Berufsbildung in der Schweiz (E-Book)

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Abbildung 1-9: Lektionentabelle Rahmenlehrplan Berufsmaturität. Quelle: SBFI (2013h), S. 12
Porträt Lukas Signer
Ohne Einsatz erreicht man nichts
«Auch die Berufsbildung braucht gescheite Lernende», sagt Metzgermeister Franz Fässler. Seit zwei Jahren bildet er einen Fleischfachmann aus, der die Berufsmatura macht und darum im Betrieb öfter fehlt, als Fässler zuweilen lieb ist.

Lukas Signer, 17, lernt neben der beruflichen Grundbildung für die gewerbliche Berufsmaturität


In ihm stöhnt manchmal eine Stimme, morgens gegen fünf Uhr. Zu dieser Zeit sitzt der 17-jährige Lukas Signer auf dem Velo, acht Kilometer sind es zwischen Jakobsbad und Appenzell, und tritt sich die Kälte der Nacht aus den Gliedern. Warum tue ich mir das an, fragt die Stimme, einen Beruf mit solchen Arbeitszeiten? Angekommen in seinem Lehrbetrieb, weiss Lukas Signer die Antwort: «Ich lerne Fleischfachmann. Wir stellen anspruchsvolle, hochwertige Nahrungsmittel her. Das gefällt mir.» Meist beginnt der Tag mit Wursten. «Um sieben, wenn sich andere Handwerker erst an ihre Aufgabe machen, haben wir schon viel erledigt.» Dann sitzt Lukas Signer beim Frühstück, zusammen mit der Belegschaft, oben, in der Wohnung seines Chefs. Ihm ist längst warm geworden.

Lukas Signer weiss, dass man ohne Einsatz nichts erreicht. Neben der beruflichen Grundbildung absolviert er die Berufsmaturität (BM), die viel Zusatzarbeit macht. Am Dienstag und am Mittwochnachmittag besucht er die Berufsmaturitätsschule (BMS) am Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrum St. Gallen – elf Lektionen total –, den Mittwochmorgen verbringt er in der Berufsfachschule in Winterthur. An den anderen drei Tagen arbeitet Lukas Signer im Betrieb, manchmal auch samstags. Sein Berufsbildner Franz Fässler sagt: «Die Berufsmaturität ist für die Berufsbildung sehr wichtig. Es kann nicht sein, dass alle talentierten Köpfe in die Gymnasien gehen. Das verlangt von uns Betrieben zeitliche Opfer. Und von den Lernenden Kompromisse. An etwa zehn Samstagen pro Jahr hilft Lukas Signer mit, wenn Not am Mann ist.»

Im Moment beint Lukas Signer aus, neben ihm macht sein Chef die gleiche Arbeit. Zielgenau trennen die Messer Knochen und Fleisch und entfernen überschüssige Fettschichten, zielgenau finden die bearbeiteten Stücke in die Behälter. Manchmal stellt sich Berufsbildner Franz Fässler neben Lukas Signer und gibt ihm Tipps: Um die Haut vom Knochen zu trennen, eignet sich der Wetzstahl besser als das Messer, weil er die Haut nicht verletzt. Lukas Signer nimmt solche Hinweise dankbar entgegen: «Ich bin noch nicht schnell genug, und Geschwindigkeit ist wichtig, auch an der Abschlussprüfung. Man merkt, dass ich häufiger als andere in der Schule bin.» Aber der junge Fleischfachmann zweifelt nicht am Sinn der BM, denn sie eröffnet ihm die Möglichkeit, an einer Fachhochschule zu studieren, auch wenn er im Moment eher daran denkt, sich selbstständig zu machen. Ebenso würde er wieder die lehrbegleitende BM wählen. «Meine Fähigkeiten in Englisch und Französisch sind bescheiden. Mit der BM nach der Lehre hätte ich den Anschluss in diesen Fächern verpasst», glaubt er. In seinem Beruf lernt Lukas Signer keine Fremdsprachen.

