Schöne Grüße aus dem Orbán-Land

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Wer anderen eine Grube gräbt …

Die erste Attacke der Konservativen rund um Viktor Orbán gegen die linksliberale Medgyessy-Koalition wird zum PR-Desaster, sie ist quasi ein Schuss ins eigene Knie. Nur drei Wochen nach dem Amtsantritt von Péter Medgyessy als Ministerpräsident enthüllt die Zeitung „Magyar Nemzet“, das Sprachrohr der nationalkonservativen Partei FIDESZ, dass der amtierende Regierungschef während des Kommunismus für das damalige Regime gespitzelt hat. Sein Deckname war damals D-209. Veröffentlicht wird ein Dokument, wonach Medgyessy als Offizier im Dienste der Spionageabwehr stand.

Der Ministerpräsident dementiert heftig, spricht von Lügen und Verleumdung, räumt aber dann doch ein, dass er Ende der 70er-Jahre als ranghoher Mitarbeiter des Finanzministeriums unter strenger Geheimhaltung den Beitritt des kommunistischen Ungarns zum IWF, dem Internationalen Währungsfonds, vorbereitet habe, er also geheimdienstlich tätig gewesen sei. Die Geheimhaltung sei notwendig gewesen, weil die Sowjetunion stets gegen Ungarns IWF-Beitrittsambitionen aufgetreten sei, wie er sagt. Im Parlament rechtfertigt sich Medgyessy mit dem Argument, dass er geholfen habe, Staatsgeheimnisse zu schützen. Ein Agentenjäger sei kein Agent oder Informant, betont er vor den Parlamentariern, und er beteuert, niemanden bespitzelt und über niemanden Berichte geschrieben zu haben.

Doch die öffentliche Aufregung ist so groß, dass dem neuen Ministerpräsidenten nichts anderes übrig bleibt, als im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, nicht zuletzt deshalb, weil die Medienberichte über die Agententätigkeiten des Genossen D-209 auch im Ausland hohe Wellen schlagen. Immerhin steht Ungarn knapp vor dem EU-Beitritt. Die konservativen Oppositionsparteien, allen voran Viktor Orbáns FIDESZ, fordern den sofortigen Rücktritt Medgyessys, sie sprechen von der schwersten Verfassungskrise im Nachwende-Ungarn und wittern die Chance auf Neuwahlen.

Doch sie freuen sich zu früh. Die von der Opposition herbeigeführte Regierungskrise ist nach 48 Stunden auch schon wieder vorbei. Die sozialistische Fraktion lässt ihren Kandidaten nicht fallen und spricht ihm das volle Vertrauen aus. Lediglich der Koalitionspartner der Sozialisten, der linksliberale Bund SZDSZ, gibt sich anfangs zögerlich, stimmt aber letztlich für den Verbleib des Ministerpräsidenten in seinem Amt, weil die Sozialisten versprochen haben, die Archive des kommunistischen Geheimdienstes vorbehaltlos zu öffnen. Mit diesem Zugeständnis retten sie den Fortbestand der erst vier Wochen alten Regierungskoalition.

Als Medgyessy wieder fest im Sattel sitzt, erfüllt er seinem Koalitionspartner (SZDSZ) das Versprechen der Sozialisten. Er initiiert eine Gesetzesänderung, wonach alle Akten der Staatssicherheit (Stasi) offengelegt werden müssen.

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wird eingerichtet, der die Stasi-Vergangenheit aller Politiker seit der Wende durchleuchtet. Untersucht werden fünf Ministerpräsidenten, 97 Minister und 106 Staatssekretäre. Diese Untersuchung gerät zum glatten Desaster für Orbáns FIDESZ. Sie ergibt, dass in der ersten Orbán-Regierung (1998 – 2002) nicht weniger als fünf Regierungsmitglieder für den kommunistischen Geheimdienst tätig waren. Konkret genannt werden Außenminister János Martonyi, Finanzminister Zsigmond Járai, Europaminister Imre Boros, Verkehrsminister László Nógrádi und Staatssekretär László Bogár.

So viele Minister mit Stasi-Vergangenheit wie unter Orbán hat es noch in keiner Regierung Ungarns nach der Wende gegeben.

