Berufsbildung in der Schweiz (E-Book)

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1.8.4Supported Education

Zunehmend Beachtung findet auch das Konzept der Supported Education. Damit bezeichnet man die Unterstützung von Jugendlichen mit Behinderung oder Beeinträchtigung beim Absolvieren einer beruflichen Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt (vgl. z.B. Schaufelberger, 2013). Dieses Konzept geht davon aus, dass auch Personen mit Beeinträchtigungen fähig sind, eine Ausbildung zu absolvieren und eine Erwerbstätigkeit auszuüben, vorausgesetzt, dass sich passende Tätigkeiten in einem geeigneten Ausbildungs- bzw. Arbeitsumfeld finden lassen und die erforderliche Unterstützung zur Verfügung steht. Eine solch begleitete berufliche Grundbildung stellt dabei mitunter grosse Herausforderungen an die Koordination und Kooperation von Lehrbetrieb, Berufsfachschule und weiteren beteiligten Stellen und Personen. Supported Education stützt sich auf das Konzept des Supported Employment (unterstützte Beschäftigung, vgl. dazu Doose, 2012).

1.8.5Anlehre

Die Anlehre wurde 1978 gesetzlich eingeführt und richtete sich an «vornehmlich praktisch begabt[e] Jugendliche» (BBG, 1978, Art. 49), die die erforderlichen Voraussetzungen für eine reguläre Lehre nicht mitbrachten. Der Berufsschulunterricht fand in kleinen Klassen statt und war vorwiegend praxisorientiert. Das Ausbildungsprogramm von Anlehren, die meist zwei Jahre dauerten, war nicht standardisiert, sondern wurde individuell zwischen den Lernenden und den Berufsbildnerinnen und -bildnern festgelegt. So gab es auch keine regulären, standardisierten Lehrabschlussprüfungen: Die Expertinnen und Experten besuchten die Lernenden während eines Tages im Lehrbetrieb und überprüften, ob die Anlehrlinge gelernt hatten, was im individuellen Ausbildungsprogramm festgehalten war (Augenschein). In einem Zusatz zum amtlichen Ausweis wurde aufgeführt, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten tatsächlich erlernt worden waren.

Auch wenn der Anteil der Anlehre, gemessen am Anteil der Jugendlichen in der Berufsbildung, Ende der 1990er-Jahre nur gut 2 Prozent erreichte (Wettstein, 1999), stellte sie für viele Jugendliche ein wichtiges Angebot dar. Allerdings bot sie den Jugendlichen keine reglementierten Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Zudem war der Arbeitsmarkterfolg von Personen, die eine Anlehre absolviert haben, gegenüber Personen ohne nachobligatorische Ausbildung gering (Schweri, 2005).

Im Zuge der letzten Revision des Berufsbildungsgesetzes ist der Anlehre die gesetzliche Grundlage entzogen worden: Seit 2005 werden Anlehren kontinuierlich von zweijährigen beruflichen Grundbildungen mit EBA abgelöst. Anfang 2014 waren bereits über 40 Verordnungen für zweijährige Grundbildungen mit EBA in Kraft, weitere Verordnungen werden folgen. Für Berufe, für die es noch keine Grundbildung mit EBA gibt, können bis spätestens Ende 2014 weiterhin Anlehren angeboten werden. Für alle anderen Berufe fiel der letzte offizielle Anlehrbeginn ins Jahr 2012 (SBFI, 2013j). In diesem Jahr haben immer noch knapp 600 Jugendliche eine Anlehre begonnen (BFS, 2013h).

Verschiedentlich wird die Befürchtung geäussert, dass die zweijährigen Grundbildungen mit EBA höhere Anforderungen stellen als die bisherigen Anlehren (z.B. Aeschbach, 2006; Kammermann & Hofmann, 2008; Scherrer, 2008). Diese Annahme ist naheliegend, orientieren sich Grundbildungen mit EBA im Gegensatz zu Anlehren doch an einem standardisierten Ausbildungsprogramm. Empirisch kann diese Hypothese jedoch erst untersucht werden, wenn die Anlehren definitiv ausgelaufen sind (Stern et al., 2010).