Der Unterricht an der BMS habe keine Beziehung zu seinem Beruf, sagt Lukas Signer. Mit ihm zusammen erwerben Köchinnen, Polygrafen oder eine Drogistin die gewerbliche BM, und bei einigen Fächern wie Englisch, Mathematik oder Geschichte wird die siebenköpfige Klasse mit Lernenden der gesundheitlichen und sozialen Richtung ergänzt. «Es ist sogar noch komplizierter», sagt Lukas Signer: «Die BM-Klasse im ersten Lehrjahr besteht nur aus zwei Lernenden. Jetzt haben sie meist mit uns zusammen Schule, in einem getrennten Zimmer. Der Lehrer unterrichtet an beiden Orten und erteilt Aufträge, abwechslungsweise.» Die Lösungen für die Aufgaben sind im Internet abgelegt. Der Disziplin schade das keineswegs, sagt der junge Fleischfachmann. «Wir wissen, dass wir für uns lernen. Was wir in der Schule verpassen, müssen wir zu Hause nacharbeiten.»

Zum Lernen bleibt Lukas Signer neben Arbeit und Schule wenig Zeit, vor allem wenn er am Wochenende dem Bruder und den Eltern auf dem Hof hilft. So setzt er Prioritäten: «Bei Hausaufgaben mache ich die der BMS zuerst. Für den berufskundlichen Unterricht genügt die Fahrt im Zug nach Winterthur, sofern ich im Unterricht gut aufpasse.» Abgesehen vom unterschiedlichen Anspruchsniveau sieht Lukas Signer kaum Differenzen zwischen den Schulen. An beiden Orten werden Lehrmittel eingesetzt, an beiden Orten nutzt man die Möglichkeiten moderner Medien. Ihrem Berufskundelehrer können die Lernenden jederzeit per SMS Fragen schicken, die dieser umgehend beantwortet. Auch er scheint zu wissen: Ohne Einsatz erreicht man nichts.

1.7Formen für leistungsstarke Jugendliche

Die Berufsbildung hat sich seit den 1970er-Jahren stark differenziert. Es gibt ein wachsendes Angebot beruflicher Bildung für leistungsschwächere Jugendliche und je nach Bereich und Stufe ganz unterschiedliche Möglichkeiten auch für Leistungsstarke. Das Berufsbildungsgesetz (BBG, 2002, Art. 18) geht auf Leistungsschwächere ein (vgl. Kapitel 1.8), weist aber auch auf die Möglichkeit hin, die Lehrzeit für besonders befähigte oder vorgebildete Jugendliche zu verkürzen. Für Leistungsstärkere gibt es weitere Angebote, etwa die Möglichkeit zu einem Wechsel in ein anspruchsvolleres Niveau der Grundbildung, Mobilitätsprogramme und bilingualer Unterricht. Einzelne lokale Projektversuche bieten auch die Chance, die berufliche Bildung in englischer Sprache zu absolvieren (vgl. Grassi et al., 2014).

1.7.1Facetten der Leistungsstärke

Leistungsstärke kann ganz unterschiedliche Facetten haben: Sie kann sich auf die schulischen Leistungen beziehen, sie kann sich aber auch in berufspraktischen Fähigkeiten äussern. Bereits die Berufswahl zur Floristin, zum Goldschmied (drei Fachrichtungen) und zu vielen kunsthandwerklichen Berufen ist oft Ausdruck einer spezifischen Leistungsstärke, wenn etwa bereits während der Lehrzeit brillante Ideen umgesetzt werden können. Schliesslich kann sich Leistungsstärke auf besondere künstlerische, musische oder sportliche Leistungsfähigkeit beziehen.6

