SCHULD-LOS

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SCHULD-LOS

Copyright ©2013 Dorothée Linden

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-6046-5

„Wenn das Geld im Kasten klingt,

die Seele aus dem Feuer springt.“

Johann Tetzel, Ablassprediger

I
Januar 2010

Sein Blick klammerte sich an den schwarzen Raben und die beiden Spatzen. „Bloß keine Tränen“, dachte Martin. Er fokussierte die Vögel, die Spatzen in dem kahlen Baum, den Raben unten auf dem Mauervorsprung. Die Spatzen wippten auf und ab, hielten Ausschau nach Nahrung. Unvermittelt flatterten sie davon, mit kleinen, flinken Flügelschlägen. Vielleicht befand sich hinter dem Friedhof ein Getreidefeld, mit keimender Wintersaat unter dem frischen Schnee. Der Rabe verharrte weiter regungslos. Die kleine Ansammlung von Menschen ganz in seiner Nähe schien ihn nicht im Geringsten zu beirren. Martin versuchte, nur an das Leben von Vögeln zu denken. An sonst nichts. Schon gar nicht an die reale Situation. Veränderungen waren ihm zuwider. Ob es Ellas Idee war auszuwandern oder anderes. Veränderungen jedweder Art. Und dazu gehörte auch der Tod von Eleonore Westerholt. Er kämpfte gegen die Tränen. Überwinterung, Paarung, Brut, Aufzucht. Es gelang ihm nicht. „Dein Wille geschehe“. Der Atem des Pfarrers stieß weiße Rauchwölkchen aus. Martin schniefte. In dem Moment erwachte der Rabe zu Leben. Mit seinen großen Schwingen stieg er in die Lüfte hoch. Er krächzte. „Rra Rra Rra“. Je weiter sich der Vogel aus Martins Blickfeld entfernte, umso stärker umfing die Wirklichkeit ihn wieder, hier, an der gefrorenen Endstation eines Menschenlebens.

II

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir…“ Beim Vater Unser auf verschneitem Boden zog Frank Bilanz und gönnte sich den Blick zurück auf seinen Werdegang zum Millionär. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte er den Entschluss hierzu gefasst, unwiderruflich, vor nun mehr als fünfunddreißig Jahren. Millionär auf eigene Faust zu werden, ohne Staub und Moder. Sein Ziel. Durchaus dringend nach einer nervtötenden Schullaufbahn, der Ausbeutung als Lehrling in einer Computerklitsche und nach zwei Jahren immer gleicher Arbeit bei der Firma „Comdot International“.

Immer einen Schritt voraus zu sein, war die Devise, schlicht und klar. Zwei Regeln hatte Frank Niemann sich gesetzt und die mit aller Strenge eingehalten: Zum einen musste das mit maximaler Lust bei minimalem Aufwand laufen. Zum andern wollte er frei und unabhängig sein und das auch bleiben. Ohne wenn und aber. Das rein monetäre Ziel wäre eines Tages auch ohne sein Zutun eingetreten, das war ihm schon damals klar gewesen. Ihre Mutter saß auf einem immensen Vermögen, und sie waren nur zu dritt. Aber das spielte für ihn nicht die tragende Rolle. Eben Regel zwei wegen. Er hatte eine freie, eine eigene, eine saubere Million gewollt.

Durch die Zielgerade war er längst getreten. Die Dinge waren phantastisch gelaufen, er war in bester Verfassung, sein Konto prall gefüllt, er wurde geachtet und umworben. An Aufhören war nicht zu denken. Niemand hatte ihm die Zügel aus der Hand nehmen können, ihm, dem Gentleman und Mann von Welt, der er ja tatsächlich war. Bei der Sache in den Achtzigern hatte er ein Stück vom Kuchen abgeben müssen. Der Reinertrag war trotzdem noch weit höher ausgefallen als in der ersten Planung kalkuliert. Die Abschaffung der D-Mark vor acht Jahren hatte seinen Ehrgeiz nur müde gekitzelt. Er hatte sein Ziel beherzt auf Euro umgestellt und auch das bereits durchlaufen. Den ersten, alles entscheidenden Schritt hatte er seinerzeit vollzogen, als er dem Mief des elterlichen Hauses den Rücken gekehrt hatte. Dem Haus seiner Mutter, um es genau zu nehmen.

