrifft nicht nur die Außenpolitik, sondern ebenso strukturelle Probleme in Deutschland, die wir bisher nicht aufzulösen in der Lage sind. Für alle sichtbar wird dies bei dem noch andauernden Versuch der Bewältigung der Corona-Krise durch ein halbprivatisiertes Gesundheitswesen.

Unsere eingeschränkte Fähigkeit, Probleme zu benennen und zu bewältigen, hat auf eine sehr grundsätzliche Weise mit der Entwicklung der westlichen Demokratien hin zu verrechtlichten Expertokratien und damit der Reduktion bzw. Eliminierung von persönlicher Verantwortung zu tun. Eindrucksvoll studieren kann man diesen Trend am Gemeinsamen Bundesauschuss, dem Beschlussgremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen. Dieser bestimmt durch Richtlinien, welche Leistungen die Versicherten empfangen, er nimmt also wesentlichen Einfluss auf die Art, wie wir in der Gesellschaft miteinander leben werden, ist aber in keiner Form demokratisch legitimiert. In diesem Zusammenhang wurde Abschnitt 3.1 um umfangreiche Betrachtungen zur Entwicklung der Kosten im deutschen Gesundheitswesen erweitert.

Dass der Westen nach innen wie nach außen moralisch größer sein möchte als er ist, haben wir bei der nicht erfolgten Evakuierung unserer „Helfer“ in Afghanistan erleben müssen. Hier haben sich, weil das Versagen so offensichtlich und die Gesichter der Zurückgelassenen so präsent, meiner Überzeugung nach viele Menschen in Deutschland wie in der gesamten westlichen Welt wirklich für uns geschämt! Die Wirtschaft und speziell die Aktienmärkte blieben davon unbeeindruckt. Dass der Deutsche Aktienindex ab September 2021 40 Komponenten anstatt der gewohnten 30 Werte beinhaltet, sollte man wissen, ist aber allenfalls eine Randnotiz. Auch hier gilt also Im Westen nichts Neues.

Unser systemischer Rivale ChinaChina verfolgt weiterhin alle potenziell separatistischen Tendenzen – Stichwort Uiguren in Xinjiang – mit Härte; die (technologisch mögliche) Überwachung nimmt in China zu und die Hightech-Unternehmen werden vom Staat bzw. synonym von der Kommunistischen Partei Chinas an die Kandarre genommen. All dies ist nur für diejenigen erstaunlich, die das Primat der Politik als wesentlichen Teil der mehr als 2500 Jahre bestehenden chinesischen Staatskunst nicht verstanden haben. Wenig Beachtung gefunden hat im Westen indes, dass dieselbe Kommunistische Partei im vergangenen Jahr wirksam eine „Mietpreisbremse“ eingeführt hat, dass sie Druck von Schulkindern nimmt, indem sie die Anzahl der Prüfungen reduziert, dass sie den Privatunterricht, den sich nur der wohlhabendere Teil der chinesischen Eltern leisten konnte, massiv beschnitten hat und erfolgreich gegen die Spielsucht in der jüngeren Generation vorgeht. Auch dies ist, wenn man die Grundlinien politischen Denkens in China verstanden hat, keinesfalls überraschend, sondern Teil eines Ganzen.

Neu ist ebenfalls nicht, dass die USA den Rest der Welt und insbesondere Europa nicht wirklich brauchen, wobei sie dies seit mehr als einem Jahrzehnt offen kommunizieren und in die Tat umsetzen. Die Gründung (AUKUS) oder Wiederbelebung bereits existierender Allianzen (QUAD) im Indo-Pazifik im Sommer 2020 als Gegengewichte zu China unter „Ausbootung“ Frankreichs und der EU als pazifische Mächte war unmissverständlich.

Wir sind, was die Coronapandemie betrifft, immer noch mittendrin; Deutschland befand sich bei Endredaktion dieses Textes in der 4. Corona-Welle. Ich habe in vielen Fällen davon Abstand genommen, das Jahr 2020 betreffende statistische Daten zu verwenden, weil diese bei Endredaktion dieses Textes zumeist noch vorläufiger Natur und zudem durch systematische Verzerrungen charakterisiert waren und eine sinnvolle Einordnung damit kaum möglich ist. Alle Internetquellen, auf die in diesem Buch verwiesen wird, wurden letztmalig im Dezember 2021 überprüft.