Leistungsstärke baut in der Regel auf besondere Begabungen auf – und die gilt es auch für die Berufsbildung zu nutzen. Um Begabungsreserven für die Berufsbildung zu mobilisieren, sind daher spezifische Gefässe notwendig, auf die die Eltern und Jugendlichen aufmerksam gemacht werden müssen.7

1.7.2Leistungsstärke im berufspraktischen Bereich: Unternehmertum und Wettbewerbe

Leistungsstarke Jugendliche sind in allen beruflichen Ausbildungen zu finden, darauf sollten Ausbildner und Ausbildnerinnen eingehen, unter anderem durch ein «Enrichment» der Anforderungen und Aufgaben in der betrieblichen Ausbildung (Stamm, Müller & Niederhauser, 2006, S. 67). Zur Förderung von Jugendlichen, die anpacken wollen und zur Umsetzung von Ideen speziell befähigt sind, eignet sich die Berufsbildung besonders gut. Dies kann im Lehrbetrieb oft beobachtet werden. Einige Unternehmen reagieren mit besonderen Massnahmen, indem sie in «Juniorunternehmen» die Selbstständigkeit von Lernenden fördern. Einzelne Abteilungen werden dann zum Beispiel von Lernenden geführt und ganze Betriebseinheiten von ihnen gemanagt. Lernende erlernen hierbei nicht nur entsprechende Fähigkeiten der Führung, sondern können auch Innovationen erkunden, entdecken und erproben.

Im Zusammenhang mit berufspraktischer Leistungsstärke sind auch die Lehrlings- und Berufswettbewerbe zu erwähnen, die einen besonderen Anreiz für Lernende, aber auch für die Betriebe schaffen, ihre Leistungsstärke zu entwickeln (vgl. DBK, 1999) und auch ausserhalb des betrieblichen Alltages zu demonstrieren.


Art in Wood – Schreinerlehrlingswettbewerbe im Kanton Luzern – Beispiel eines regionalen WettbewerbsDer Verband Luzerner Schreiner organisiert jährliche Lehrlingswettbewerbe, die unter einem bestimmten Motto stehen und auf Arbeiten der Lernenden in der Freizeit beruhen. Zunächst wird eine Skizze eingereicht, dann besteht – bei positiver Rückmeldung durch die Jury – die Möglichkeit, ein Produkt an den Maschinen des Lehrbetriebes herzustellen. Eine Fachjury und eine Designjury prämieren die Arbeiten und vergeben beispielsweise einen Innovationspreis. Anschliessend werden die Produkte ausgestellt.Für den Wettbewerb 2013 schufen 61 Schreiner-Lernende aus dem Kanton Luzern Möbelstücke nach eigenen Ideen, die von den Juroren bewertet wurden (Verband Luzerner Schreiner, 2013).

Besonders prestigeträchtig sind die seit Längerem international etablierten Berufswettbewerbe. Schon seit den 1950er-Jahren treten leistungsstarke Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Berufskategorien gegeneinander an und messen ihre Fachkenntnisse und Fähigkeiten in den einzelnen Berufskategorien des Handwerks, der Industrie und des Dienstleistungsbereichs. Die Schweiz ist an diesen Anlässen regelmässig in den vordersten Rängen zu finden und gilt seit Jahren als das erfolgreichste europäische Land. Die gewonnenen Medaillen werden nicht nur als Spitzenleistungen von Einzelnen wahrgenommen, sondern spiegeln gemäss vielen Beobachtern auch generell das Leistungsniveau beruflicher Bildung eines Landes.

An den 42. World Skills Competitions 2013 in Leipzig waren 39 junge Schweizer Berufsleute vertreten, die ausnahmslos mit Preisen heimkehrten und der Schweiz den zweiten Rang in der Nationenwertung bescherten (Schmid, 2013b).