Nun stand er vor ihrem Grab. In der Nacht von Freitag auf Samstag vor fünf Tagen hatte sie sich für immer in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, war eingeschlafen, ohne auch nur adieu zu sagen. „Denn Dein ist das Reich…“ Frank kroch die Kälte dieses Januartages unerbittlich in die Glieder. Noch in dieser Woche würden Konrad, Vera und er ein Vermögen beachtlichen Ausmaßes einstreichen. Erben. Nicht auf eigene Faust Verdientes, sondern nur verpönter Staub und Moder. Er war nicht darauf angewiesen. Würde sozusagen on top kassieren. Aber sein Brüderchen gierte schon seit langem nach dem Geld. Hatte jede Menge Schulden. Bei wem auch immer. Der Lebenswandel eines Diakons ließ halt nichts zu wünschen übrig. Bis er am Ende des Tages auf den Tod seiner eigenen Mutter setzen musste. „…in Ewigkeit. Amen.“

Der Pfarrer sprach den Segen. Konrad hätte sicher gern die Feier zelebriert. Mit salbungsvoller Stimme „Asche zu Asche und Staub zu Staub“ gesprochen - und dann abräumen. Aber sie hatten ihn gar nicht erst erreicht.

Wahrscheinlich saß er mal wieder in einem Funkloch irgendwo entlegen in einem Winkel der fernen Welt. In trauter Runde auf seiner Gitarre klampfend, umgeben und angehimmelt von einer Schar Jugendlicher, die auf den rechten Pfad zu bringen seine Mission war. Mit diesen Worten hatte er es ihm tatsächlich rüberbringen wollen, was er so machte fernab der heimischen Gefilde. Mann, wann hatten sie sich so auseinanderentwickelt. Die beiden Zwillinge, die man immer noch äußerlich kaum voneinander unterscheiden konnte.

Es war dringend, dass Konrad sich endlich bald mal meldete. Und zwar aus einem ganz anderen Grund: Nach dem Chemieunfall in Tsangche gab es dringend Handlungsbedarf. Oder vielmehr Rückzugsbedarf. Frank hatte sich schon ausgeklinkt, und zwar unverzüglich, sobald ihn die Nachricht von dem Unglück erreicht hatte. Egal um das schöne Geld – aber das war seine Devise: „Keinen Ärger“. Der Unfall war nun wirklich schrecklich. Da durfte sein Name nicht in Erscheinung treten. Unter gar keinen Umständen. Er hatte sofort alles Notwendige veranlasst. Seinen Kunden hatte er die bereits verkauften Optionen zurückerstattet. Nun hoffte er inständig, dass Konrad nichts verbockt hatte. Auch sein Anteil war natürlich futsch, aber das Erbe würde seinen Bruder schon milde stimmen. Trotzdem: Er musste ihn dringend sprechen.

Überhaupt hatten sich alle etwas rar gemacht. Die Kinder waren zu Besuch bei ihrer Mutter in Amerika. Glücklicherweise war Cécile angereist. Seine Tante Cäcilia, die älteste Schwester seiner Mutter, nannte sich mit der französischen Form ihres Namens, seit sie vor gut vierzig Jahren in der Normandie einen Mann und ein Chateau ergattert hatte. Sie hatte bereitwillig die Formalitäten und die Organisation der Beisetzung in die Hand genommen.

Seine kleine Schwester wäre damit überfordert gewesen. Er hatte Vera schon am Morgen getroffen. Es war kein Geheimnis, dass sie nicht gerade den Kontakt zu ihren Brüdern suchte. Umgekehrt verhielt es sich nicht anders. Konrad war ständig auf Achse, und er selbst war auch nur selten in der alten Heimat. Vera. Seine hübsche und schüchterne Schwester. Sie war fast neun Jahre jünger als Konrad und er. Selbst Familienfeiern und Mutters runde Geburtstage hatten die beiden Brüder ausgelassen. Er selbst hatte keinen Antrieb verspürt, Konrad hatte eigentlich so gut wie immer Wichtigeres im Programm. Zu sehr waren die Lebenswege der Geschwister auseinandergelaufen. Der Altersunterschied tat sein Übriges.