Viktor Orbáns FIDESZ ist es mit den Spitzelenthüllungen nicht gelungen, die Medgyessy-Regierung in Misskredit zu bringen. Im Gegenteil. Die Partei und auch Orbán selbst verlieren unmittelbar nach der Affäre massiv an Popularität. Im Ranking der beliebtesten Politiker steht Medgyessy plötzlich auf Platz eins. Orbán muss sich mit Rang 23 begnügen, eine Demütigung für den machtbewussten Ungarn.

It’s the economy, stupid!

Den für Bill Clinton erfundenen Slogan im US-Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1992 „It’s the economy, stupid!“ (Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!) musste sich nicht nur der damalige Amtsinhaber George Bush sen. an den Kopf werfen lassen, sondern gut zehn Jahre später auch Péter Medgyessy.

Nach dem Rekorddefizit im Jahr 2002 von fast zehn Prozent lässt der Regierungschef für 2003 wieder ein Defizit in der Höhe von 4,5 Prozent budgetieren. Alle Ökonomen äußern damals ihre Befürchtung, dass die Regierung die Gefahren einer derart hohen Neuverschuldung unterschätze. Und sie behalten Recht. Das Defizit im Jahr 2003 klettert letztlich auf knapp sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Während der Schuldenberg Ungarns immer größer und größer wird, bleibt der Regierungschef eisern bei seiner Politik des Defict-Spending. Die ungarische Wirtschaft will er mit groß angelegten Straßen- und Autobahnbauten ankurbeln. Medgyessy verspricht seinen Landsleuten den Neubau von 800 Kilometern bis 2006. Finanziert auf Pump, wie bisher. Und auch für 2004 plant Medgyessy eine Erhöhung der Staatsausgaben um bis zu acht Prozent und er betont im ungarischen Fernsehen auch noch, dass die Bevölkerung mit keinen Einschränkungen oder gar einem Sparpaket zu rechnen habe. Der Ministerpräsident spekuliert insgeheim damit, dass der bevorstehende EU-Beitritt im Mai 2004 Förderungen der Europäischen Union in Milliardenhöhe bringen werde, schließlich sei Ungarn Nettoempfänger, wie Medgyessy oft erwähnt. Und selbstbewusst verkündet er auch noch, dass Ungarn nicht erst 2010, sondern schon 2008 den Euro als Landeswährung einführen wolle, denn der Euro bringe neue Arbeitsplätze, führe zur Senkung der Inflation und zu mehr Wirtschaftswachstum. Es ist wohl die mit Abstand größte Fehleinschätzung der knapp zweieinhalbjährigen Amtszeit von Péter Medgyessy.

Erst gegen Ende des Jahres 2003 beginnt sich innerhalb der Regierung langsam die Erkenntnis durchzusetzen, dass Ungarn zielsicher dem Finanzkollaps zusteuert und es so nicht länger weitergehen kann. Im Dezember werden dann doch die ersten Sparmaßnahmen beschlossen. So kürzt die Regierung beispielsweise die staatlichen Förderungen für zinsbegünstigte Wohnbaukredite. Der Ministerpräsident begründet die Ausgabenkürzung mit seinem Versprechen, die für 2004 vorgesehene Neuverschuldung von 3,8 Prozent strikt einhalten zu wollen – ein Versprechen, das er letztlich doch nicht halten kann.

Im darauffolgenden Jänner gibt es das erste Bauernopfer der Medgyessy-Regierung. Finanzminister Csaba László muss seinen Hut nehmen. Der Regierungschef wirft ihm vor, die Finanzlage des Landes falsch eingeschätzt zu haben. Offizieller Entlassungsgrund: Der Finanzminister hat das für 2003 beschlossene Budgetdefizit von 4,5 Prozent deutlich überschritten. Es beträgt fast sechs Prozent.

