Splitter einer vergangenen Zukunft

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Der Lumburier verharrte in seinem Versteck bis zum Einbruch der Nacht. Dann glitt er geräuschlos durch den Fluss zum lumburischen Ufer. Dort näherte er sich unter Aufbietung aller ihm möglichen Vorsicht dem Ort, an dem er den Fährmann zuletzt gesehen hatte. Zehn Meter entfernt hielt er bewegungslos inne. Die Stunden vergingen ohne jegliches Lebenszeichen des Uferwächters.

Im frühen Morgengrauen lichteten sich die Nebel in der Flussniederung. Zäh stiegen sie in diesigen Schleiern hoch und verhingen die aufgehende Sonne. Mulmok tastete sich noch näher an den letzten Standort des Fährmanns heran. Und dort befand er sich immer noch! Mit eigenartig verrenkten Gliedern hing er kopfüber in mehreren durchgebogenen Baumschößlingen.

Mulmok ließ nun alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht. Er erhob sich und ging zu dem reglosen Körper. Ein Griff zum Puls des Fährmanns bestätigte ihm, dass dieser noch lebte. Mulmok wuchtete seinen schweren Landsmann in den weichen Sand und untersuchte ihn. Die Lebensfunktionen des Uferwächters waren auf ein Minimum gesunken. Sein Zustand schien kritisch, aber Mulmok wusste, dass er überleben würde. Die Bewusstlosigkeit würde allerdings noch Tage andauern. Daher trug er ihn zu der Fähre und legte ihn dort ab. Danach verankerte er das Floß weit genug vom Ufer entfernt im Fluss, sodass der Körper vor wilden Tieren geschützt war. Anschließend setzte er seinen Weg fort.

Der schmale Pfad durch den lumburischen Regenwald führte zu der kleinen Ansiedlung, an deren Errichtung der Lumburier einst maßgeblich beteiligt war. Dort hatte eine Gruppe von Leuten versucht, Rote Mondorchideen zu kultivieren, um einer anderen Gruppe von Leuten das ewige Leben zu ermöglichen. Geendet hatte das alles in einer Orgie von Gewalt und Tod. Mulmoks analytisch und akribisch arbeitender Verstand war weit davon entfernt, solche Dinge auch nur ansatzweise zu verstehen. Er hatte sich seinerzeit allein aus Freundschaft zu dem letzten Wanderpriester Qaromar an diesem Projekt beteiligt. Dabei hatte er nicht nur eine Verschwörung aufgedeckt, sondern gleichzeitig auch die damals größte Gefahr für den Kontinent beseitigt. Gedankt hatte man ihm dies mit der Verbannung aus Lumburia. Aber deswegen Groll zu hegen, kam ihm nicht in den Sinn. Er scherte sich ohnehin nicht um Verbote, sondern tat, was getan werden musste. Dabei ließ er sich von nichts und niemandem behindern.

Während der ganzen Zeit seiner Wanderung herrschte in der Umgebung des Pfades eine sonderbare Stille. Mulmok hatte den Eindruck, als würde er auf einem endlosen Friedhof wandeln.

Nach fünf Tagesmärschen erreichte er die Ansiedlung auf der kleinen Lichtung. Dort fiel ihm zuerst eine zusammengekrümmte Gestalt mitten auf dem Platz zwischen den teilweise bereits verfallenen Hütten auf. Mulmok drehte den Mann auf den Rücken. Es handelte sich um einen jüngeren Lumburier, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Sein Zustand entsprach dem des Fährmanns: eine voraussichtlich lang andauernde, aber nicht lebensbedrohliche Bewusstlosigkeit.

Mulmok schaute sich um. Das Lager schien menschenleer zu sein. Aber es waren auch keine der gewohnten Tierlaute zu hören. Bei näherem Hinsehen stellte der Ureinwohner fest, dass einige kleine Echsen und Vögel bewegungslos am Boden lagen. Das Ganze wirkte äußerst unheimlich. Mulmok besann sich auf sein Vorhaben und beschloss, es möglichst schnell zu Ende zu bringen. Er ging zu der Hütte, die nach außen hin den besten Erhaltungszustand vermittelte. Seine Mutmaßung hatte ihn nicht getrogen. Er hatte sein Ziel erreicht.

Auf dem mit Schilfmatten ausgelegten Boden lag ein alter, weißhaariger Ureinwohner. Seine Hand umklammerte den Stab des letzten Wanderpriesters. Einige Beschädigungen der Hüttenwände unterhalb des umlaufenden Lichtdurchlasses deuteten darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Die Kratzer und Löcher stammten zweifellos von der rötlichen, immer noch ausgefahrenen Lanzenspitze des Stabes.