Heute Morgen war er offen auf Vera zugegangen und hatte sie in den Arm genommen. Immerhin hatte sie noch am meisten Kontakt mit ihrer Mutter gehabt. Da wollte er nur ein bisschen nett zu ihr sein. Nach kurzer Erwiderung war sie zurückgewichen, hatte ihn verstört angeblickt und sich weggedreht. Nun gut, an solch einem Tag musste jeder auf seine Weise klar kommen. Sie sah wirklich mitgenommen aus. Das noch immer schöne Gesicht wurde von einer Härte um ihren Mund durchzogen, die nicht auf pure Lebensfreude schließen ließ. Er wusste nicht einmal, womit sie sich zurzeit so über Wasser hielt. Das Klavierspiel hatte sie sicher nicht aufgegeben. Nach seinen letzten Informationen war sie freiberuflich als Übersetzerin unterwegs. Vielleicht würde sich ja doch noch ein Gespräch ergeben.

In einiger Entfernung sah er Martin, den kleinen Martin. Er war natürlich nicht mehr klein. Mutter hatte den Gestrandeten aufgenommen, als dieser gerade zwölf Jahre alt geworden war und nachdem der Vater sein Familienheim abgefackelt hatte. Martins Mutter war bei dem Brand ums Leben gekommen. Die Kinder hatten in dem Anbau nebenan geschlafen und waren mit heiler Haut davongekommen.

Ob es nun tatsächlich Martins Vater war, ob da Absicht im Spiel war und unter welchen Umständen sich das Ganze in Wirklichkeit abgespielt hatte, wusste natürlich keiner so richtig. Aber so hatten sie es sich zusammengereimt, Konrad und er. Damals. Sie waren neunzehn Jahre alt gewesen, und die Geschichte hatte etwas absolut Mysteriöses und natürlich Faszinierendes an sich gehabt. Und bot eine Menge Stoff für Spekulationen in jedwede Richtung. Martin war schon in Ordnung. Aber eben ein kleiner verschüchterter Junge. Wenn man neunzehn war und auf ein solches Weichei traf, dann war es doch logisch, so einem ein wenig zuzusetzen. Allein schon, dass er die Welt mal von innen kennenlernte. Wie sie so war. Martins Vater hatten sie laufen lassen, keine Beweise oder so. Er hatte sich trotzdem nicht mehr blicken lassen, konnte seinen zwei Söhnen wohl nicht mehr unter die Augen treten und hatte sich aus dem Staub gemacht.

Konrad hatte sich den Kleinen gekrallt und in seine Gemeinde abgeschleppt. Martin war Feuer und Flamme gewesen und schnell zum ernsthaft überzeugten Messdiener aufgestiegen.

Sie hatten keine allzu lange Zeit zusammen in Mutters Haus verbracht. Frank war knapp zwei Jahre später ausgezogen, Konrad kurz nach ihm. Aber dann sollten sie ja noch den Babysitter machen, im Sommer 76. Jenem Sommer, in dem Frank seine Millionärslaufbahn einstielte. Er musste grienen. Der kleine Martin hatte alles mit sich machen lassen. Für Konrad war es ein erfreulicher Sommer gewesen, für ihn, Frank Niemann, ein sehr erfreulicher und lukrativer dazu.

 

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Jetzt erwartete man wohl, dass er ein Schäuflein Erde auf den Sarg schippte, in dem seine Mutter lag, die nicht wieder kommen würde. Beinahe war er über seine Stumpfheit erschrocken. „Immerhin Mutter“, dachte er und versuchte, seine Gefühle zu wecken. Aber er hatte abgeschlossen. Schon vor langer Zeit. Wie gern hätte er sie in männlich starker Heldenmanier aus ihrer dunklen Einsamkeit gezogen. Aber das hatte sie nicht zugelassen. Und dann war der Zug abgefahren. Vor gefühlten Ewigkeiten.