Der neue Mann an der Spitze des ungarischen Finanzministeriums, Tibor Draskovics, beginnt gleich mit Amtsantritt eilig zurückzurudern. Er lässt wissen, dass die geplante Euro-Einführung im Jahr 2008 doch eher unrealistisch sei. Zu kämpfen hat er auch noch mit einem Verfall der Landeswährung Forint. Die Schuldenpolitik der Regierung hat den Forint in massive Turbulenzen gestürzt. Der Wert des Forints ist seit geraumer Zeit immer geringer geworden, was den Schuldenberg des Landes zusätzlich erhöht hat. Denn die Regierung hat sich hauptsächlich in fremder Währung verschuldet. Je weniger die eigene Währung wert ist, desto teurer ist es, Schulden in fremder Währung zu begleichen, denn die eigene Währung muss ja in die fremde Währung gewechselt werden.

So nach und nach dämmert allen Regierungsmitgliedern, dass eine Sanierung des ungarischen Staatshaushalts dringend erforderlich ist und viele Jahre dauern wird.

Plötzlich ist Schluss mit lustig. Medgyessy kündigt ein hartes Sparpaket an. „Es kommen Zeiten“, erklärt der 60-Jährige wie ein mahnender Vater, „die Konsequenz, Berechenbarkeit und finanzpolitische Strenge verlangen!“ Wenig später, in seiner Rede zur Lage der Nation, räumt der Regierungschef sogar ein, Fehler gemacht zu haben. „Wir haben die Kraft unserer Wirtschaft überschätzt und die Kraft der Märkte unterschätzt“, sagt ein zerknirscht wirkender Ministerpräsident im Februar 2004.

Erstmals erkennen viele Ungarn, dass Medgyessy als Regierungschef zwar sympathisch, aber eine glatte Fehlbesetzung ist. Diese Erkenntnis ist der Anfang vom Ende Medgyessys als ungarischer Ministerpräsident.

Die EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 und die damit verbundene Feierstimmung in ganz Europa verschaffen dem angeschlagenen Ministerpräsidenten noch eine kurze Ruhephase, bevor die beiden Regierungsparteien, die sozialistische Partei Ungarns (MSZP) und der linksliberale Bund der Freien Demokraten (SZDSZ), die politische Demontage Medgyessys in Angriff nehmen.

Noch vor dem EU-Beitritt Ungarns kündigt Medgyessy eine Regierungsumbildung für den Sommer an. Offenbar hat es hinter den Kulissen heftige Streitereien über die künftige Regierungspolitik gegeben. Einige Minister wollen die von Medgyessy angeordneten Einsparungen in ihren Ressorts nicht akzeptieren, sie sehen die Umsetzung ihrer Politik in Gefahr. Andere wiederum drängen auf die Durchführung lange versprochener Steuersenkungen, schließlich hat man ja noch viele Wahlversprechen zu erfüllen. Grundsätzlich haben alle Minister Sparmaßnahmen befürwortet, nur halt nicht in ihrem Ressort.

Auch das Debakel der Sozialisten bei der Wahl zum Europaparlament löst massive Unruhe unter den Genossen aus. Jedenfalls dürften intern die Fetzen geflogen sein, denn plötzlich bietet Sportminister Ferenc Gyurcsány seinen Rücktritt an. Seinem Beispiel folgt Justizminister Péter Barandy. Beide begründen ihr Rücktrittsangebot mit einem „zunehmenden Vertrauensverlust“. Dabei drehen sie geschickt den Spieß um. Gyurcsány und Barandy sagen nicht, dass sie kein Vertrauen mehr in den Ministerpräsidenten haben, sondern sie beklagen beide weinerlich, dass der Ministerpräsident kein Vertrauen mehr in sie habe und ihnen daher nichts anderes übrig bleibe, als ihren Rücktritt anzubieten.

 

Die wahren Gründe des gegenseitigen Vertrauensverlustes sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Die Journalisten sind gar nicht mehr dazugekommen, die Hintergründe zu recherchieren, weil sich die Ereignisse Mitte August 2004 regelrecht überschlagen.

Während ein sichtlich in die Enge getriebener Ministerpräsident Medgyessy vor der Presse eine Regierungskrise heftig in Abrede stellt, feuert er wenig später gleich drei seiner Regierungsmitglieder: Sportminister Ferenc Gyurcsány, Arbeitsminister Sándor Burany und Wirtschaftsminister István Csillag. Zuvor hat er noch seinen Regierungssprecher Zoltán Gál fristlos entlassen.