Ein Griff zur Halsschlagader des alten Mannes bestätigte Mulmok, dass er tot war. Die Lumburier hatten das angesehenste Mitglied ihrer lockeren Stammesgemeinschaft verloren. Diese Gemeinschaft, die trotz ihrer losen Bindung ein unvergleichlich starkes Bollwerk nach außen darstellte, war durch das Ableben des Ältesten zweifellos erheblich geschwächt. Der Weiseste der Ureinwohner verlor nun zum zweiten Mal den Besitz des mysteriösen Wanderstabes, den Korvinag getreu seinem Versprechen nach Lumburia zurückgebracht hatte. Dieses Mal war der Verlust des mächtigen Artefakts endgültig.

Mulmok öffnete vorsichtig die erkaltete Hand des alten Mannes und entnahm ihr den Stab mit der versenkbaren Klinge, die aus einem Material bestand, das von den Eingeweihten „Torr-barakt“ genannt wurde, die „gefrorene Flamme“. Behutsam bettete Mulmok die Leiche der wichtigsten Autorität seines Volkes auf dessen Liegestatt. Dann verließ er die Hütte und schloss die Tür. Der bewusstlose junge Ureinwohner würde nach seinem Erwachen den Toten finden und entsprechend den Riten seines Volkes bestatten lassen.

Als der junge Mann lange Zeit später die Augen aufschlug, hatte Mulmok mit dem Wanderstab längst den Lumbur-Strom durchquert und befand sich auf seiner Rückreise durch Surdyrien nach Rabenstein.

*

„Da kommt ein einzelner Reiter!“, meldete Wurluwux. Die Schärfe seiner Augen entsprach ihrem stechenden Blick, der ihm den Tarnnamen „Skorpion“ eingetragen hatte.

„Mit einer solchen Information kann niemand etwas anfangen“, grantelte der vierschrötige, narbengesichtige Mann mit dem auffälligen, zerbeulten Spitzhut. Er stand am Fuß der Mauer, auf deren Krone sich der „Skorpion“ postiert hatte.

„Dann komm doch selbst rauf, wenn du meinst, dass eine Blindschleiche mehr sieht als ein Adler“, schimpfte der kleine Mann mit dem braunen Wuschelkopf auf der Mauer.

Shrogotekh setzte bereits zu einer handfesten Entgegnung an, aber dann ertönten die warnenden Worte des „Skorpions“: „Das ist der alte Kerl mit dem Totenschädel und den weißen Fransen. Gib sofort Schaddoch und Rakoving Bescheid!“

Der Räuberhauptmann am Fuß der Mauer machte auf dem Absatz kehrt und spurtete zu dem eingefallenen Langhaus, in dessen Inneren sich Baron Schaddoch mit seinen Begleitern niedergelassen hatte.

„Der Berg kommt zum Propheten“, murmelte Rakoving, nachdem Shrogotekh die Nachricht überbracht hatte. „Ich werde ihm auf dem Vorplatz hinter der Torallee entgegentreten. Ihr könnt euch dort in den umliegenden Ruinen verstecken.“

Sofort hasteten die Männer los. Sie hetzten durch die staubigen Straßen und altehrwürdigen Ruinen der einstmals heiligen Stadt. Rakoving begab sich hingegen ohne Eile zu dem Vorplatz, wo der Legende nach die Oberhäupter der Sterzen mit ihren Opfergaben die Prozession der heiligen Männer empfangen hatten. Inmitten dieses Platzes erwartete Rakoving mit verschränkten Armen den einsamen Reiter, der wohl gekommen war, um ihn zu töten. Offenbar hatte er mit seiner Verwandlung das Geflecht der alten Wesenheiten nicht täuschen können. Der Meister der Todeszeremonie wusste anscheinend genau, wo sein Opfer sich aufhielt. Der knochige Klepper des Meisters schien genauso alt zu sein wie sein Reiter, der sich nur noch mit Mühe im Sattel zu halten schien. Aber Rakoving ließ sich nicht blenden. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Mann, an dessen Seite er geholfen hatte, Rabenstein zu verteidigen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dies gerade eben erst geschehen war. Und nun waren aus Kampfgefährten Todfeinde geworden.

„Ich grüße Euch, Meister der Todeszeremonie“, sagte Rakoving mit seltsamer Betonung.

