Berufsbildung in der Schweiz (E-Book)

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

1.5.2Finanzierung öffentlicher Lehrwerkstätten

Die Finanzierung der Lehrwerkstätten wie auch der meisten schulisch organisierten Ausbildungen – mit Ausnahme der privaten Fachschulen – erfolgt zum grossen Teil über die öffentliche Hand, mit Geldern von Bund, Kantonen und Gemeinden. Nur ein geringer Teil der Kosten wird über Verkäufe von in der öffentlichen Lehrwerkstätte verfertigten Produkten abgedeckt, wobei es allerdings je nach Typus grosse Unterschiede gibt. In einigen Fällen ist es so, dass die Lernenden mit der Lehrwerkstätte einen Lehrvertrag abschliessen und von ihr auch Lohn erhalten, in andern Fällen erhalten sie nur ein Taschengeld oder entrichten sogar ein Schulgeld. Entsprechend sind sie eher Lernende oder eher Schülerinnen und Schüler.

1.5.3Gründe für die Schaffung öffentlicher Lehrwerkstätten

Als zentrale Motive für die Gründung von öffentlichen Lehrwerkstätten im 19. wie später auch im 20. Jahrhundert lassen sich folgende ausmachen:

•Förderung der industriellen Entwicklung,

•Herausbildung einer Elite an Berufsleuten,

•Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit des Gewerbes,

•Entwicklung einer lokalen gewerblich-industriellen Produktion,

•Beseitigung von Fachkräftemangel in besonders nachgefragten Berufen, bei denen Ausbildungsplätze kaum angeboten werden,

•Gewährleistung von Ausbildungsmöglichkeiten in kostenintensiven beruflichen Grundbildungen,

•Ermöglichung einer beruflichen Grundbildung für schulleistungsstarke Jugendliche, die gleichzeitig eine Berufsmaturität anstreben,

•Bereitstellung von beruflichen Grundbildungen für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen in Ausbildungen, die zum Beispiel zu einem eidgenössischen Berufsattest (EBA) führen.

Diese Motivlagen treten auch häufig kombiniert auf. Die Zielsetzung, eine spezialisierte Facharbeiterschaft heranzubilden, spielt auch heute noch – gerade in der Entwicklungszusammenarbeit in Ländern, die eine Industrie aufbauen wollen oder auf mehr fachlich qualifiziertes Unternehmertum setzen – eine wichtige Rolle.

1.5.4Zur Rolle öffentlicher Lehrwerkstätten in der Gründungsphase der schweizerischen Berufsbildung

In den Gründerjahren der schweizerischen Berufsbildung Ende des 19. Jahrhunderts bestand die Vorstellung, dass sich ein grosser Teil der beruflichen Bildung systematisch in Lehrwerkstätten organisieren lasse (Gonon, 2002c). Sie sollten eine Elite von gut ausgebildeten Facharbeitern und Vorgesetzen ausbilden, die mit den Anforderungen der modernen Produktion vertraut waren als Basis für die Gründung neuer Unternehmen. Dieser vor allem in Frankreich entwickelte Ansatz schien insbesondere den Anforderungen des industriellen Zeitalters gerecht zu werden (Bücher, 1877). Die französischen Ateliers publics waren denn auch Vorbild für viele Neugründungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrwerkstätten der Stadt Bern, die Metallarbeiterschule in Winterthur, aber auch die Möbelschreinerschule in Zürich wurden von gewerblicher Seite gegründet und orientierten sich an solchen Vorbildern.

In den 1970er-Jahren wurden öffentliche Lehrwerkstätten wiederum als Alternative zur traditionellen Berufslehre gesehen, da diese vor allem gegenüber den Gymnasien als defizitär betrachtet wurde (Gonon & Müller, 1982). Besonders für anspruchsvolle Berufe, für die zu wenig Ausbildungsplätze bestanden, schien sich die Einführung einer solchen Einrichtung zu empfehlen.