Doch Medgyessy macht die Rechnung ohne den Wirt. Csillag ist nämlich Angehöriger seines Koalitionspartners SZDSZ und die Parteispitze der Linksliberalen ist entschieden gegen die Entlassung „ihres Mannes“ in der Regierung. Péter Medgyessy bleibt wieder einmal nichts anderes übrig, als die Vertrauensfrage zu stellen. „Entweder Csillag oder ich“, soll er bei einer internen Sitzung mit den Linksliberalen gesagt haben.

Sein Koalitionspartner entscheidet sich für Csillag. Noch am selben Abend des 19. August 2004 tritt Péter Medgyessy zurück. Die Sozialisten, die ihn drei Jahre zuvor zu ihrem Spitzenkandidaten gemacht hatten, bemühen sich nicht einmal, ihn zu halten. Sie weinen dem „Politiker wider Willen“ – wie Medgyessy in vielen politischen Analysen und Kommentaren bezeichnet worden ist – keine Träne nach.

Shootingstar Ferenc Gyurcsány

Für die beiden Regierungsparteien MSZP (Sozialistische Partei Ungarns) und SZDSZ (Linksliberaler Bund der Freien Demokraten) ist eines völlig klar: Neuwahlen müssen unbedingt verhindert werden, denn die Popularität der Koalition ist an einem Tiefpunkt angelangt, während Viktor Orbáns FIDESZ zunehmend beliebter wird. Beide Parteien sind also gezwungen, sich rasch auf einen Nachfolger von Péter Medgyessy zu einigen. Sie kommen überein, dass der Wechsel an der Spitze der Regierung quasi fliegend erfolgen muss. Die damalige ungarische Verfassung erlaubt so ein Prozedere.

Klar ist auch, dass die Sozialisten aufgrund ihrer Mandatsstärke das Recht haben, den neuen Ministerpräsidenten zu nominieren. Als Erster bringt sich Kanzleiminister Péter Kiss ins Spiel. Er ist ein etwas behäbig wirkender, braver Parteisoldat, der nicht wirklich das Vertrauen der neuen, aufstrebenden Generation bei den ungarischen Sozialisten genießt.

Ferenc Gyurcsány (gesprochen: „Djurtschaanj“), der sich als Sportminister offenbar in weiser Voraussicht von Medgyessy hatte feuern lassen, ist da schon ein anderes Kaliber. Gyurcsány hat seinen Einstig in die Politik von langer Hand geplant. Sein Ziel ist es, Ministerpräsident zu werden. Es geht ihm nicht ums Geld, davon hat er genug, er will Macht.

2002 bietet sich der stinkreiche Unternehmer Ferenc Gyurcsány, von vielen der „Rote Kapitalist“ genannt, als Wahlkampfberater für Péter Medgyessy an. Die im Frühjahr knapp gewonnene Wahl bringt ihm das Amt des Sportministers. Dafür lässt er sogar seine Geschäfte als Direktor einer Investmentgesellschaft ruhen. Minister zu sein ist ihm wichtiger. Der Medienrummel um seine Person ist für ihn viel genussvoller, als weiter in der Anonymität Geld zu scheffeln.

Ferenc Gyurcsány wird am 4. Juni 1961 in der westungarischen Kleinstadt Papa geboren. Er absolviert eine Lehrer-Ausbildung und studiert an der Universität Pécs Volkswirtschaft. Vor der Wende engagiert er sich politisch in der kommunistischen Jugendbewegung KISZ, die nach dem Regimewechsel zum Demokratischen Jugendverband umgewandelt wird, mit Gyurcsány als Vorsitzendem. 1990 geht er in die Privatwirtschaft, wird Mitarbeiter einer Finanzberatungsgesellschaft und steigt zum Direktor einer international tätigen Investmentgesellschaft auf. 1992 gründet er sein eigenes Investmentunternehmen.