Fast zwei Jahre lang konnten die Menschen kaum zwischen Europa, China und den USA hin- und herreisen, waren und sind persönliche Kontakte stark eingeschränkt. Dies wird notwendigerweise geopolitische wie wirtschaftliche Konsequenzen haben; für Europa hoffentlich in dem Sinne, mehr auf eine europäische Wirtschafts- und Sicherheitspolitik hinzuarbeiten, die nicht nur aber vor allem mit den USA, Russland und China abgestimmt ist. Es ist wenig überzeugend, im Pazifik „Flagge zu zeigen“, wenn man die eigenen Grenzen nicht schützen kann.

Dies bedeutet nicht, einem auf sich selbst gestellten Europa das Wort zu reden, wohl aber, die Integration der Weltwirtschaft – auch und gerade aus ökologischen Gründen – teilweise rückgängig zu machen. Pandemiebedingte Hafensperrungen im chinesischen Containerhafen Ningbo mit anschließenden weltweiten Lieferkettenproblemen sind diesbezüglich sicher förderlich. Wenn ChinaChina im Jahr 2020 für etwa ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich zeichnete, dann unter anderem auch deshalb, weil dort nicht nur ein Großteil unserer Kleidung und Computer hergestellt wurde, sondern ebenso Seltene Erden und Magnesium abgebaut und in den Westen exportiert werden. China macht also, natürlich nicht altruistisch, die „Drecksarbeit“ für uns mit! Was passiert, wenn in China Fabriken temporär abgeschaltet werden, um die chinesische Klimabilanz zu verbessern, haben wir im Herbst 2021 gesehen. Zahlreiche Güter waren nicht mehr oder nur eingeschränkt verfügbar und die Preise stiegen auf breiter Front. Die zeitgleich formulierte Behauptung fast aller westlichen Regierungen und Zentralbanken, dass die schlagartig wiedergekehrte Inflation nur ein temporäres Problem sei, kann bereits in naher Zukunft bewertet werden. Notwendige Voraussetzung dafür wäre das Ausbleiben substanzieller Lohnerhöhungen als Einstieg in eine Lohn-Preis-Spirale. Ob diese Erwartung bei gleichzeitiger Erhöhung der Renten um mehr als 5% in Deutschland im Jahr 2022 realistisch sein kann, wird sich ebenfalls rasch erweisen.

Direkt betroffen ist die Wertschöpfung in Deutschland als letztem großen verbliebenen Industrieland in Europa. Von 2020 auf 2021 fielen die Produktionszahlen der deutschen Automobilindustrie in ihren deutschen Fabriken um ca. ein Drittel; zehntausende Arbeiter befinden sich in Kurzarbeit; in vielen weiteren Bereichen wird nicht mehr mit voller Kraft gearbeitet. Wir befinden uns in der bizarren Situation, dass bei niedriger formaler Arbeitslosigkeit und hohen Unternehmensgewinnen in zahlreichen Branchen qualifizierte Arbeitskräfte gesucht und nicht gefunden werden. Wie die heutigen Kinder und Jugendlichen die Corona-Krise verarbeitet haben werden, ist in vielerlei Hinsicht nicht abschätzbar. Ob der Industriestandort Deutschland mittel- bis langfristig davon in Mitleidenschaft gezogen wird, ist eine noch zu beantwortende Frage mit engem Bezug zur BildungBildung und zur Investitionstätigkeit der deutschen Unternehmen. Deutschland exportiert derzeit pro Jahr ca. 250 Mrd. Euro (das sind etwa 3.000 Euro pro Einwohner) ins Ausland; Geld, das für Investitionen in Deutschland in Bildung, Klimaschutz, Verkehrs- und Digitalwende, die innere und äußere Sicherheit und das Gesundheitswesen damit nicht mehr zur Verfügung steht. Sehr offensichtlich wird die Rechtssicherheit, die notwendige Voraussetzung für Unternehmensinvestitionen ist, in vielen Betrieben in einer sich immer schneller drehenden deutschen Gesellschaft als nur unzureichend bewertet.