Auch kulturelle Vorlieben spielen bei der Organisation der beruflichen Grundbildung eine Rolle: In der Westschweiz ist ganz allgemein die Beteiligungsquote an schulischer Bildung auf der Sekundarstufe II höher, daher gibt es auch mehr öffentliche Lehrwerkstätten als in der deutschen Schweiz (Wettstein & Amos, 2010, S. 11; vgl. auch Abbildung 1-7).

1.5.5Vor- und Nachteile öffentlicher Lehrwerkstätten

Die Lehrwerkstätte hat gegenüber anderen Ausbildungsformen Vor-, aber auch Nachteile. Spezifische Kenntnisse können off the job vertieft und systematischer vermittelt werden, wenn andere Zwecke, wie zum Beispiel das Produzieren oder das gleichzeitige Erbringen einer Dienstleistung wegfallen. Andererseits wird dieser Form gerne nachgesagt, dass sie weniger auf betriebliche Praxisbedürfnisse eingehen könne und vor allem kostenintensiver sei. In den letzten Jahren wurden etwa in der Uhrenindustrie tatsächlich vermehrt auch duale Berufsbildungsformen gefördert, während die Ausbildungsplätze in Lehrwerkstätten stagnierten oder gar rückläufig waren. Dennoch wird diese Form beruflicher Bildung weiterhin Bestand haben, vor allem als Ergänzung oder als besondere Spezialisierung, die durch die übliche Form dualer Berufsbildung nur teilweise abgedeckt werden kann. Wettstein und Amos plädieren in ihrer Studie «Schulisch organisierte berufliche Grundbildung» dafür, den Gegensatz zwischen Lehrwerkstätte, Fachschule und dual organisierter beruflicher Bildung nicht überzubewerten (und zu ideologisieren), da sich in der organisatorischen Praxis beruflicher Grundbildung viele Mischformen herausgebildet haben. Die Lehrwerkstätte sei weniger eine Konkurrenz innerhalb der Berufsbildung, sondern eher eine zu den allgemeinbildenden Schulen (a.a.O., S. 36).

1.5.6Beispiel
Lehrwerkstätten Bern (LWB)

Auf Initiative des lokalen Gewerbes wurden Ende der 1880er-Jahre auch in Bern neue Lehrwerkstätten für zunächst insgesamt 20 Lehrlinge gegründet, um die Qualität und Wettbewerbsfähigkeit der Schuster, Schreiner, Schlosser und Spengler zu erhöhen, deren Branchenvertreter sich auch durch ausländische Konkurrenz bedroht sahen. Das Schuhmachergewerbe war allerdings bereits im Gründungsjahr 1888 im Niedergang, sodass die berufliche Ausbildung der «Lädere», wie die Lehrwerkstätten Bern (LWB) bis heute bezeichnet werden, für Schuster noch vor der Jahrhundertwende eingestellt und an den LWB stattdessen für den aufstrebenden Mechanikerberuf ausgebildet wurde (Gerber, 2013, S. 17). Nach französischem Vorbild bestand neben der eigentlichen beruflichen Bildung bis im Jahre 1905 auch ein Konvikt, das auswärtige und armengenössige Lehrlinge beherbergte (a.a.O., S. 30). Neben der beruflichen Grundbildung gewann im Verlaufe der Jahre auch die Meister- und Technikerausbildung an Bedeutung, ehe sich die LWB nun in der jüngsten Phase wieder stärker auf die eigentliche Lehrlingsausbildung konzentrierten. Getragen werden die LWB von der öffentlichen Hand, vornehmlich vom Kanton, daneben spielt auch der Erlös verkaufter Produkte eine gewisse Rolle für die Finanzierung. Der Verkauf von Messingkaffeekannen, Schreibtischen und Spezialsägen, um nur einige historische Verkaufsschlager zu nennen, wurde allerdings vom lokalen Gewerbe eher misstrauisch beobachtet. Die Ausbildung hingegen fand von jeher hohe Anerkennung; viele LWB-Jugendliche absolvieren heute auch die Berufsmaturität, und bereits bei den ersten internationalen Berufswettbewerben gewannen LWB-Absolventinnen und -Absolventen Medaillen.