Reich wird Gyurcsány durch die sogenannte „spontane Privatisierung“. Der Staat wirft zu dieser Zeit hunderte Immobilien und marode ehemalige Staatsbetriebe zu Spottpreisen auf den Markt, um rasch zu Geld zu kommen. Gyurcsány kauft zuerst im Namen einer Investmentfirma, später borgt er sich von dieser Geld und kauft auf eigene Rechnung. Er weiß genau, wo die Filetstücke zu holen sind. Er kauft und verkauft und kauft und verkauft wieder und macht so Millionen.

Dubios sollen diese Geschäfte gewesen sein, wie viele seiner Kritiker heute noch sagen, illegale Geschäftspraktiken kann man ihm aber nicht nachweisen. Gyurcsány ist eben geschickt, auch politisch. Als enger Berater und Vertrauter von Medgyessy hat er Zugang zu vertraulichen Informationen, er kennt die Hintergründe politischer Entscheidungen sowie die Stärken und Schwächen der handelnden Akteure. Nicht selten kommt es vor, dass Gyurcsány dem Regierungschef die Show stiehlt, indem er Medgyessys Pläne der Presse zuspielt oder sie selbst vorzeitig präsentiert. Wenn er es für dienlich hält, kritisiert der Sportminister auch die Regierungspolitik, so als wäre er gar nicht Mitglied der Regierung, sondern lediglich ein außenstehender Beobachter. Gyurcsány nutzt all sein Insiderwissen, um sein großes Ziel zu erreichen, Ministerpräsident Ungarns zu werden.

Ferenc Gyurcsány ist auch dank seiner Ehefrau Klára Dobrev politisch gut vernetzt. Ihr Großvater Antal Apró war während der kommunistischen Zeit Parlamentspräsident, ihre Mutter Piroska Apró war als Kabinettschefin für den mittlerweile verstorbenen ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Gyula Horn (1994 – 1998) tätig.

Am 25. August 2004 hat Ferenc Gyurcsány sein Ziel erreicht. Er setzt sich in einer Kampfabstimmung gegen den amtierenden Kanzleiminister Péter Kiss souverän durch. Bei einem Sonderparteitag erhält der damals 43-Jährige mehr als zwei Drittel der rund 600 Delegiertenstimmen und wird von der sozialistischen Partei Ungarns zum Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert.

Der jugendlich und dynamisch wirkende Gyurcsány hat zwar die Parteibasis hinter sich, nicht aber die Parteispitze. Die Nomenklatura der Sozialisten betrachtet Gyurcsány mit Argwohn. Er ist nicht einer von ihnen, hat nicht ihren „Stallgeruch“, wurde nicht mit ihnen sozialisiert.

Ferenc Gyurcsány ist großgewachsen, gut aussehend und reich. Die Parteispitze ist neidisch, sie hätte lieber den dicklichen, phlegmatisch wirkenden Péter Kiss nominiert. Doch die Herzen der jungen Parteimitglieder fliegen dem Selfmade-Millionär aus Papa zu. Er verkörpert all die Träume und Sehnsüchte der jungen Generation in Ungarn: sozialer Aufstieg, Erfolg in der Privatwirtschaft, finanzielle Unabhängigkeit in einer neuen Welt, die den jungen ungarischen EU-Bürgern zu Füßen zu liegen scheint.

Der „Rote Kapitalist“ entspricht dem Zeitgeist. Apparatschiks, Parteisoldaten, Berufspolitiker haben ausgedient im Land der Magyaren des Jahres 2004. Neue, unverbrauchte Politiker vom Typ Gyurcsánys sind gefragt. Rasch ist vom „ungarischen Tony Blair“ die Rede. Vermutlich hat er diese Bezeichnung selbst in Umlauf gebracht. Einer seiner damals engsten Berater erzählt, dass er Gyurcsány eines Morgens angerufen und gefragt habe, was er gerade tue. Gyurcsány antwortete ihm: „Ich rasiere gerade den ungarischen Tony Blair!“

Während die Parteispitze der Sozialisten die Nominierung Gyurcsánys zum Premierminister wohl oder übel zur Kenntnis nehmen muss, zeigen sich die Parteistrategen und Wahlkampfmanager gar nicht so unglücklich. Die nächste Parlamentswahl steht quasi vor der Tür, nur 18 Monate bleiben bis zum nächsten Kampf mit Viktor Orbán und seiner FIDESZ. Ein jugendlich und dynamisch wirkender Gyurcsány hat bessere Chancen gegen den charismatischen Orbán als ein behäbig wirkender Parteisoldat, so das Kalkül der sozialistischen Wahlkampfstrategen im Jahr 2004.