Kurz nach der Geburt seiner Schwester - Konrad und er waren damals neun Jahre alt – hatte ihre Großmutter in einer beispiellosen Entschlossenheit dem ganzen Elend ein Ende gesetzt und ihren Schwiegersohn aus dem Haus geworfen. Mit Pauken und Trompeten, wie man so sagte. In einer wilden berechtigten Wut, die ihn begeistert hatte. Sein Bruder und er hatten nur zwei seltene Male die rohe Gewalt ihres Vaters am eigenen Leib erfahren müssen.

Ihrer Mutter war es da ganz anders ergangen. Zumindest er, Frank, hatte mehrere Male aus den Geräuschen im Schlafzimmer der Eltern seine Schlüsse gezogen. Es hatte immer mit einem kaum vernehmlichen Wimmern seiner Mutter geendet, das bald vom Schnarchen des hemmungslosen Grobians übertönt worden war. Spätestens dann hatte Frank sich von seinem Lauschposten an der Tür zurückgezogen und endlich selber einschlafen können. Natürlich war niemals auch nur ein Wort darüber gewechselt worden. Mutter, die doch ganz offensichtlich gelitten haben musste, die unglücklich in ihre Laken weinte, gedemütigt und einsam. Sie hatte einen unermüdlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt, das ganze Elend totzuschweigen. Es war ein Wunder, dass Großmutter überhaupt Wind davon bekommen hatte.

Als Vater weg war, war Mutter leider kein bisschen freier geworden. Jeder noch so kleine Furz durfte um Himmels willen nicht knallen. Er hätte ja eine Explosion nach sich ziehen können, die das ganze Gebäude zum Einsturz gebracht hätte. Natürlich hatte er Mutter geliebt. Immer liebt man seine Mutter. Schon als Junge hätte er sie gern beschützt oder getröstet oder ihr einen Tritt in den Hintern gegeben, sie solle sich mal endlich wehren. Aber dafür hatte es nie einen passenden Moment gegeben. Alles war gut. Alles eitel Sonnenschein. Zum Davonlaufen. Das hatte er dann endlich auch gemacht. Sein Auszug aus dem Haus des mundtoten Friedens war ein Befreiungsschlag gewesen. Ihm war die klare Erkenntnis gefolgt, von da an nur noch reich und frei sein zu wollen.

Nun das Händeschütteln. Er, Cécile, Vera. Als Ella ihm gegenübertrat, lächelte er sie verstohlen an und zwinkerte ihr zu. He, was war denn mit der los? Sie war doch sonst nicht so. Nur weil der kleine Martin, ihr so genannter Gatte, hinter ihr stand, musste sie doch noch lange keinen Gruß von ihm zurückweisen. Nun gut, vielleicht sollte er auf eine andere Gelegenheit warten. Womöglich rief sie ihn noch im Laufe des Tages an. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass eine solch beiläufige Begegnung ein sehr schönes Ende nehmen würde.

So, endlich war der Akt in der eisigen Kälte vorüber. Zum anschließenden Begräbnisschmaus entschuldigte Frank sich mit der Ausrede des bereits gebuchten Fluges und verschwand.

III

Martin hakte sich schweigend bei seiner Frau unter. Wortlos schlurften sie über die gefrorenen Friedhofswege. Ella entdeckte Vera in einiger Entfernung.

„Hallo, warte doch!“, rief sie ihr zu und löste sich von Martin.

Der Anblick der beiden Freundinnen von einst, die endlich wieder aufeinander zugingen, zog Martin für einen Moment aus seiner schweren Stimmung. Lange Jahre war das Verhältnis der beiden unterkühlt gewesen. Ella hatte den Abstand mit Veras Liebesleben begründet, das sie verurteilt und für schlicht inakzeptabel gehalten hatte. „Was will sie mit all den ständig wechselnden Möchtegernmachos“, hatte sie geschimpft, „man erkennt sie nicht wieder.“ Sie hatte Vera vorgehalten, sich den Männern wahllos hinzugeben, sich anzubiedern, um am Ende als Sexobjekt abserviert zu werden. Dass sie das nicht sehen würde. Seine Frau hatte sich immer mehr von Vera distanziert, bis sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt hatten.