 

1.7.3Leistungsstärke in der Schule: Freikurse und zusätzliche Allgemeinbildung

Für schulleistungsstarke Jugendliche werden bis zu einem halben Tag pro Woche zusätzliche Freifach- oder Förderkurse an Berufsfachschulen angeboten, sofern das Leistungsniveau des Lernenden in Schule und Betrieb ansonsten den Erwartungen entspricht (vgl. Kapitel 5.2). Die Kurse umfassen kreative oder sportliche Angebote, vermittelt werden indes auch ergänzendes Fachwissen und fachliche Fertigkeiten und vor allem Fremdsprachenkenntnisse. Das Angebot ist aber von Kanton zu Kanton recht unterschiedlich.

Seit den 1970er-Jahren bestehen darüber hinaus die Berufsmittelschulen, die mehr Allgemeinbildung vermitteln. Die Vorstellung der Begründer (Sommerhalder, 1989), wonach sich viele Jugendliche eine breitere Allgemeinbildung wünschen, traf zunächst allerdings nur beschränkt zu. Das Wachstum dieses Schultyps trat erst ein, als Anfang der 1990er-Jahre die Berufsmaturität geschaffen und als Voraussetzung für den Eintritt in die damals ebenfalls neu definierten Fachhochschulen bezeichnet wurde.

1.7.4Beispiel
Besondere Einrichtungen für Sporttalente und künstlerisch Leistungsstarke

In der Berufsbildung gibt es wie bei den gymnasialen Mittelschulen Modelle, die es Sporttalenten und beispielsweise auch Balletttänzern und -tänzerinnen ermöglichen, neben intensivem Training einen Abschluss im Rahmen der Sekundarstufe II zu erwerben. Häufig werden hierbei individuelle Regelungen getroffen, für den Tanz gibt es eine eigene Grundbildung Bühnentänzer/in EFZ (vgl. Porträt Thierry Jaquemet).

Die United School of Sports, in Zürich und St. Gallen lokalisiert, parallelisiert die Sportförderung und die berufliche Ausbildung im kaufmännischen Bereich. Die Lernenden werden zwei Jahre in einem Betrieb ausgebildet, nachdem sie vorab den allergrössten Teil der schulischen Ausbildungsanforderungen erfüllt haben. Zwischen Schule und Betrieb werden weitere Vereinbarungen getroffen, die auch von betrieblicher Seite ein gewisses Engagement erfordern.

Neben dieser Form von prinzipiell allen Berufen und allen Lernenden offenstehenden Möglichkeit, bei entsprechenden schulischen Voraussetzungen, gibt es weitere Einrichtungen, die besondere Begabungen ausschliesslich fördern. Hier wären die meist privat oder gemeinnützig organisierten Akademien oder Spezialschulen zu nennen, so zum Beispiel eine Musikschule für Jazz oder eine Clown- bzw. Zirkusartistikschule.

Porträt Thierry Jaquemet
Das Tanzen leben, das Leben tanzen
Die Schweizer spinnen: Sogar eine so künstlerische Tätigkeit wie den Balletttanz verpacken sie in eine berufliche Grundbildung. Das ist nur scheinbar bieder, wie Thierry Jaquemet weiss.

Thierry Jaquemet, 18, ist im dritten Lehrjahr und lernt Bühnentänzer EFZ (Fachrichtung klassischer Tanz)


Manchmal geniesst es Thierry Jaquemet, wenn über Fussball gesprochen wird, abends in der Familie. Er hört dann einfach zu und ist froh, dass niemand übers Tanzen redet. Er kann dann abschalten, häufig schaut er die Nachrichten. Auch dass seine Eltern andere Berufe ausüben, entlastet ihn: «Nach den Trainings habe ich noch die Musik in mir, die ich gehört habe, und denke an die jüngsten Korrekturen, an neue Bewegungsfolgen. Dann ist es gut, wenn von aussen andere Impulse kommen.»