1.8.6Berufliche Grundbildung mit Unterstützung der IV

Jugendliche und junge Erwachsene mit einer Einschränkung oder Behinderung haben gemäss Bundesgesetz über die Invalidenversicherung Anrecht auf Unterstützung durch die Invalidenversicherung, um eine berufliche Ausbildung absolvieren zu können. Die IV hat bisher insbesondere Jugendliche, die eine Anlehre absolvieren, unterstützt (IV-Anlehre). Aber auch manche Jugendliche, die eine reguläre berufliche Grundbildung absolvieren, benötigen die Unterstützung der IV, etwa wenn sie aufgrund einer körperlichen Behinderung auf spezifische Massnahmen angewiesen sind. Als Beispiel seien Jugendliche mit einer Hörbehinderung erwähnt, die an der Berufsschule für Hörgeschädigte (BSFH) in Zürich den Berufsfachschulunterricht besuchen.

1.8.7Praktische Ausbildung nach Insos (PrA)

Die praktische Ausbildung nach Insos (PrA) ist für Jugendliche konzipiert, die aufgrund einer Lern- oder Leistungsbeeinträchtigung den Anforderungen einer zweijährigen beruflichen Grundbildung mit EBA nicht – oder noch nicht – gewachsen sind. Die PrA stellt eine Weiterentwicklung der IV-Anlehre dar und richtet sich an Jugendliche mit durch die IV finanzierten beruflichen Massnahmen (vgl. das Porträt Simon R.). Sie hat zum Ziel, die Integration dieser Jugendlichen in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Angeboten werden PrA vom Nationalen Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung (Insos), zuständig ist das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).

Die PrA ist auf einfache, berufsspezifische Tätigkeiten ausgerichtet, strebt einen engen Praxisbezug an und legt starken Wert auf individuelle Begleitung und stufengerechte Lern- und Übungsfelder (Sempert & Kammermann, 2010). Um die Durchlässigkeit zur zweijährigen Grundbildung zu fördern, ist der Aufbau der PrA demjenigen der entsprechenden Grundbildung mit EBA angepasst.

Eine erste Evaluation der PrA zeigt, dass das neue Ausbildungsgefäss grundsätzlich begrüsst wird. Der Erfolg der Massnahme wird jedoch unterschiedlich eingeschätzt: Rund ein Drittel der Lernenden kann nach Abschluss der PrA − teilweise mit einer IV-Rente − beruflich integriert werden. Die Quote der Übertritte in die zweijährige Grundbildung liegt bei rund 10 Prozent (Insos, 2013). Das BSV hat deshalb die Kriterien für die Finanzierung der Ausbildung über die IV im Rahmen der IV-Revision 6b verschärft: Neu sollen nur noch diejenigen Jugendlichen, bei denen sich ein halbes Jahr nach Beginn der PrA eine spätere berufliche Eingliederung als realistisch erweist, ihre Ausbildung fortsetzen und abschliessen können. Insos und andere Verbände wehren sich dagegen, dass ausgerechnet bei Jugendlichen, die aufgrund einer Beeinträchtigung mehr Zeit benötigen, bereits kurz nach Ausbildungsbeginn entschieden wird, ob sie ihre berufliche Ausbildung abschliessen können oder nicht: Im September 2011 haben Insieme, cerebral und procap Schweiz zusammen die Petition «Berufsbildung für alle» lanciert und über 100000 Unterschriften gesammelt. Die Verantwortung für die Weiterentwicklung der PrA liegt beim BSV.

Porträt Simon R.
Stufe um Stufe
Simon R.* ging in heilpädagogischen Einrichtungen zur Schule, so gross war seine Behinderung durch ADHS. Nun lernt der 20-Jährige bei der Stiftung altra Schaffhausen, wie man Gärten und Pflanzen pflegt. Simon R. berichtet.

Simon R., 20, ist im zweiten Lehrjahr als Praktiker PrA Gärtnerei


«Wenn man eine Hecke schneidet, muss man vorsichtig sein. Wie schnell entstehen Löcher, die man nicht mehr korrigieren kann! Stufe um Stufe, so ist es am besten, aber das lernt man nur durch Übung. Im April fiel mir das Heckenschneiden noch schwer, aber heute Morgen habe ich keine Fehler mehr gemacht. Durch die Arbeit bin ich kräftiger geworden, anderen Sport mache ich nicht. Ausser in der Schule und beim Velofahren.