Vera hatte Pech in der Liebe. Das sah Martin ohne Zweifel differenzierter als seine Gattin. Die Bekanntschaften kamen und gingen. Auch Martin hatte den Herren, die er schon mal zu Gesicht bekam, nichts abgewinnen können. Aber das war Veras Sache. Vielleicht würde sie irgendwann einmal ein bisschen mehr Glück haben. Das konnte man ihr nur wünschen. Vera war attraktiv, mit einer Aura von Geheimnis, die Martin schon immer anziehend gefunden hatte. Wenn die beiden Frauen nun zu einer Wiederbelebung ihrer Unbefangenheit von einst finden könnten, wäre es Martin nur recht.

Der Tag nahm seinen furchtbar tristen Gang. Die Kälte zog tief in Martins Gemüt. Es waren gar nicht viele gekommen. Cécile aus Frankreich, die kannte er. Ein paar weitere Verwandte hatte er schon mal gesehen. Vera war da. Aber Konrad? Wo steckte der? Und warum war Frank so schnell verschwunden? Außer dem Kondolenzgruß hatten sie kein Wort gewechselt. Martin war verstört. Diese Familie war einst seine Rettung gewesen. Nun zerbrach sie in unsichtbare Gestalten wortlos auseinander.

Wie durch Zufall, wie es ihm noch immer schien, war er damals in die Familie der Westerholts hineingepurzelt. Mit welcher Selbstverständlichkeit er dort aufgenommen worden war. Welch anderen Lauf hätte sein Leben wohl genommen, nach all dem Kummer und der Schwere eines jeden Tages jener Zeit.

Tante Lores Tod rief die Vergangenheit wach. Schon gleich nach seiner Übersiedlung zu den Westerholts vor nun siebenunddreißig Jahren hatte sie ihm gesagt: „Nenn mich einfach Lore, Martin.“ Gegenüber der Erwachsenen war es ihm fremd gewesen, sie nur beim Vornamen anzusprechen, und er hatte eine Tante hinzugefügt, Tante Lore daraus gemacht. Dabei war es geblieben. Tante Lore war für ihn der einzig verlässliche Mensch gewesen, der Fels in der Brandung, in der alles zusammenzubrechen drohte. Kein anderer Erwachsener, den er zu der Zeit gekannt hatte, hatte sich an irgendwas gehalten, was er in Aussicht gestellt oder versprochen hatte. Nach dem Unfall.

Martin war noch keine zwölf gewesen, sein Bruder Gregor gerade dreieinhalb. Sie hatten Gregor und ihn einfach auseinandergerissen. Gregor wurde in die Familie von Tante Ulla gesteckt. Dort haderte er noch eine Weile mit seinem Schicksal, schien sich dann aber bald in seine Situation fügen zu können. Ihr Vater und dessen Schwester, ihre Tante Ulla, waren sich schnell einig geworden: Der Jüngere musste eingebunden werden. In eine Familie. Zwei Jungen aufzunehmen war Tante Ulla zu viel. Martin als dem Älteren trauten sie es ohne weiteres zu, in der Woche im Internat zu sein und die Wochenenden bei seinem Vater zu Haus. Was nach dem Feuer davon übrig war. Auch Gregor sollte nach Möglichkeit an den Wochenenden zu Hause mit seinem Vater und seinem Bruder verbringen. Soweit der Plan.

Es kam natürlich wieder völlig anders. Tante Ulla wohnte zu weit weg. Niemand hatte Lust und Ausdauer, Gregor am Freitag nach Hause zu bringen und sonntags wieder zurückzufahren. So schlief die Abmachung der Erwachsenen bald ein. Und Martins Vater, der von Berufs wegen für ein Pharmaunternehmen Herzmittel im Außendienst verkaufte, tauchte immer seltener zu Hause auf. Martin hatte nicht verstanden, was er eigentlich so im Einzelnen zu tun hatte. Jedenfalls war er ständig weg, was schon seine Mutter genervt hatte. Dass er sich nun noch rarer machte, mochte anfangs durchaus an der Zerstreuung gelegen haben, die er nach Mutters Tod zunächst mal suchte. Das hatte Martin ihm damals, am Anfang jener Schreckenszeit, noch durchgehen lassen.