Es ist neun Uhr morgens. Im Studio 4 der Tanz Akademie Zürich wärmen sich die neun jungen Männer auf, mit denen Thierry Jaquemet die Ausbildung zum Bühnentänzer EFZ durchläuft. Fast jeder hat ein anderes Heimatland – Japan, Schweiz, Armenien, USA. Ein grosser Spiegel belegt die eine Wandseite des Raums, Oliver Matz, Lehrer für das Hauptfach Klassischer Tanz und Gesamtleiter der Akademie, setzt sich. Vor der Fensterfront steht ein Flügel, die ersten Takte werden gespielt: Übungen zunächst an der Stange, einige Zeit später mit gesteigertem Anspruch im offenen Raum. Oliver Matz korrigiert, wenn ein Arm zu früh nach unten sinkt oder ein Rücken ins Hohlkreuz fällt, er sagt, wenn neue Figuren zu tanzen sind – eine Pose in einer Arabesque einmal oder ein Grand fouetté, meist in sich abwechselnden Gruppen, einmal solo. Wenn die Bewegungen perfekt sind, scheinen sie aus Luft gefertigt, federleicht. Doch in den Pausen hört man die jungen Männer atmen. Mit einem Handtuch wischt sich Thierry Jaquemet den Schweiss von der Stirn, zwei bis drei Stunden dauert das Training.

Die berufliche Grundbildung zum Bühnentänzer EFZ oder zur Bühnentänzerin EFZ erlaubt talentierten Jugendlichen, das tänzerische Handwerk für eine Tätigkeit an einer Bühne kostenlos (aber auch ohne Lohn) zu erlernen. Talent ist Voraussetzung: Thierry Jaquemet hat im Kindergarten zu tanzen begonnen und später ein Vorgrundstudium an der Tanz Akademie absolviert. In seiner Ausbildung arbeitet Thierry Jaquemet nicht nur am Schrittrepertoire des klassischen Tanzes. Am Nachmittag geht es, nun mit anderen Lehrpersonen, zum Pas de deux mit den jungen Frauen, danach zu den Fächern zeitgenössischer Tanz und Improvisation. Zudem erhalten die Tänzerinnen und Tänzer an der Akademie zweisprachigen Unterricht in Tanz- und Musikgeschichte, Musiktheorie, Englisch oder Berufskunde, ergänzt vom allgemeinbildenden Unterricht (ABU) an der Allgemeinen Berufsschule Zürich. Thierry Jaquemet lernt, wie er sich auf eine Audition (Auswahlverfahren) vorbereitet oder welche Muskeln bei einem Fouetté en dehors beteiligt sind. Gerne hätte er noch etwas mehr Schule, eine Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium hatte er mit Bravour bestanden. Aber die Möglichkeit, eine lehrbegleitende Berufsmaturität zu erwerben, gibt es in diesem Beruf erst seit Kurzem.

Die Ausbildung zum Bühnentänzer EFZ dauert drei Jahre, dann schliesst Thierry Jaquemet den ABU ab. Danach wird er ein weiteres Jahr an der Tanz Akademie in Zürich verbringen und erst dann das Qualifikationsverfahren durchlaufen. Das erlaubt ihm, an Auditions teilzunehmen. Einen ersten Erfolg feierte Thierry Jaquemet während der letzten Sommerferien, als er in Dortmund ein zweiwöchiges Seminar besuchte und ein Stipendium für ein nächstes Seminar gewann. «Es ist wichtig, Beziehungen zu knüpfen, um an Engagements zu kommen», sagt er. Solche externen Kurse und Gastreferate bilden eine Art dritten Lernort. Eigentliche überbetriebliche Kurse gibt es nicht.