Mit dem Velo fahre ich zur Arbeit. Früher habe ich in der Villa gewohnt, einem Wocheninternat, zusammen mit elf anderen Jugendlichen, da war der Weg noch kürzer. In der Villa habe ich gelernt, wie man mit anderen zusammenlebt: Ämtliplan mit WC-Reinigung oder Bodenputzen, gemeinsam mit einer Betreuungsperson, die auch in der Nacht da war. Irgendwann wusste ich alles, und seither lebe ich mit einem Kollegen in einer eigenen Wohnung. Manchmal kommt ein Betreuer zu Besuch. Wir kochen nicht oft, denn die Hauptmahlzeit ist das Mittagessen, das wir in einem Personalrestaurant einnehmen. Ich erhalte von der Invalidenversicherung (IV) auf mein eigenes Konto einen Lehrlingslohn, zudem werden die Ausbildung und das Wohnen finanziert. Die IV unterstützt mich, weil ich hyperaktiv bin. Ich nehme Ritalin, darum weiss ich nicht mehr, wie es war, hyperaktiv zu sein. Zum Glück war die IV nach einem Jahr Ausbildung damit einverstanden, dass ich die Lehre fortsetze. Wenn die Chance, eine Arbeit in der freien Wirtschaft zu erhalten, zu gering ist, gibt es nur noch Rente.

Meistens arbeiten wir bei Kundschaft, wie heute beim Heckenschneiden, ein Team mit Marcel, Sami und Luki. Sami hat eine Anlehre hinter sich und ist nun angestellt, Marcel durchläuft eine zweijährige Lehre. Mit dabei ist immer auch Herr Ruf, der uns die Arbeit zeigt und zum Beispiel erklärt, wie man Benzin in die Heckenschere füllt. Ich kenne jeden Arbeitsschritt, der beim Auslegen von Rollrasen nötig ist: Auflockern des Untergrunds mit Grob- und Feinplanie, nach Bedarf frische Erde, grosse Steine raus, Dünger und dann den Rasen drauf, den man an den Rändern zuschneidet und am Schluss mit einer Walze festdrückt – und zwar diagonal, damit er nicht verrutscht. Diese Arbeit, sagt Herr Ruf, könnte ich ohne seine Hilfe bewältigen, hier bin ich fast schon prüfungsreif. Solche Tätigkeiten, Rasenmähen, einen Platz verlegen oder eine Bepflanzung machen, werden am Ende der zweijährigen Ausbildung geprüft. Zudem muss ich 35 Pflanzen mit deutschem Namen benennen. In diesem Punkt bin ich noch gar nicht prüfungsreif, denn ich lerne in meiner Freizeit nie. Wenn ich eine Ausbildung mit Attest durchlaufen würde, müsste ich 160 Pflanzen auch mit dem botanischen Namen kennen und Auskunft über Merkmale, Verwendung oder Pflege geben!

 

Am Mittwoch habe ich an der internen Berufsschule der altra Rechnen, allgemeinbildenden Unterricht und Sport, zusammen mit den anderen Jugendlichen, die eine praktische Ausbildung machen, aus der Elektronik zum Beispiel oder der Hauswirtschaft. In der Mathematik rechnen wir Minuten zu Sekunden um oder machen Stunden daraus. In der Buchhaltung habe ich gelernt, wie man ein Kassabuch führt; hier erfasst man Eingaben und Ausgaben, wie wir es auch in der Villa machten. In der Geografie haben wir den Kompass kennengelernt und die Planeten, in Deutsch die Wortarten. Dazu kommt der berufskundliche Unterricht, zusammen mit Adelina, Luki und Konan. Herr Ruf zeigt uns die Pflanzen, wir haben auch schon Poster dazu gestaltet, ein anderes Lehrbuch haben wir nicht. Zusammen mit den Zweijährigen erstellen wir manchmal eine Arbeitsdokumentation, zum Beispiel über den Rollrasen. Pro Semester finden dazu drei Prüfungen statt, am Schluss gibt es ein Zeugnis.

An den Wochenenden fahre ich mit dem Zug nach Hause zu meinen Eltern. Das Umsteigen macht mir keine Mühe, auch das Wohnen weg von meinen Eltern nicht. Heimweh hatte ich nie. Ich möchte nach meiner Ausbildung im Gartenbau arbeiten, möglichst in einem normalen Betrieb. Herr Ruf findet vielleicht einen Platz für mich, oder wenigstens ein Praktikum. Denn mir macht die Arbeit Freude, ich habe sie ja ausgewählt, damals, als ich in verschiedenen Bereichen schnupperte.»

*Name geändert

1.9Sozialpädagogisch geprägte Formen

Bei einigen Anbietern beruflicher Grundbildung bilden sozialpädagogische Massnahmen eine wichtige Ergänzung des Angebots, ohne die die Zielsetzung nicht erreicht werden könnte.