Inzwischen war ihm aber klar, dass sein Vater Zerstreuung ganz anderer Art gesucht und auch gefunden hatte. Seine Söhne waren untergebracht, irgendwie, im praktischen Leben hatte er mit Kindern sowieso nichts anzustellen vermocht, und so war der Rest der kleinen Familie zerfallen. Selbst die beiden Brüder verloren sich bald aus den Augen. Gregor war noch zu klein, um sich gegen die Abschottung zur Wehr zu setzen. Martins Wort hatte kein Gewicht. Tante Ulla, die in Wahrheit keine Lust auf die Chauffierdienste gehabt hatte, redete sich damit heraus, dass der Kleine nur unnötig Heimweh bekomme und hin- und hergerissen würde, wenn er ewig pendeln müsse.

Martin hatte seine Mutter vermisst, unendlich vermisst. Der Verlust von Gregor und Vater hatte ihm zusätzlich weh getan und an seinem kindlichen Gemüt genagt. Inzwischen lebte Gregor in San Francisco, mit einem Freund zusammen. Er hatte sich einen Punkt auf der Erde gewählt, der ganz entfernt gelegen war. Unerreichbar für die Erinnerungen und Verletzungen seiner nie verheilten Seele. Martin und er schrieben sich gelegentlich eine freundliche E-Mail. Mehr Nähe zur Vergangenheit war für Gregor nicht drin. Martin bedauerte dies sehr. Er fühlte sich seinem kleinen Bruder verbunden und wünschte sich, mehr mit ihm im Austausch stehen zu können. Aber er respektierte Gregor und sein Bedürfnis nach Distanz. Und er hatte den Eindruck, dass es seinem kleinen Bruder gut erging in der Ferne, in seinem neuen Leben, zu dem er ganz alleine aufgebrochen war.

Vielleicht wäre es in einem Internat sogar ganz schön gewesen. Wenn man dem Glauben schenken konnte, was so in den Büchern stand. Ein Leben zu führen voller Streiche, Unsinn und gemeinschaftlicher Rebellion gegen die Strenge willkürlicher Regeln von mächtigen Erwachsenen. Nicht einmal diesen Plan hatte sein Vater zu Ende gedacht. Als die Prospekte vom Internat kamen – Vater hatte von einem Bekannten gehört, „Hellfeld“ sei ein gutes Haus – tat er überrascht, dass nicht nur für die Unterbringung als solche zu zahlen sei, sondern auch noch Schulgeld obendrein. Das war ihm deutlich zu viel gewesen. Martin wusste inzwischen, dass sein Vater einen guten Verdienst erzielt hatte. Allerdings war sein Lebenswandel sehr aufwändig. Da hatte sein Vater Präferenzen gesetzt. Und so war Martin nicht nur an den Wochenenden oft allein geblieben. Vater war immer seltener nach Haus gekommen. Martin hatte die Tage sich selbst überlassen in dem Anbau beim toten Haus verbracht. Allein und verlassen mit all dem Kummer, den er mit niemandem teilen konnte.

Noch viel schlimmer waren die Nächte gewesen. Seinen Freunden in der Schule war das Thema lästig geworden. Natürlich, sie hatten ihn bedauert, ernsthaft bedauert. Aber es gab Raucherecken, Fußball, küssende Pärchen, bei denen man vielleicht was lernen konnte. All das war viel interessanter, als wieder und wieder über Feuer, Angst und eine tote Mutter zu sprechen. Es war eine einsame Zeit für Martin gewesen, allein mit dem Haus, mit dem Gestank von Tod und Schrecken. In den verkohlten Kleidern war nicht mal mehr der sanfte Duft des Trostes zu erschnuppern.

Vater hatte sich sein möglicherweise doch ein wenig knarrendes Gewissen und die Jugendfürsorge geschickt vom Hals gehalten. Frau Albertin aus der Nachbarschaft wurde engagiert, „nach dem Jungen zu gucken“. Und das war etwas, das Martin seinem Vater richtig übel genommen hatte. Er hatte die Hexe gehasst und unter keinem denkbaren Aspekt auch nur einen Moment ertragen können. Und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Vater zahlte ihr ein Salär, das vielleicht gut, aber ganz sicher nicht üppig gewesen sein konnte. Aber das war Hexe egal. Sie nahm alles mit, dieser alte Geizkragen. Da in Vaters Beitrag auch das Geld für Martins Versorgung enthalten war, war von vornherein klar, wie es um die Qualität der Mahlzeiten bestellt sein würde.