Auf Roxolays Gesicht trat ein Ausdruck des Erstaunens. „Wer seid Ihr, dass Ihr mich so nennt?“, fragte er.

Der ehemalige Eremit aus Borthul beschloss, das Spiel des Alten eine Weile mitzuspielen. „Mein Name ist Rakoving“, antwortete er.

„Rakoving“, wiederholte der Meister der Todeszeremonie versonnen. Und nochmals: „Rakoving.“ Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten: „Wahrlich, Ihr seid ein phänomenaler Schauspieler. An Eurem Äußeren hätte ich Euch nie und nimmer erkannt. Aber ist dieses vordergründige Spiel mit den Buchstaben Eurer würdig? Virkagon, der Mitbegründer des Geheimen Bundes von Dunculbur, Korvinag, der alte Eremit aus Borthul, und jetzt Rakoving?“

„Der Name einer Person ist mit ihrer Seele verwoben“, entgegnete der Schauspieler. „Man kann ihn nicht aufgeben, wohl aber die Reihenfolge seiner Buchstaben verändern. Ist das wirklich zu durchsichtig? Ohne das Geflecht hättet Ihr mich nie gefunden.“

Roxolay zog fragend die weißen Augenbrauen hoch: „Wieso sollte ich Euch gesucht haben?“ Dann aber veränderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck. Völlig ansatzlos hielt er plötzlich eine Kristallskulptur in der Hand. Sie reflektierte die warme Abendsonne in allen Farben des Regenbogens.

Rakoving wusste um die Wirkungen dieses Gegenstandes, der auch als schreckliche Waffe benutzt werden konnte. Sobald die Statue auf dem Boden zersplitterte, würde auch Roxolays Gegner in Tausende von Stücken zerbersten.

„Nun ist die Maske gefallen“, stellte der frühere Einsiedler leidenschaftslos fest.

„Warum wollt Ihr mich töten?“, fragte Roxolay.

Der Borthuler lachte auf: „Was soll diese Komödie?“

„Sagt Euren Männern in ihren Hinterhalten, dass sie die Stiftlader weglegen sollen“, verlangte Roxolay. „Dann werde ich den Kristall wegstecken, und wir können uns darüber unterhalten, was all dies zu bedeuten hat.“

„Wenn ich das tun würde, wäre ich schutzlos“, widersprach Rakoving. „Ihr seid gekommen, um mich zu töten. Oder seid Ihr etwa nicht der Meister der Todeszeremonie?“

Roxolay schaute ihn durchdringend an. „Habt Ihr hier irgendwo einen weißen Kreis gesehen?“, fragte er. „Wir kennen doch beide die Regeln.“ Rakoving musterte genau die Umgebung und wurde plötzlich sehr nachdenklich. Dann gab er ein Handzeichen.

 

Schaddoch und seine Männer legten in ihren Verstecken die Stiftlader beiseite. Roxolay ließ die kleine Kristallskulptur unter seinem Gewand verschwinden und fragte den ehemaligen Kampfgefährten: „Wovor fürchtet sich der gefährlichste Mann der Welt, den jemand einmal den „Kettenhund des Geflechts“ genannt hat?“

„Vor dem anderen Kettenhund des Geflechts“, erwiderte Rakoving und deutete auf den Meister der Todeszeremonie. Dann fügte er etwas leiser hinzu: „Und vor dem Geflecht selbst.“

Roxolay sah ihn erschrocken an. Dann schwang er sich von seinem Pferd und ging ein paar Schritte auf Rakoving zu: „Was ist geschehen, alter Freund?“

„Habt Ihr nicht den Aufschrei des Geflechts gehört?“ fragte der Borthuler erstaunt. Unfähig zu einer Antwort schaute Roxolay nur fassungslos drein.

„Dann schwebt Ihr in der gleichen Gefahr wie ich“, stellte Rakoving nüchtern fest. „Aber sagt – warum seid Ihr hier, wenn nicht um mich zu töten?“

In knappen Worten berichtete der Meister der Todeszeremonie von der Fälschung der alten Schriften und der Aufzeichnungen Murbolts, von seinem Eindringen in die Rotunde und dem Verschwinden Ulbans. Er schloss mit den Worten: „Ich bin davon überzeugt, dass entweder in der Rotunde oder hier in Derfat Timbris der Schlüssel liegt.“ Rakoving nickte nachdenklich und gab ein weiteres Handzeichen. Daraufhin verließen Schaddoch und seine Begleiter ihre Verstecke und näherten sich den beiden Männern. Währenddessen erzählte der ehemalige Eremit von seiner Suche nach Selazidang und den Entdeckungen, die er dabei gemacht hatte.

„Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, wo man mit den Nachforschungen über das Geheimnis von Derfat Timbris beginnen könnte?“, fragte er zuletzt.

Roxolay kraulte sich gedankenverloren am Kinn. „Derfat Timbris war ein geweihter Ort“, meinte er. „Es gibt hier viele Tempelanlagen und sonstige Heiligtümer. Die einzige Anlage, die aus dem Rahmen fällt, ist die Arena. Wenn jemand in der Blütezeit einen Ort für ein unauffälliges Versteck gesucht hat, zu dem jedermann jederzeit Zutritt hatte, könnte das in jener Umgebung gewesen sein. Dort sollten wir jedenfalls anfangen.“

*

Die Frau war eindeutig erregt und verlegen. Sestor hatte noch nie eine erregte und verlegene Zogh gesehen. Sie mochte um die vierzig Jahre alt sein und hatte sich die herbe Schönheit der grauhäutigen Gebirgsmenschen bewahrt.

„Wie alt warst du damals?“, wollte Prandorak wissen.

„So genau weiß ich das nicht mehr“, erklärte die Frau ausweichend. „Ich bin noch ein Kind gewesen. Ich kann mich nur noch gut daran erinnern, wie ich auf dem nassen Pfad abrutschte und in die Spalte fiel. Dort blieb ich an einem Baum hängen. Ich habe geschrien, aber es dauerte eine Ewigkeit bis ich endlich herausgezogen wurde. Dann sah ich in das weiße Gesicht dieser wunderschönen Frau, die mich gerettet hat.“

„Du bringst ihr auch heute noch Opfergaben?“, fragte der Herold unverfänglich.

„Ja“, antwortete die Zogh. „Obwohl sie wahrscheinlich längst nicht mehr lebt. Aber ich bin ihr unendlich dankbar und finde darin meinen Seelenfrieden.“

„Und weshalb trägst du die Sachen in die Trellinda-Höhle?“, bohrte Prandorak weiter.

„Dort hat sie mich hingebracht und versorgt, nachdem sie mich gerettet hatte. Aber warum fragt ihr das alles? Was wollt ihr von der Weißen Frau?“

„Wir wollen sie retten“, mischte sich Sestor ein. „Menschen, die genauso aussehen wie die Weiße Frau, verfolgen sie. Vor denen wollen wir sie warnen.“

„Aber du hast ja gesagt, dass du nicht weißt, wo sie sich aufhält“, unterbrach ihn Prandorak. „Wir haben jetzt keine Fragen mehr. Du kannst gehen.“

Nachdem sie gegangen war, warfen sich die beiden Männer einen kurzen Blick zu und nickten. Wieder einmal dachten sie das Gleiche und brauchten es nicht auszusprechen. Beide waren davon überzeugt, dass die Frau sie zu Larradana führen würde. Prandorak schickte nach einem der ihm unterstellten Boten. Diesem befahl er, die von der Replica gerettete Frau zu überwachen und ihm sofort Bescheid zu geben, sobald sie ihr Haus mit Opfergaben verlassen würde.

Bereits am nächsten Morgen war es soweit. Der von Prandorak ausgesandte Bote berichtete, dass sich die Frau mit ihrem Korb zur Trellinda-Höhle aufgemacht hatte. Der Herold und der Eisgraf schlangen die Reste ihres Frühstücks hinunter und brachen dann ebenfalls auf.

Ihr Weg führte sie über den steinigen Sordas-Rücken, der in einer windgeschützten Lage von hohen Gipfeln einiger gewaltiger Bergmassive umgeben war. Sie kamen immer wieder an ausgewaschenen Felsmulden vorbei, in denen sich knorrige Krüppelbäume, die winzigen, gelben Lederblümchen und das harte, blaue Sefirgras angesiedelt hatten. Ansonsten gab es außer Moosen und Flechten in dieser Höhe kaum Vegetation. Am Ende einer zweistündigen Wanderung erreichten Sestor und Prandorak schließlich die Kante des Bergkamms. Nach einem kurzen Abstieg gelangten sie zum Eingang der einsamen, weit von den bevölkerten Höhlen entfernt liegenden Trellinda-Kaverne.