Sozialpädagogik und BerufspädagogikSozialpädagogik und später Berufspädagogik als Bereiche erziehungswissenschaftlichen Denkens und Handelns entstanden am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert bewegte die Situation der Armen und später die «soziale Frage» die gesellschaftspolitische Diskussion. Bereits in den Schriften des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi wird die «Erziehung zur Armut» als bedeutsame Aufgabe der Bildung des Einzelnen verstanden, worunter verstanden wurde, für die Wirtschaft und Gesellschaft arbeitstüchtige, sozial verantwortliche und – auch in religiöser Hinsicht – sittliche Menschen heranzubilden (Gonon, 2005).Es wurden im Verlauf der Industrialisierung Schutzmassnahmen für Kinder und Jugendliche diskutiert, angeordnet und durchgesetzt, nachdem bereits vorab die Schulpflicht eingeführt worden war. Die besondere Hervorhebung der sozial und gesellschaftlich prekären Situation vieler Jugendlicher liess in der Pädagogik eine besondere Richtung entstehen, die «Sozialpädagogik», die gemäss Paul Natorp als Willenserziehung sich auf eine soziale Gesellschaftsreform auszurichten habe (Gonon, 2009a). Hilfe und Unterstützung sind die beiden zentralen pädagogischen Motive und Massnahmen. Die später entstandene Berufspädagogik hingegen betonte die Erziehung zur staatsbürgerlichen Rolle und Verantwortung ebenso wie die berufliche Qualifizierung.

1.9.1Charakterisierung, Varianten

Sozialpädagogisch geprägte Formen der Berufsbildung kombinieren oft Massnahmen zur Berufsvorbereitung mit beruflicher Grundbildung am Arbeitsplatz in einer Institution, gefolgt von – sozialpädagogisch begleitetem – Lernen in Betrieben:

•Jugendheime: Betreutes Wohnen in Verbindung mit einem internen Ausbildungsangebot (Berufsintegrationsprogramm, Berufsausbildung) oder einer externen Tagesstruktur (Berufsausbildung, Schule); ein Beispiel ist das Gfellergut in Zürich.

•Einrichtungen für straffällige männliche Jugendliche und junge Erwachsene in geschlossenen und offenen Abteilungen, wo Massnahmen für junge Erwachsene gemäss Art. 61 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB), Schutzmassnahmen gemäss Art. 15 und 16 des Bundesgesetzes über das Jugendstrafrecht (JStG) und/oder Freiheitsstrafen für Jugendliche gemäss Art. 25 JStG vollzogen werden. Beispiele sind das Massnahmenzentrum Uitikon ZH und der Arxhof in Niederdorf BL (vgl. das Porträt Benir A.).

•Ausbildungsverbünde mit sozialpädagogischer Ausrichtung, die sich für Menschen engagieren, die «den dauerhaften (Wieder-)Einstieg ins Berufsleben oder die berufliche Grundbildung mit erschwerten Voraussetzungen angehen müssen» (Overall Basel, 2013). Ein Beispiel ist der Verein axisBildung, Bülach (vgl. Kapitel 1.9.2).

•Bildungsinstitutionen, deren Tätigkeitsschwerpunkt bei der Berufsvorbereitung, also der Erleichterung des Übergangs von der obligatorischen Schule in die Grundausbildung liegt, zum Beispiel Impulsis Zürich und «Einstieg in die Berufswelt» in Baar.

•Ausbildungsstätten «für junge Menschen in besonderen Lebenslagen», die «besondere» Wege suchen, um ihren Lernenden den Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt und damit ins selbstbestimmte Leben zu ermöglichen. Die bekannteste Ausbildungsstätte dieser Art ist die Stiftung Märtplatz in Rorbas-Freienstein ZH. In eigenen Werkstätten oder bei regionalen Betrieben sucht der Märtplatz eine der jeweiligen Person möglichst gut entsprechende Ausbildung und bereitet auch auf Abschlüsse anderer europäischer Länder vor, wenn in der Schweiz kein für den jeweiligen Lernenden geeigneter Abschluss reglementiert ist.

Sozialpädagogisch geprägte Massnahmen sind nicht selbsttragend. Zwar wird in den meisten dieser Institutionen produktive Arbeit geleistet, doch ist dies wie bei Lehrwerkstätten und anderen schulisch organisierten Grundbildungen primär Mittel zum Zweck und nicht der Zweck der Institution. Die Defizite werden grossenteils von den Behörden getragen, welche die Lernenden vermitteln: Sozialversicherungsanstalten (Invalidenversicherung, Ergänzungsleistungen), Jugendstrafvollzug, Arbeitsmarktbehörden (AVIG), Fürsorgebehörden, Integrationsförderung.