Heute bieten die LWB jährlich 170 Vollzeitlehrstellen an – berufliche Grundbildungen im EFZ-Bereich für Polymechanik, Elektronik, Schreinerei, Metallbau und Spenglerei, daneben auch zweijährige berufliche Grundbildungen mit eidgenössischem Berufsattest. Für die insgesamt über 450 Lernenden hat sich in den letzten Jahren wieder eine stärkere Ausrichtung auf die praktische Ausbildung ergeben, die im Verlaufe der Geschichte stets an Bedeutung verloren hatte (a.a.O., S. 142).


Abbildung 1-7: Berufliche Grundbildung in öffentlichen Lehrwerkstätten (Auswahl). Eigene Darstellung
Porträt Maybe Simons
Eine Schule? Fünfzehn Werkstätten!
Die meisten Lernenden absolvieren ihre berufliche Grundbildung im Dreieck von Lehrbetrieb, Berufsfachschule und überbetrieblichem Kurs. Eine besondere Form der beruflichen Grundbildung findet sich in Biel.

Maybe Simons, 19, absolviert eine berufliche Grundbildung in einer Lehrwerkstätte


Rätsel: Es sieht wie eine Schule aus, aber die Klassenzimmer sind Werkstätten. Die Produkte, die hier entstehen, werden in der Regel nicht verkauft, und statt Lohn gibt es 13 Wochen Ferien. Schwierig? Jenseits der Saane weiss man rascher Bescheid: Lehrwerkstätten sind vor allem in der Romandie verbreitet.

Eine solche Lehrwerkstätte ist die Technische Fachschule (Lycée technique) in Biel, die organisatorisch zum Berufsbildungszentrum BBZ gehört. Sie ist in einem Gebäude untergebracht, in dem General Motors bis 1975 Autos zusammensetzte – ein dreistöckiger Bau, der 15 hochwertig ausgestattete Werkstätten beherbergt. Hier erlernen 200 junge Erwachsene einen von sechs technischen Berufen, Mikrozeichnerin EFZ oder Elektroniker EFZ beispielsweise; angeboten wird auch die technische Berufsmaturität. Im zweiten Obergeschoss, im Atelier 205, findet man die Lernenden der beruflichen Grundbildung Uhrenarbeiter/in EBA, einer zweijährigen Lehre, die das Haus nur in Französisch anbietet. Eine der Lernenden ist Maybe Simons. Sie ist im zweiten Lehrjahr.

Maybe Simons arbeitet gerade am Schraubstock ihrer Werkbank. Konzentriert richtet sie mit einer Feile die Platine einer Uhr zu, manchmal greift sie zur Laubsäge: «Ich verändere Platine und Brücke nach meinen Vorstellungen», erklärt sie. «Am Ende darf ich die Uhr behalten – ein Werk, wie niemand auf der Welt es besitzt!» Die 19-Jährige arbeitet erst seit wenigen Tagen an diesem Projekt, es ist der Lohn für ihre guten Leistungen. Maybe Simons beherrscht schon heute die wichtigsten Techniken ihres Berufs und ist in der Lage, drei mechanische und Quarz-Uhrwerke mit jeweils rund 50 Einzelteilen vollständig selbst zu montieren. «In der Lehrwerkstatt kann ich immer neue Arbeitsschritte einüben», erklärt sie. «Wenn ich meine Lehre in einem Betrieb absolvieren würde, müsste ich öfter Serien fertigen.»