Gedankenschnell duckten sich beide Männer hinter einem Geröllbrocken. Gerade stand die Zogh-Frau im Begriff, die Höhle zu verlassen. Nachdem sie sich außer Sichtweite befand, betraten Sestor und Prandorak die Höhle. Sie war nicht besonders groß, ihr Erscheinungsbild dagegen außergewöhnlich. Auf der rechten Seite verlief eine Felsrampe, wie ein breiter Weg mit einer Brüstung, bis fast zur Höhlendecke. Dort endete die Rampe unvermittelt vor der gewachsenen Wand. In der linken, hinteren Ecke hatte sich aus dem Gestein eine balkonartige Galerie ausgebildet, die nahezu künstlich wirkte. Graue Adern durchzogen die im Licht der einfallenden Sonne glitzernden Wände.

„Ilumit und Bergkristalle“, murmelte Sestor.

Den Korb mit den „Opfergaben“, den die Zogh im hinteren Teil der Höhle abgestellt hatte, fanden die beiden Männer unberührt vor.

Sie näherten sich dem Korb und stellten fest, dass er mit Früchten und den nahrhaften Wurzeln des Sogorth-Strauchs gefüllt war.

„Der Herold der Höhlen und ein Eisgraf. Welch eine Ehre!“ In der wohlklingenden Stimme schwang ein belustigter Unterton. Die beiden Männer fuhren herum. Noch in der Drehung überkam Sestor die verstörende Erkenntnis, dass er tatsächlich nicht in der Lage sein würde, von seinem „vernichtenden Blick“ Gebrauch zu machen.

Die Weiße Frau lehnte lässig an einer von drei unregelmäßigen Felssäulen, die bis zur Decke der Höhle empor reichten.

Als sie die Sprachlosigkeit der Männer gewahrte, fügte sie sarkastisch hinzu: „Ihr seid also gekommen, um mich vor einer Gefahr zu warnen, die mir seit mehr als fünftausend Jahren bekannt ist.“

„Das war nur ein Vorwand“, gab Sestor unumwunden zu. „Ich habe das nur deshalb zu der Frau gesagt, weil ich mit Euch sprechen wollte. Ich weiß, dass Ihr auf der Flucht seid. Könnt Ihr Euch aber ewig verstecken? Die Eisgrafen sind die Beschützer der Eisbäume. Die Eisbäume sind jedoch fest an einem Ort verwurzelt. Sie können nicht fliehen, wenn sie bedroht werden. Also ist die Flucht auch niemals eine Lösung für diejenigen, die zu ihrem Schutz ausersehen sind. Als ich darüber nachgedacht habe, bin ich auf eine wichtige Frage gestoßen: Kann Flucht überhaupt eine Lösung sein? Solltet Ihr nicht in Erwägung ziehen, den Kampf anzunehmen?“

Larradana nahm nun zum ersten Mal das Bild des Eisgrafen mit einem gewissen Interesse durch die schwarzen Sehschlitze ihrer gelben Augen in sich auf.

„Ihr seid ein bemerkenswerter Mann, Graf Sestor“, stellte sie fest. „Ihr seid nicht hergekommen, um mich zu warnen. Aber Ihr seid auch nicht hergekommen, um mir gute Ratschläge zu erteilen. Was also wollt Ihr wirklich?“ Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich Sestor den Vorhang seiner schwarzen Haare aus dem Gesicht: „Die Wahrheit ist: Ich suche die Wahrheit.“

*

Zwischen den beiden völlig unterschiedlichen Lebensformen hatte sich unbewusst eine stillschweigende Übereinkunft herausgebildet. Wenn Jalbik Gisildawain an seinem Lieblingsplatz auf dem Hügel Karadastak saß, zog sich der Mon’ghal vollständig aus dem Geist des Freibeuterkapitäns zurück. So konnte der Mann von Borgoi seine Gedanken frei schweifen lassen, wenn er das wunderschöne Panorama der Klippen von Trofft und der Wasischen Atolle genoss, die der Insel im Westen vorgelagert waren.

Stets löste dieser Anblick der unendlichen Weiten des Meeres eine unstillbare Sehnsucht in dem Mann aus, der die meiste Zeit seines Lebens auf hoher See verbracht hatte.

Der Mon’ghal befand sich währenddessen in einem Dämmerzustand. Er hatte feststellen müssen, dass sich der geistige Kontakt zu den Menschen von Borgoi für ihn wesentlich schwieriger und damit auch anstrengender gestaltete als zu den Obesiern. Unmerklich, aber stetig waren die Zeiten länger geworden, in denen er vollkommene Ruhe benötigte.

Jalbik Gisildawain hatte längst bemerkt, dass es da irgendeine Störung in seiner Geistestätigkeit gab. Aber noch war er der Ursache nicht auf die Schliche gekommen. Manchmal zermarterte er sich das Hirn, gab dann aber die Anstrengungen erfolglos wieder auf.