1.9.2Beispiel
axisBildung, Bülach

axisBildung ist ein Ausbildungsverbund mit Geschäftsstelle in Bülach. Die Organisation stellt rund 170 Lernenden eine breite berufsbildungsorientierte Angebotspalette bereit. Die niederschwelligen Ausbildungsplätze werden sowohl in Betrieben, die zum Verbund gehören (also im geschützten Rahmen), als auch in Betrieben der freien Wirtschaft angeboten. Träger von axisBülach ist ein Verein.

Die Zuweisung der Jugendlichen erfolgt über Jugendanwaltschaften, Vormundschaftsbehörden, Fachstellen der ambulanten Jugend- und Sozialhilfe oder im Rahmen erstmaliger beruflicher Massnahmen über Zweigstellen der Invalidenversicherung.

axisBildung entstand 1998 im Bemühen um die Umsetzung der Idee, den Menschen im umfassenden Sinn in den Mittelpunkt des Wirtschaftens zu stellen und ökologische und soziale Verantwortung innerhalb der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge zu übernehmen und zu leben.8 In diesem Sinn wurden individuell ausgestaltete Integrations- und Ausbildungsplätze nahe an der Normalität geschaffen, um Jugendlichen mit schwierigem Hintergrund den Einstieg ins Erwerbsleben zu ermöglichen: Arbeit als sinnstiftender und bildender Impuls, Ausbildung als Lebensschule, das soziale Zusammenspiel und die Beziehung als persönliche Entwicklungsmöglichkeit.

2013 wurden bei axisBildung und in 15 Verbundbetrieben Ausbildungsplätze in 22 Berufen und auf den Niveaus PrA, Anlehre, EBA und EFZ angeboten. axisBildung ist ein vom Mittelschul- und Berufsbildungsamt Zürich anerkannter Lehrbetriebsverbund. In den Phasen I und II (vgl. Abb. 1-10) erfolgt die Ausbildung in geschütztem Rahmen bei den Verbundbetrieben von axisBildung, zu denen unter anderem eine Bäckerei, eine Gartenbaufirma, zwei Hauswartungsfirmen, ein Restaurant und vier Lebensmittelhandlungen gehören. Der Übertritt in Phase III, also in einen Betrieb der freien Wirtschaft, ist zu jedem Zeitpunkt möglich. In den Verbundbetrieben gehört pro zwölf Lernende eine Sozialpädagogin bzw. ein Sozialpädagoge vor Ort zum Team.

axisBildung fördert und unterstützt die Durchlässigkeit der Ausbildungsniveaus PrA zu EBA und von EBA zu EFZ. Die Lernenden können so beispielsweise nach zwei Jahren, also wenn sie das Qualifikationsverfahren bestanden und das Berufsattest erworben haben, eine verkürzte Grundbildung von zwei Jahren anfügen und so innerhalb von vier Jahren das eidgenössische Fähigkeitszeugnis erlangen.


Abbildung 1-10: Phasenmodell der Ausbildung von axisBildung.

Im Durchschnitt befanden sich 2011/12 etwa 160 Lernende in Ausbildung. In 75 Prozent der Fälle wird die Ausbildung von der IV finanziert, in 11 Prozent von Sozialbehörden, in 14 Prozent von der Jugendanwaltschaft. Im gleichen Jahr haben 42 Jugendliche die berufliche Grundbildung abgeschlossen, 8 in einem Betrieb der freien Wirtschaft, 34 in einem Betrieb des Ausbildungsverbunds.

Den Übertritt in die Berufswelt – in den jeweiligen oder einen artverwandten Beruf – schafften 69 Prozent der erfolgreich Ausgebildeten.

Porträt Benir A.
Wers im Arxhof packt, packt es auch draussen
Im Internet verkaufte er Dinge, die er nicht besass, später überfiel er eine Tankstelle. In einer offenen Einrichtung des Massnahmenvollzugs erhält Benir A.* eine zweite Chance.