 

Wie sich Serienarbeit anfühlt, erlebt Maybe Simons im Praktikum, das sie an einem Tag pro Woche ausserhalb der Lehrwerkstätte absolviert. Hier lernt sie die Produktionsabläufe und das Tempo einer konkurrenzfähigen Firma kennen. Solche Praktika besuchen alle Lernenden über die gesamte Ausbildungszeit. «Auch wenn in diesen Betrieben keine reglementierte Ausbildung stattfindet, sind wir mit ihnen in Kontakt und tauschen Beobachtungen über Fähigkeiten und Verhalten der Lernenden aus», sagt Berufsbildner Philipp Wittwer. Einen weiteren Lernort in der Ausbildung von Maybe Simons bildet der einmonatige, überbetriebliche Kurs im ersten Lehrjahr, an dem auch die Lernenden aus der dualen Grundbildung teilnahmen. Thema: Metallbearbeitung. «Wenn ich eine dreijährige Lehre zur Uhrmacherpraktikerin absolvieren würde, würde ich 25 bis 30 Wochen an diesem Thema arbeiten. Dann könnte ich Metallteile drehen und reparieren», weiss Maybe Simons.

Neben Maybe Simons befinden sich sechs andere Lernende im zweiten Lehrjahr. Sie gleichzeitig auszubilden, verlangt besondere Einrichtungen. So befinden sich auf den Werkbänken auch Bildschirme. Hier demonstriert der verantwortliche Berufsbildner via Kamera einzelne Arbeitsschritte. Ebenso modern ist ein Mikroskop mit doppeltem Okular, das der Lehrperson ermöglicht, Lernende einzeln zu instruieren. Wie gut sie aufgepasst haben, zeigen wöchentliche Praxisprüfungen. Spezielle Ansprüche stellt eine Lehrwerkstätte auch pädagogisch: Weil die Lernenden eine grosse Gruppe bilden und ältere Lernende fehlen, muss immer wieder um ihre Konzentration gekämpft werden, wie Philipp Wittwer formuliert: «Die Arbeit an den Sozialkompetenzen der Jugendlichen gehört zu unserem Auftrag.»

In einigen Monaten wird Maybe Simson das Qualifikationsverfahren durchlaufen. Ihre Chancen am Arbeitsmarkt sind sehr gut, sagt Philipp Wittwer. Vielleicht will sich Maybe Simson zudem weiterbilden. Die Möglichkeit dazu bieten beispielsweise Abendkurse, die zum Fähigkeitszeugnis führen. Tagsüber könnte sie einer regulären Arbeit nachgehen – und ihren ersten richtigen Lohn verdienen.


Exkurs: Lehrwerkstätten, Ausbildungszentren und LernstättenDient die Erzeugung von Dienstleistungen oder Produkten in einem Betrieb der Vermittlung von Qualifikationen, spricht man von Lernen off the job. Es erfolgt an Orten, die über Werkstätten, Lehrlabors, Übungsbüros, Simulatoren oder andere Einrichtungen verfügen, in denen der zu erlernende Arbeitsgang nachvollzogen werden kann. Das können eigene Bildungsinstitutionen sein oder Abteilungen in Betrieben und Schulen. Je nach Branche und Träger spricht man von Ausbildungszentren oder Lehrwerkstätten. Versuche, diese Lernorte mit dem Begriff «Lernstätten» zusammenzufassen, haben sich bisher nicht durchgesetzt.Folgende Einteilung ist üblich:Öffentliche Lehrwerkstätten sind selbstständige Ausbildungsstätten, in denen die berufliche Grundbildung vermittelt wird, alternativ zur Betriebslehre (vgl. vorliegendes Kapitel).Ausbildungszentren sind Lehrwerkstätten oder andere Lernstätten, die von Organisationen der Arbeitswelt getragen werden und der Durchführung von «überbetrieblichen Kurse» dienen (vgl. Kapitel 5.5, Exkurs «Überbetriebliche Kurse»). Im BBG (2002, Art. 16) ist vom «dritten Lernort» die Rede. Oft wird diese Infrastruktur auch für berufsorientierte Weiterbildung und für die höhere Berufsbildung verwendet. Manchmal wird dort sogar Forschung und Entwicklung betrieben, es werden Expertisen angefertigt und neue Verfahren erprobt. Zu Recht sprechen die Träger dann von Kompetenzzentren für die jeweilige Branche.Betriebliche Lehrwerkstätten sind Lernstätten, die von industriellen Grossbetrieben oder Ausbildungsverbünden getragen und in denen die Lernenden durch Vermittlung von Grundfertigkeiten auf die Tätigkeit in der Produktion vorbereitet werden. Sind sie räumlich in die Produktion eingegliedert, werden sie als «Lerninseln» bezeichnet. Oft dienen betriebliche Lehrwerkstätten auch der Ausbildung des Personals von Kunden des Unternehmens. Ist freie Kapazität vorhanden, übernehmen sie manchmal Ausbildungsaufgaben für Lernende anderer Lehrbetriebe oder führen im Auftrag von Verbänden und Kantonen überbetriebliche Kurse durch.Schulwerkstätten sind Räume in Fachschulen, Berufsfachschulen und anderen Bildungsinstitutionen der beruflichen Vor-, Aus- und Weiterbildung mit einer Infrastruktur, die Demonstrationen und Versuche ermöglicht.