Alles war schrecklich an der Frau gewesen. Mit der Stimme ging es los. Hexe oktavierte ihr von Natur aus fiepsiges Organ in eine noch dünnere Höhe, sobald sie Martin begegnete. Dem nicht genug, belegte sie die Laute mit einem schleimigen Schlick. In der Kombination vermittelte sie den Eindruck, als wäre der ihr anvertraute Schützling gerade erst auf die Welt gekommen und schon jetzt sichtbar mit lebenslanger Idiotie ausgestattet. Martin hatte mit vollständiger und konsequenter Ablehnung reagiert und alles, wirklich alles verweigert, was sie ihm vorgesetzt und was mit ihr zu tun gehabt hatte. Die falschen Worte hatte er mit eisernem Schweigen quittiert. Mahlzeiten hatte er bei Freunden eingenommen oder sich was zurecht gemischt aus den vergessenen Vorräten, die sein Vater an den seltenen Besuchen nach wilden Einkäufen hinterlassen hatte.

In einem Punkt hatte Hexe allerdings gesiegt, nämlich wenn sie ihre widerwärtige Kohlsuppe gekocht hatte, und das auch noch in dem zur Küche umfunktionierten kleinen Flur des Anbaus. Das Allerletzte! Der dumpfe Gestank war mit sturer Hartnäckigkeit bis in die hinterste Ecke gekrochen, um mit unausweichlicher Präsenz zu triumphieren. Säuerlich-stumpf kam der Gestank daher, wie Martin ihn aus großen Wohnblocks kannte, in denen sich die Gerüche winterlicher Mittagsgerichte im Treppenhaus sammelten, von wo sie keinen Ausweg finden konnten. Die Albertin hatte noch eine Weile lieblos herumgefuhrwerkt, und Vater hatte ihr unbekümmert den Lohn für praktisch nichts gezahlt.

 

Ein Ende nahm das ganze Elend schließlich, als sein Vater unangekündigt an einem Samstag heimkehrte, niemanden antraf und bald auf die blühenden Ekelwerke der Hexe im Kühlschrank stieß. Erstaunlicherweise hatte der Zorn nicht seinem Sohn gegolten. Voller Wut war er rüber zur Nachbarin gestampft und hatte ihr eine ordentliche Standpauke gehalten. Sie hatte mit der Beschreibung eines bösen, undankbaren Rotzlöffels gekontert, und fortan hatte Martin Ruhe gehabt.

Tante Lore hatte Wind von den Zuständen bei den Schüllers bekommen. Sie lud Martin ein zum Kennenlernen, und mir nichts Dir nichts war er dort eingezogen. Martin war nicht ganz klar, ob sein Vater auch ihr einen Beitrag für die Versorgung seines Kindes angeboten hatte. Er vermutete aber, dass Tante Lore das abgelehnt hätte. Und damit war Vater feiner raus gewesen, als Martin es ihm vergönnt hätte. Er war ein weggegebenes Kind, für seinen eigenen Vater nicht mal einen Pfennig wert. Gregor hatte sich ähnlich verraten fühlen müssen. Er hatte am Ende seinen Weg in der Ferne gefunden. Und Martin hatte das Glück gehabt, bei den Westerholts aufgenommen zu werden.

Bei Tante Lore war es nicht nur das Entsetzen über die Zustände bei ihm zu Hause gewesen, dass sie sich so spontan und ohne ihn zu kennen aufgenommen hatte. Sie war glücklich gewesen, dass ihre elfjährige Tochter Vera nun endlich einen Weggefährten im fast gleichen Alter im Hause hatte.