In die Betrachtung der Klippen und Atolle versunken, blieb ihm eine ganze Weile verborgen, dass sich auf dem Pfad zu der hochgelegenen Steinbank ein Mann näherte. Bei seinem Anblick erschrak er. Dieser Mann war ihm nicht geheuer, obgleich er einst als einfacher Matrose auf seinem Freibeuterschiff gedient hatte. Nur allzu gut erinnerte sich der Kapitän noch an jene Nacht, in der die sturmgepeitschte See immer wieder für Sekunden von zuckenden Blitzen taghell beleuchtet wurde.

Der Ankömmling war damals gerade damit beschäftigt gewesen, eine Leine des Rahsegels an einem Spill festzubinden, als der Blitz einschlug. Das grelle Flackern hatte den Matrosen vollständig eingehüllt. Eigentlich hätte nur noch ein Häufchen Asche von ihm übrig sein dürfen. Die Männer der Besatzung trauten ihren Augen nicht. Der erloschene Blitz hatte dunkle Verbrennungen auf den Planken des Oberdecks hinterlassen. Brinngulf Sterndek zerrte jedoch unbeirrt weiterhin an dem Seil und mühte sich ab als sei nichts geschehen.

Nach Beendigung dieser Kaperfahrt hatte der Mann abgeheuert. Das löste bei Jalbik Gisildawain seinerzeit eine befreiende Erleichterung aus. Der Kapitän war ein Draufgänger und als Freibeuter allerhand gewohnt. Aber er fürchtete sich vor allem, was nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien.

„Hallo, Kapitän, lange nicht gesehen“, rief der Ankömmling kauend und spuckte ein Stück Speckschwarte aus. Jalbik Gisildawain kniff die Augen zusammen und beobachtete den ehemaligen Matrosen mit versteinertem Gesicht. Unbeweglich blieb er auf der Bank sitzen, bis Brinngulf Sterndek unmittelbar vor ihm stand.

„Was wollen Sie?“, fragte der Freibeuter. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Der Mon’ghal war erwacht.

„Ich biete Ihnen das beste Geschäft Ihres Lebens an“, verkündete der Besucher mit einem Überschwang, der in keiner Weise zu ihm passte. „Sie verdienen mehr als bei einer guten Prise und brauchen praktisch überhaupt nichts dafür zu tun.“ Mit einer weit ausholenden, dramatischen Geste riss er das prall gefüllte Säckchen von seinem Gürtel los und knallte es neben Jalbik Gisildawain auf die Steinbank. Er öffnete die Schnur, die den Beutel am oberen Ende zusammenhielt, sodass der Kapitän den Inhalt sehen konnte: glänzende Silberstücke.

„Und was soll ich dafür tun?“, fragte Jalbik Gisildawain vorsichtig.

„Eigentlich nichts, wie ich bereits gesagt hatte“, erwiderte Brinngulf Sterndek. „Es handelt sich lediglich um einen Gefangenenaustausch. Sie geben mir Xaranth und bekommen dafür Ulban, den Höchsten Priester des Wissens. Das ist für Sie sogar noch von großem Vorteil, weil der Alte viel ungefährlicher ist als der Bewacher der Gruft.“ Das hinter dieser Forderung stehende Wissen hätte dem Freibeuter eigentlich einen unbändigen Schreck einjagen müssen. Aber Brinngulf Sterndek war ihm ohnehin dermaßen unheimlich, dass ihn selbst solche Kenntnisse nur mäßig überraschten. Daher versuchte er erst gar nicht, die Tatsache zu leugnen, dass er jenen merkwürdigen Mann gefangenhielt.

„Woher wissen Sie davon?“, erkundigte er sich misstrauisch.

„Jeder hat seine Geheimnisse“, entgegnete sein ehemaliger Matrose zugeknöpft.

Jalbik Gisildawain hätte den Handel sofort angenommen. Aber der Mon’ghal sah seinen mühevoll aufgebauten Plan in Gefahr. Was sollte er mit einem alten Priester des Wissens anfangen? Xaranth wäre genau der Richtige gewesen, der ihm geeignet erschien, die schlummernde Ovaria aufzuspüren und in Sicherheit zu bringen. Er musste jedoch vorsichtig sein. Offenbar kannte der Ankömmling den Kapitän und wusste, wie sich ein Freibeuter in einer solchen Situation verhielt.

 

„Was wäre wenn ich diesen Tausch ablehnen würde?“, wollte Jalbik Gisildawain wissen.