1.6Hybride Formen beruflicher Grundbildung

Wer sich gleichzeitig für einen Beruf und ein Hochschulstudium qualifiziert oder beide Qualifikationen unmittelbar im Anschluss aneinander erlangt, erwirbt eine «doppelte» oder «hybride» Qualifikation. «Hybride» Qualifikationen erfordern allerdings ein durchlässigeres Bildungssystem.

1.6.1Durchlässigkeit als Voraussetzung hybrider Qualifikationen

In den meisten Ländern besteht ein tiefer Graben zwischen der beruflichen Bildung und dem Allgemeinbildungssystem. Die gymnasiale Bildung gilt als Schule der privilegierten Schichten, während die Berufsbildung teilweise als zweite Wahl betrachtet wird. Auch dem schweizerischen Bildungssystem wurde schon vorgehalten, dass es Jugendliche sehr früh dazu zwinge, sich für einen Bildungsweg zu entscheiden, und damit gesellschaftliche Unterschiede und mangelnde gesellschaftliche Aufstiegschancen festschreibe.4 Die Tradition eines solch zweigeteilten Bildungssystems wird oft infrage gestellt und durch verschiedene Massnahmen und Angebote aufgeweicht. Einige Reformbemühungen zielten deshalb darauf ab, innerhalb der Berufsbildung die vermittelte allgemeine Bildung auszubauen und stärker auf die nächstfolgende Hochschulstufe auszurichten. Für die berufliche Bildung bedeutsam ist dabei, dass sie so, möglichst ohne Abstriche bezüglich Berufsbefähigung, auch eine vertikale Durchlässigkeit in die tertiäre Bildungsstufe gewährleistet.

Hybride Formen haben in vielen Ländern an Bedeutung gewonnen, so beispielsweise in Österreich, das neben einer Berufsmaturität und fachgebundener Hochschulreife auch eine «Lehre mit Matura» kennt, die eine Berufsausbildung mit einer universitären Hochschulreife kombiniert (vgl. Deissinger et al., 2013; Graf, 2013).

Insgesamt spielt die Durchlässigkeit im Bildungssystem eine immer grössere Rolle. Damit wächst auch der Bedarf nach hybriden Formen beruflicher Bildung. Dies entspricht auch dem Zeitgeist, der Wahlmöglichkeiten offenlassen und Sackgassen vermeiden will. Hybride Formen gibt es auch im Bereich der Brückenangebote (vgl. Kapitel 4.4).



1.6.2Beispiel
Berufsmaturität

Die Einführung der Berufsmaturität ist für die Schweiz wohl eine der bedeutendsten Reformen des Bildungswesens der letzten 20 Jahre. Sie zielte einerseits auf eine Steigerung der Attraktivität der Berufsbildung und andererseits auf einen Ausbau der Beteiligung auf der tertiären Hochschulstufe (Gonon, 2013).