Gyurcsánys Regierungspolitik war in erster Linie darauf ausgelegt, die Parlamentswahl 2006 zu gewinnen, koste es, was es wolle. Die immer wieder geäußerte Kritik aus Brüssel, dass das Budgetdefizit des Landes viel zu hoch sei und dringend gesenkt gehöre, ist auch vom neuen Regierungschef glatt ignoriert worden. „Ungarn muss zunächst die Ansprüche seiner Bürger befriedigen und erst dann jene Brüssels“, sagt Gyurcsány in einem Interview auf die Frage, warum das Defizit nicht rascher abgebaut werden könne. „Das Defizit kann natürlich auch schneller abgebaut werden“, meint er, „doch bleiben in diesem Fall berechtigte gesellschaftliche Ansprüche unbefriedigt!“ – frei nach Bruno Kreiskys Devise: lieber ein paar Millionen mehr Schulden, als den Wohlstand der Ungarn zu gefährden. Und im staatlichen Rundfunk verteidigt Gyurcsány das Defizit mit den Ausgaben für Soziales: „Sozialprogramme für die Menschen sind erforderlich, und die kosten eben Geld“, sagt der Ministerpräsident trotzig.

Im Jahr 2005 wird die Kritik der EU am schier ungehemmten Schuldenmachen Ungarns immer lauter. Erstmals droht Brüssel mit Sanktionen, sollten nicht endlich wirkungsvolle Maßnahmen zur Reduktion des Defizits in der Höhe von mittlerweile mehr als sieben Prozent gesetzt werden. Geplant waren 3,6 Prozent. Doch Ministerpräsident Gyurcsány hält eisern an seinen kostspieligen Reformplänen fest. Bei einer Großveranstaltung der Sozialisten ruft er der applaudierenden Menge zu, dass er nicht gewillt sei, auf den weiteren Autobahnausbau, die Erhöhung der Familienbeihilfen und Pensionen verzichten zu wollen.

Auch umfangreiche Steuersenkungen lässt der sozialistische Ministerpräsident mit den Stimmen der beiden Regierungsparteien beschließen, darunter die Senkung der Mehrwertsteuer gewisser Produkte von 25 auf 20 Prozent und des Einkommensteuerhöchstsatzes von 38 auf 36 Prozent. Wirksam werden die Steuersenkungen am 1. Jänner 2006, also noch rechtzeitig vor der Parlamentswahl im Frühsommer, quasi als Wahlzuckerln.

Um die wachsenden Sorgen in Brüssel über die ungarischen Staatsfinanzen zu zerstreuen, kündigt Gyurcsány an, dass er das Budgetdefizit 2006 auf 2,9 Prozent senken werde. Geglaubt hat ihm das sicher keiner. Und auch er selbst hat das vermutlich nicht ernst gemeint.

Schon im Jänner 2006 beginnen beide Großparteien, die MSZP (Sozialistische Partei Ungarns) mit Ferenc Gyurcsány als Spitzenkandidaten und Viktor Orbáns FIDESZ, mit dem Intensivwahlkampf für die Parlamentswahl im April. Verbissen kämpfen beide um jede einzelne Wählerstimme. Zum damaligen Zeitpunkt sind 35 Prozent der Wähler unentschlossen.

Hauptthema des Wahlkampfes ist der Lebensstandard der Ungarn. Orbáns Konservative zeichnen ein trübes Bild, die Wirtschaftslage des Landes sei katastrophal, vor allem das Leben der Pensionisten habe sich dramatisch verschlechtert, wie überall im Land plakatiert wird. Das Motto der FIDESZ-Kampagne lautet: „Wir leben schlechter als vor vier Jahren!“ Ein Slogan, der nachweislich nicht der Realität entsprochen hat.