 

Ein bereits in der 1. Auflage dieses Buches antizipiertes Ergebnis der Bundestagswahl 2021 war, dass es nun auch in Deutschland keine „echten“ Volksparteien mehr gibt. Die vormals großen Parteien CDU/CSU und SPD sind nicht mehr wirklich groß und die FDP und die Grünen auch nicht wirklich klein. Konkrete Aussagen zum Umgang mit dem demografischen Wandel, der in Deutschland in der kommenden Dekade voll durchschlagen wird, wie zum wiedererscheinenden „Gespenst“ der Inflation, kamen im Wahlkampf praktisch nicht vor. Die in diesem Buch hervorgehobenen Herausforderungen Deutschlands in der BildungBildung, dem Gesundheitswesen, der Rente und der inneren und äußeren Sicherheit wurden nur in homöopathischen Dosen diskutiert und von einer abstrakten Klimaschutzdiskussion dominiert; ebenso war wenig Erhellendes zu Migration sowie zum zukünftigen Verhältnis zu den USA, China und Russland zu erfahren. Der Wahlkampf war weitgehend auf Personen zugeschnitten und inhaltsleer.

Die an und für sich triviale Erkenntnis, dass unsere EnergieversorgungEnergieversorgung nicht gleichzeitig auf Gas, Atomstrom und Kohle verzichten kann, wenn die Gewinnung von Wind- und Solarenergie wetterbedingt unbeständig ist, hat in weiten Teilen Europas zu der Erkenntnis geführt bzw. diese bestärkt, dass wir in mittlerer Zukunft auf die friedliche Nutzung von Atomenergie zurückgreifen werden müssen, will die EU bis 2050 CO2-neutral werden. Dass dieselben deutschen Politiker, die gegen die Justizreform in Polen Sturm laufen und dies mit dem Primat der europäischen gegenüber nationaler Rechtsprechung begründen, abenteuerliche Gedanken entwickelten, als Ende 2021 geleakt wurde, dass die EU-Kommission plane, Investitionen in Atomkraft und Gas als nachhaltig einzustufen, verfestigt den Eindruck, dass Recht nur dann Recht ist, wenn es den eigenen Interessen dient.

Eine Kernthese dieses Buches lautet, dass wir uns mit Philosophie und Geschichte beschäftigen müssen, um die Gegenwart besser zu verstehen und mögliche zukünftige Pfade antizipieren zu können. Lotte Ulbricht, Ehefrau des 1973 verstorbenen DDR-Staats- und Kommunistische Parteichefs Walter Ulbricht, überlebte ihren Mann um 26 Jahre. Auf die Frage, warum der Sozialismus in Deutschland gescheitert sei, vermutete sie kurz vor ihrem Tode, dass die in der DDR herrschenden Eliten zu ungebildet gewesen seien. Darüber sollten wir, in den Spiegel schauend, uns nicht lustig machen. Wir müssen uns immer wieder aufs Neue verdeutlichen, dass ein hoher Bildungsstand der Eliten – und damit ist nachdrücklich nicht nur auf deren technisches Wissen abgestellt – eine notwendige Voraussetzung funktionierender komplexer Gesellschaften ist. Eine direkte Konsequenz, die jede Gesellschaft beantworten muss, liegt in der Auswahl des Personals für die Besetzung von Spitzenpositionen im staatlichen wie im privatwirtschaftlichen Bereich.

Unverändert bleibt meine Überzeugung, dass Europa in einer Zeit weltweiter Investitionserfordernisse, nur eingeschränkt funktionierender Finanzmärkte und kritischer Vermögensverteilungen über die besten Voraussetzungen verfügt, der Zukunft optimistisch entgegenzusehen. Notwendige Voraussetzung dafür ist, nicht nur theoretisch zu verstehen, dass Fleiß und Anstrengung die Grundlage von Wohlstand sind. Diese simple Erkenntnis sollten bei jedem von uns den Mut zum Denken und Handeln befördern.

Rostock, im Januar 2022