In den 1990er-Jahren wurde im Zuge des Aufbaus der Fachhochschulen und angesichts steigender Nachfrage nach Hochschulabsolventen bzw. tertiär Gebildeten die ehemalige Berufsmittelschule zur Vorbereitung auf die Berufsmaturität ausgebaut, mit dem Ziel den prüfungsfreien Übertritt an eine Fachhochschule zu ermöglichen.

Die Berufsmaturität (BM) ist definiert als erweiterte und vertiefte Allgemeinbildung in Ergänzung zur beruflichen Grundbildung (vgl. Porträt Lukas Signer). Ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis ist integraler Bestandteil des BM-Abschlusses. Die Berufsmaturität erhält also, wer über ein Fähigkeitszeugnis verfügt und den ergänzenden BM-Unterricht erfolgreich abgeschlossen hat.

Das ursprüngliche Konzept sah vornehmlich eine lehrbegleitende Berufsmaturität vor: In zusätzlichen Unterrichtsstunden sollte neben der regulären beruflichen Grundbildung mehr Allgemeinbildung vermittelt werden. Inzwischen gewinnt eine zweite Form an Bedeutung: eine Vollzeit-Berufsmaturbildung (mit einer berufsbegleitenden Variante) nach Abschluss der beruflichen Grundbildung, die im Kontrast zur lehrbegleitenden Berufsmatura (BM 1) BM 2 genannt wird (vgl. Abbildung 1-8).

Bisher wurden bei der Berufsmaturität sechs Richtungen unterschieden: die technische, kaufmännische, gewerbliche, gestalterische und die naturwissenschaftliche BM sowie die BM im Bereich Gesundheit und Soziales. Nach der neuen Berufsmaturitätsverordnung von 2009 umfasst die BM für alle Absolventinnen und Absolventen vier Bereiche, die im Rahmenlehrplan von 2013 konkretisiert werden: einen Grundlagenbereich, einen Schwerpunktbereich, einen Ergänzungsbereich und interdisziplinäres Arbeiten. Ab Schuljahr 2015/2016 wird der neue Rahmenlehrplan umgesetzt.


Abbildung 1-8: Entwicklung der lehrbegleitenden Berufsmaturität (BM 1) und der Berufsmaturität nach der beruflichen Grundbildung (BM 2). Quelle: BFS (2011b); eigene Grafik und Er­gän­zun­gen

Es gibt rund 200 Schulen, die die BM 1 bzw. die BM 2 anbieten: Berufsfachschulen, Handelsmittelschulen, Lehrwerkstätten und einzelne Privatschulen.

Seit 2005 besteht auch eine Passerelle, die durch die Vermittlung zusätzlicher Allgemeinbildung den Zugang zu den universitären Hochschulen ermöglicht. Bis 2011 nutzten gut 2000 Absolventinnen und Absolventen diesen Übergang, um von der Berufsmaturität zum universitären Hochschulstudium zu gelangen (Gonon, 2013, S. 127).

Im Jahr 2010 wurden 12500 Berufsmaturitätszeugnisse ausgestellt. 13 Prozent aller Lernenden erwarben den BM-Abschluss parallel zum EFZ (BM 1). Im selben Jahr 2010 erwarben weitere 8 Prozent die BM nach Abschluss der beruflichen Grundbildung (BM 2). Auch zwei Jahre nach Abschluss einer BM haben allerdings nur 50 Prozent der BM-Inhaberinnen und -Inhaber ein FH-Studium aufgenommen. Dem beeindruckenden Aufschwung der Berufsmaturität in kurzer Zeit und ihrem starken Gewicht neben der gymnasialen Maturität steht eine deutlich tiefere Übertrittsquote entgegen, als erwartet wurde. Möglicherweise spielt die gute Arbeitsmarktlage eine Rolle, dass sich viele Berufsmaturanden nicht oder allenfalls später für ein Fachhochschulstudium entscheiden.