Brinngulf Sterndeks Gesichtszüge veränderten sich schlagartig.

„Sie wären so gut wie tot“, erklärte er mit eisiger Stimme. „Ich habe Ihnen nicht gesagt, in wessen Auftrag ich handele, weil Sie sich ohnehin nicht die Macht vorstellen können, die dahintersteht. Sie haben keine Wahl.“

Dann huschte plötzlich ein wissendes Lächeln über das Gesicht des ehemaligen Matrosen. Er ließ sich neben Jalbik Gisildawain auf der Bank nieder und schaute eine Weile hinaus aufs Meer.

Schließlich sah er den Kapitän von der Seite her an und sagte: „Ich hätte da noch einen weiteren Anreiz. In Xotos gibt es einen Mann namens Plarcadt. Er ist nicht nur der Ducarion des Gorilla-Heeres, sondern er weiß auch vieles, was normalen Menschen nicht bekannt ist. Er kennt beispielsweise den Ort, an dem die letzte Stammmutter der Mon’ghale schlummert. Und sicherlich wäre er auch bereit zu helfen, wenn sie in Sicherheit gebracht werden müsste.“

Noch in der gleichen Nacht fand der Gefangenenaustausch statt. Tannea Sterndek brachte Ulban und einen riesigen Vorrat des Gegengifts zu dem herrschaftlichen Sitz des Freibeuters auf dem Hügel Karadastak. Brinngulf Sterndek hatte sich ausbedungen, allein mit Xaranth zu reden, um ihn von der Sinnhaltigkeit seiner Freilassung und den damit verbundenen Folgen zu überzeugen.

Nicht ohne Scheu betrachtete er den hochgewachsenen Mann mit den fremdartigen, gelben Augen. „Ich wurde geschickt, um Sie hier abzuholen“, eröffnete er dem Bewacher der Gruft.

„Von wem?“, fragte jener zurück.

Brinngulf überbrachte daraufhin seine Botschaft: „Ich soll Ihnen folgendes ausrichten: Sie haben den Treueschwur gebrochen. Aber Sie bekommen eine zweite Chance. Anstelle der Salastra werden Sie eine noch viel mächtigere Waffe erhalten. Dafür müssen Sie jedoch einen erneuerten Treueschwur leisten. Und dieses Mal wird es nicht so einfach werden wie das Bewachen einer Gruft und einer goldenen Pforte. Sie werden gegen mächtige Gegner kämpfen müssen. Wie entscheiden Sie sich? Kampf oder Tod?“

Die gelben Augen des Bewachers erschienen völlig ausdruckslos, als er erwiderte: „Worin liegt da der Unterschied?“ Brinngulf Sterndek konnte ihm diese Frage nicht beantworten. Das hatte Xaranth auch nicht erwartet. „Gehen wir!“, sagte er nur.

*

Baradia war beeindruckt von der gewaltigen Menschenansammlung, die überwiegend aus Shondo bestand. Sie hatten am Rand des Regenwalds eine Fläche gerodet, doppelt so groß wie die Besitztümer des Monasteriums.

„Eine beeindruckende Streitmacht“, meinte die Rektorin anerkennend.

„Das ist keine Armee. Das sind Minenarbeiter“, widersprach der große, schwarzhäutige Mann mit den langen, schwarzen Haaren.

„Alle Shondo sind Krieger“, entgegnete Baradia. „Auch wenn sie zwischenzeitlich in Bergwerken gearbeitet haben.“

Der erste Teil ihres Planes war aufgegangen.

Das neu eingerichtete Collegium, die Übergangsregierung von Surdyrien, hatte Baradias Ansprüche auf das Erbe Senesia Sidas nicht anerkannt. Nach dem Tod des sindrischen Hochkönigs Gylbax, der den gesamten Besitz der Halbschwester Baradias annektiert hatte, schloss Baron Schaddoch einen denkwürdigen Handel mit dem Nachfolger des Hochkönigs ab. Er erkannte die Ansprüche des neuen Hochkönigs Yxistradojn I. an. Danach übereignete der neue Hochkönig das gesamte Erbe Senesia Sidas einschließlich der Bergwerke dem surdyrischen Volk.