Benir A., 22, lernt im Rahmen eines strafrechtlichen Massnahmenvollzugs Metallbauer EFZ


Die Gegend um den Arxhof (BL) lädt zum Wandern ein. Aber als Benir A. vor rund zwei Jahren in Richtung Bubendorf eilte, hatte er keine Augen für die Landschaft: Er lief davon, schon zum zweiten Mal, er haute ab, um an Weihnachten bei seinen Eltern zu sein, wie er sagte. Aber hatte er nicht immer wieder nach Ausflüchten für sein Verhalten gesucht? Einen Monat später stellte sich Benir A. der Polizei, es folgten Untersuchungshaft und Grossgruppe. Hier, im Vollversammlungsraum des Arxhofs, sass er im Innenkreis mit den Bewohnern und Betreuern seines Wohnpavillons, im Aussenkreis alle anderen, die nach innen traten, wenn sie etwas sagen wollten: «Warum bist du geflohen? Du warst doch gut am Laufen.», «Was hat du konsumiert?», «Wir haben uns Sorgen gemacht.»

«Grossgruppe ist anstrengend», sagt Benir A., «alles ist anstrengend.» Seit zweieinhalb Jahren wohnt der 22-Jährige im Arxhof, einer offenen Einrichtung des Massnahmenvollzugs. Hier lernt er den Beruf des Metallbauers. Er lernt aber auch, sein deviantes Verhalten zu verstehen und zu beherrschen. Die tragenden Säulen bilden neben der Lehre die Sozialpädagogik und die Psychotherapie. Im Rahmen der Sozialpädagogik setzen sich Benir A. und die Mitbewohner des Devianzpavillons mehrmals in der Woche mit dem Alltag und seinen Konflikten auseinander; man spricht abwertendes Verhalten an, registriert, wenn einer sich zurückzieht, plant Freizeitaktivitäten. In diesen Bereich gehören auch die Grossgruppe, die nach Bedarf einberufen wird, oder das Besinnungszimmer. In der Psychotherapie arbeiten die Bewohner ihre persönliche Geschichte auf. Benir A. spürt derzeit den Kränkungen nach, die er im Laufe seines Lebens erlitt. Er sagt: «Ich kann gut arbeiten. Aber manchmal arbeite ich langsam, obwohl es pressiert. Ich lasse mich fallen, wie andere mich fallen liessen.»

Benir A. verbrachte die ersten vier Monate im Arxhof im Eintrittspavillon. Hier hatte er Gelegenheit, die 18 angebotenen Berufsausbildungen kennenzulernen. Zudem machte er sich mit den vielen Verhaltensregeln und dem Aufgabenplan vertraut. «Wer seine Tasse nicht abräumt, muss die ganze Cafeteria putzen. Verspätungen, Drohgebärden, das Liegenlassen einer Jacke – alles hat Konsequenzen», beschreibt Benir A. Das Wort «Strafe» vermeidet er, wie alle im Arxhof. Am Anfang wurde Benir A. von einem älteren Bewohner begleitet. Wer im Arxhof ist, soll lernen, Verantwortung zu übernehmen und zum Beispiel Fehlverhalten von Mitbewohnern anzusprechen. «Das widerspricht der Gaunerehre», sagt Lehrmeister Max Müller, «aber die Jugendlichen müssen reagieren, wenn jemand das Boot anbohrt, in dem sie sitzen.»

 

Benir A. ist nun im dritten Lehrjahr. Während der beiden ersten Jahre fand der Unterricht im Arxhof statt, jetzt besucht er jeden Mittwoch die Berufsfachschule in Muttenz. Benir A. ist stolz auf seine Ausbildung: Zum einen habe der Arxhof eine grosse Vielfalt an Aufträgen – Treppen, Geländer, Tische, Türen, Grillaufbauten –, und stets seien Berufsbildner anwesend. Im Scherz hätten Schulkollegen schon angekündigt, kriminell zu werden, um den Beruf im Arxhof lernen zu dürfen.

Benir A. muss die berufliche Grundbildung abschliessen, bevor er den Arxhof verlassen kann. An die Freiheit kann er sich schon heute gewöhnen: Er darf seine Freundin besuchen oder auswärts übernachten, und in den letzten Monaten wird er in einer externen Wohngemeinschaft leben. Benir A. weiss, worauf diese Freiheit fusst: «Arbeit an meiner Identität, ein soziales Netz mit Familie und richtigen Kollegen, Auseinandersetzung mit meinen Delikten.» Auch wenn es etwas steif wirkt, wenn er diese Dinge aufzählt, glaubt man ihm, dass er vom Sinn seiner Anstrengungen überzeugt ist. «Wers im Arxhof packt, packt es auch draussen», sagt Benir A. Dank einem Rechtssystem, das auf Resozialisierung und Behandlung setzt, stehen die Chancen dafür nicht schlecht.

* Name geändert