In seinem vierten Jahr wird Thierry Jaquemet zudem Gelegenheit haben, seine Figuren zu vervollkommnen und an seiner künstlerischen Persönlichkeit zu arbeiten. Dieser Aspekt interessiert den jungen Tänzer besonders: Er möchte keine perfekte Tanzmaschine sein, sondern «mit seinem Körper geistige und seelische Inhalte darstellen», wie es die Bildungsverordnung formuliert. Kürzlich habe er eine wunderbare Aufführung besucht, erzählt er, ein Tanztheater unter der Leitung des Choreografen Jérôme Bel mit Menschen mit einer geistigen Behinderung: «Die Freude am Tanz, der Ausdruck der Menschen haben mich tief berührt.» Thierry Jaquemet will, dass sein Leben mit dem Tanz zu tun hat – der Tanz aber auch mit seinem Leben.

1.8Formen für Jugendliche mit Beeinträchtigungen

Nicht alle Jugendlichen bringen die Voraussetzungen mit, um eine zweijährige berufliche Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) oder eine drei- oder vierjährige berufliche Grundbildung mit eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ) zu absolvieren − zumindest nicht unter regulären Bedingungen. Auch für diese Jugendlichen stehen verschiedene Angebote bereit.

1.8.1Verlängerung der Dauer der beruflichen Grundbildung

Jugendliche, die aufgrund von Beeinträchtigungen eine berufliche Grundbildung nicht im Verlauf der regulären Ausbildungszeit absolvieren können, haben die Möglichkeit, beim kantonalen Amt für Berufsbildung eine Verlängerung der Lehrzeit zu beantragen. Grundlage dafür ist das Berufsbildungsgesetz, das vorgibt, dass die Dauer der beruflichen Grundbildung für Jugendliche «mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen» angemessen verlängert werden kann (BBG, 2002, Art. 18, Abs. 1; zur Verkürzung der Dauer der beruflichen Grundbildung vgl. Kapitel 1.7).

1.8.2Unterstützung beim Qualifikationsverfahren

Personen, die aufgrund einer Einschränkung oder Behinderung Unterstützung beim Qualifikationsverfahren benötigen, können auch dies beantragen: «Benötigt eine Kandidatin oder ein Kandidat auf Grund einer Behinderung besondere Hilfsmittel oder mehr Zeit, so wird dies angemessen gewährt» (BBV, 2003, Art. 35 Abs. 3). Personen, die auch nach Wiederholung des Qualifikationsverfahrens den Abschluss nicht bestehen, können sich einen Kompetenznachweis ausstellen lassen (vgl. Kapitel 3.8.1).

1.8.3Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung in der Berufsbildung

Im Jahr 2013 publizierte das Schweizerische Dienstleistungszentrum Berufsbildung (SDBB) einen Bericht zum «Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung in der Berufsbildung». Damit sind spezifische Massnahmen zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile gemeint, also Anpassungen des Ausbildungsprozesses und des Qualifikationsverfahrens, wobei allerdings die kognitiven und fachlichen Anforderungen den in der Bildungsverordnung des entsprechenden Berufs formulierten Vorgaben entsprechen müssen (SDBB, 2013). Auf der Grundlage des SDBB-Berichts hat die Kommission berufliche Grundbildung der Schweizerischen Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) eine Empfehlung erarbeitet, wie an Berufsfachschulen und in Lehrbetrieben mit Nachteilsausgleichen unter den Kantonen koordiniert umzugehen ist. Dazu gehört auch ein Formular, das betroffene Lernende bei der Unterzeichnung des Lehrvertrags ausfüllen und einreichen können. Seh- oder Hörbehinderungen, Dyslexie und Dyskalkulie, körperliche, psychische oder geistige Behinderungen oder eine Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Störung (ADHS) sollen vor Lehrbeginn allen an der Ausbildung beteiligten Personen bekannt sein. Zudem soll gemeinsam diskutiert werden, welche Massnahmen eine allfällige Lernschwäche oder Behinderung erfordert, damit die Lernenden ihre Ausbildung erfolgreich abschliessen können. Als Nachteilsausgleich infrage kommen etwa zusätzliche Hilfsmittel oder Geräte oder die Verlängerung der Prüfungszeit.