Das änderte nichts daran, dass Martin Tag um Tag und Nacht um Nacht fürchterliche Momente durchlebt hatte. Sie hatten ihm gleich nach seiner Ankunft ein eigenes Zimmer eingerichtet. Das war ihm gar nicht recht, eigentlich sogar ganz und gar ungeheuer gewesen. Er war fremd und fühlte sich verlassen, ein Zimmer nur für ihn versprach nur noch mehr Einsamkeit. Aber so war das einfach im Hause Westerholt. Es gab mehr Platz als genug - für jeden einen eigenen Raum, für Gäste noch zwei weitere, einen Wäsche – und einen Wirtschaftsraum, Kellerräume, ein ausgebautes Dach. Es war ein großes, ein riesiges Haus. Martin hatte in der ersten Zeit nach Gesellschaft gesucht, er brauchte Ablenkung von seinen schweren dunklen Gedanken. Nachts hatte er verloren im kalten Bett gelegen, den Dämonen ausgeliefert, die seine tote Mutter entstellten und in Schatten auf der Wand einen Teufelstanz vollführten, der vom fahlen Licht der Nacht und den windbewegten Bäumen angestachelt wurde. Das waren furchtbare Nächte, allein und elternlos, entsetzlich bekümmert und voll unbestimmter Angst.

Und dann hatte es eines Nachts dieses denkwürdige Ereignis gegeben: An einem Abend im November tauchte aus dem Nichts ein Wesen auf. Lautlos fast, und doch real. Der Mond hatte an Größe zugenommen und warf mit weißer Kraft Licht und Schatten auf den hellen Körper, der vor Martins Bett erschien. Martin hatte sich erschreckt, ganz fürchterlich, und erst geglaubt, er werde Opfer seiner nächtlich kruden Phantasien. Wie hätte er Vera auch sofort erkennen können? Splitternackt war sie, ihr Körper hatte das Stadium der Kindheit bereits verlassen und den Weg zu einer Weiblichkeit aufgenommen, die Verlockung und Reiz versprochen hatte. Das hatte selbst Martin wahrgenommen. Er hatte seine Mutter manchmal nackt gesehen, unter der Dusche, sie hatte gesungen und ihn angestrahlt, wenn er ins Bad gekommen war. Doch ein Mädchen, noch jünger als er selbst. Und so schön.

Verdammt, verdammt. Er erinnerte sich, dass er genau das dachte: Verdammt, verdammt. Leider war das auch alles, was er dachte. Was er denken konnte. Als Vera so vor seinem Bett gestanden hatte, völlig regungslos, als warte sie als nächstes auf eine Reaktion von ihm, hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt, was er nun zu machen hatte. Seine Erektion jedenfalls war enorm gewesen. Wahrscheinlich war er auch errötet. Jedenfalls hatte es sich so angefühlt. Immerhin dies hatte das farbenblinde Mondlicht wohl nicht verraten können. Vera hingegen schien ohne Scheu, ohne Scham zu sein.

„Was, was nur, was war jetzt zu tun?“ hatte es in seinem Kopf gerufen, aber er hatte beim allerbesten Willen, beim lieben Herrgott noch eins, nein, er hatte absolut keinen blassen Schimmer gehabt.

„Hallo Vera, Du bist aber noch ganz schön spät wach“ oder so etwas in der Art war ihm heraus gestottert. Sie hatte ihn so komisch angestarrt. Dann hatte er sich umgedreht und sofort tief schlafend gestellt. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er sogar ein bisschen getan, als schnarche er.

Am nächsten Tag hatten sie kein einziges Wort darüber verloren. Martin hatte in den folgenden Tagen versucht, Vera so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Einige Nächte später wiederholte sich die Situation, identisch nahezu. Das lautlose Auftauchen, Erschrecken seinerseits, die heftige Erektion, ein hilfloses Gebrabbel, umdrehen, Schluss. Beide Male hatte er es erst unendliche Minuten später gewagt, sich wie im Schlafe umzudrehen und leiser zu atmen, um schließlich blinzelnd festzustellen, dass sie genauso unscheinbar wie sie gekommen auch verschwunden war.

Danach geschah das nie wieder. Martin hatte diese Vorfälle zu vergessen versucht und sich bemüht, zu seiner Unbefangenheit zurückzufinden. Tatsächlich aber brannten sich diese Begebenheiten von damals, als er zwölf Jahre alt gewesen war, fest in ihn ein. Vera hatte er nie darauf ansprechen wollen, sie umgekehrt tat es auch nicht. Sie hatte das bestimmt vergessen und in ihm mit Sicherheit nichts als einen dummen, unerfahrenen Jungen gesehen. Und das hätte es ja wohl ganz genau getroffen.