Baradia und ihr Verbündeter Uggx, der Schnorst von Oot, gaben sich damit aber noch nicht geschlagen. Als Oberhaupt der Shondo übte Uggx seinen Einfluss auf die Minenarbeiter aus, die mehrheitlich aus den Urwäldern von Oot stammten. Zuerst überredete er sie zu Arbeitsniederlegungen. Als dies nicht das gewünschte Ergebnis zeitigte, forderte er sie auf, Surdyrien zu verlassen und nach Oot heimzukehren. Die meisten waren seinem Ruf gefolgt und lagerten nun in der Nähe von Baradias Monasterium, das den Namen „Paradies der Küste“ trug. Der Besitzer einer in Lumbur-Seyth beheimateten Handelsflotte hatte die Shondo nach Oot gebracht. Baradia nutzte die Gunst der Stunde und überredete den Flottenbesitzer, in einer Bucht zehn Meilen nördlich des Monasteriums eine kleine Ansiedlung mit einem Hafen zu gründen. Für die Ausführung der erforderlichen Arbeiten stellte Uggx einen Teil der aus Surdyrien überführten Shondo zur Verfügung. Der Rest bekam die Aufgabe, die zur Versorgung der Menschen erforderlichen Plantagen und Viehweiden anzulegen.

Vor rund einhundertundsechzig Jahren hatte Baradia gemeinsam mit ihrem Vater, Berion, einen Weg gefunden, die Alterung des menschlichen Körpers zu besiegen. Um den „Odem des Lebens“ herstellen zu können, wurden der Extrakt einer Orchideenart und Ilumit benötigt. Genau darin bestand jedoch der Schönheitsfehler des zweiten Teils von Baradias Plan.

„Wir sind im Begriff, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen“, bemerkte Uggx. Durch den Abzug der Shondo aus Surdyrien war der dortige Ilumit-Abbau weitgehend zum Erliegen gekommen. „Nein“, widersprach Baradia. „Wir lösen zwei Probleme gleichzeitig. Du wirst die Shondo aus Surdyrien gegen die Rebellen in Sna-Snoot führen. Danach verkaufen wir die besiegten Rebellen als Arbeitskräfte nach Surdyrien. Genauer gesagt: Wir tauschen sie gegen Ilumit ein.“

Nach seiner Rückkehr aus Lumbur-Seyth und Surdyrien, wo Uggx die Interessen Baradias im Zusammenhang mit dem Erbe Senesia Sidas vertreten hatte, erhoben sich die Shondo in seinem eigenen Land gegen ihn. Sie fanden sich nicht länger bereit, einen Schnorst von Oot anzuerkennen, der aus ihrer Sicht ein bloßer Handlanger der „Gütigen Frau“ war. Sie verwehrten ihm sogar den Zutritt zu der heiligen Stätte Sna-Snoot. Um seine Unsterblichkeit zu erhalten, blieb Uggx nichts anderes übrig, als mit Baradia zusammenzuarbeiten.

„Sna-Snoot ist praktisch uneinnehmbar“, entgegnete der Schnorst von Oot resigniert. „Ich kann die heilige Stadt nicht erobern, und schon gar nicht mit Minenarbeitern.“

„Lass das meine Sorge sein“, beruhigte ihn Baradia. „Ich werde jetzt in das Paradies der Küste zurückkehren und hoffe, dass mich Stilpin dort schon erwartet. Auch ihm werden wir die Unsterblichkeit anbieten müssen. Aber das ist er für uns wert.“

Bei ihrer Rückkehr fand Baradia tatsächlich bereits den Priester aus Modonos vor. Er trug die rote Robe, die den Mitgliedern des Leitungsgremiums der Akademie vorbehalten war. In der Hierarchie des Ordens standen sie zwischen dem Inneren Zirkel und den einfachen Priestern. Stilpin mochte um die vierzig Jahre alt sein, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge mit ausgeprägten Wangenknochen und kurzes, braunes Haar. Mit seinen leicht federnden, geschmeidigen Bewegungen und seiner dunklen Stimme erregte er Baradias Aufmerksamkeit weit mehr als sie dies erwartet hätte. Obwohl sie in gewissen Zeitabständen die Akademie von Modonos immer mal wieder besuchte, hatte sie ihn dort noch nie gesehen. Stilpin war ihr von einem ihrer Kontaktmänner in der Akademie empfohlen worden. Baradia begegnete ihm zunächst mit Skepsis, weil es sich bei dem Mann aus dem Leitungsgremium bekanntermaßen um einen Vertrauten Atarcos handelte. Dadurch verfügte er aber gleichzeitig auch über ausgezeichnete Informationsquellen. Deshalb hatte sie ihm schließlich doch die Aufgabe zugeteilt, die ihr von ungeheurer Wichtigkeit erschien. Sie bestand in der Überwachung des Höchsten Priesters.

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