Die Sozialisten kontern und lassen gegenteilige Behauptungen affichieren. Und wieder wird Steuergeld verbrannt. Gyurcsány fordert die Pensionisten auf, ihre Pensionsbescheinigungen der letzten vier Jahre an seine Regierung zu schicken. Er wolle sie nachrechnen lassen. Sollte dabei herauskommen, dass die Preise stärker gestiegen sind als die Pensionen, dann werde die Regierung Kompensationszahlungen leisten, wie Gyurcsány zusichert. Und den Langzeitarbeitslosen über 50 Jahre verspricht der Ministerpräsident die sofortige Frühpension, finanziert aus dem Staatshaushalt.

Im Kampf um Wählerstimmen ist jedes Mittel recht, auch illegale. FIDESZ schreckt nicht davor zurück, den Server der MSZP-Wahlkampfzentrale zu hacken und fast 3.000 vertrauliche Dokumente über die geplanten Wahlkampagnen zu stehlen. Die Sozialisten wiederum lassen sich für eine Inseratenkampagne von der Nazi-Parole „Ein Volk – ein Reich – ein Führer“ inspirieren. Es erscheinen Gyurcsány-Fotos mit dem Slogan „Ein Land – ein Mann – ein Programm!“.

Nach einem der schmutzigsten Wahlkämpfe in der demokratischen Geschichte Ungarns beginnt sich wenige Wochen vor den beiden Wahlgängen (aufgrund des damaligen ungarischen Mischwahlsystems von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht gibt es bei den Parlamentswahlen in Ungarn zwei Wahlgänge, die innerhalb von 14 Tagen abgehalten werden) die Niederlage Viktor Orbáns abzuzeichnen. Im TV-Duell mit Ferenc Gyurcsány wirkt er schlecht vorbereitet und irgendwie gelangweilt. Insider erzählen, dass Orbán gegen Ende des Wahlkampfes keine große Lust mehr verspürt habe, um den Wahlsieg zu kämpfen. Denn er weiß zu diesem Zeitpunkt ganz genau, dass die Staatsfinanzen bereits aus dem Ruder gelaufen sind, dass der Finanzkollaps des Landes droht, wenn die Staatsausgaben nicht massiv eingeschränkt und die Einnahmen erhöht werden. Orbán weiß auch, dass die Sanierung des Staatshaushaltes kurzfristig nur durch massive Kürzungen der Sozialleistungen und Erhöhung sämtlicher Steuern möglich ist. Mehrere Berater sollen ihm daher empfohlen haben, die Regierung in dieser Phase besser nicht zu übernehmen, denn die Gefahr sei groß, zum Buhmann der Nation zu werden, nur weil er gezwungen wäre, unpopuläre Maßnahmen zu setzen, um das Land vor dem Finanzkollaps zu retten, den die Sozialisten verschuldet hatten. Es ist also durchaus denkbar, dass Viktor Orbán das TV-Duell gegen Ferenc Gyurcsány absichtlich verloren hat.

 

Erst zwei Jahre später wird eine interne Rede Orbáns bekannt, in der er gesagt haben soll, dass er die Wahl 2006 gar nicht gewinnen wollte, weil er wusste, wie schlecht es um das Land bestellt war. In dieser Rede, die eine Online-Zeitung publik gemacht hat, soll Orbán gesagt haben, dass er es nach einem Wahlsieg im Jahr 2010 leichter haben werde als Ferenc Gyurcsány im Jahre 2006, weil die Menschen damals nicht mit Sparmaßnahmen gerechnet hätten. In einigen Jahren würden sie deren Notwendigkeit bereits akzeptieren, da sie von Gyurcsány immer wieder hörten, wie schlecht die Lage im Lande sei.

Den ersten Wahlgang im Frühjahr 2006 verliert FIDESZ knapp, den zweiten deutlich. In Summe kommt die MSZP mit Ferenc Gyurcsány auf 186 der 386 Mandate im Parlament und verfehlt damit die absolute Mehrheit nur um Haaresbreite. Der bisherige Koalitionspartner der Sozialisten, der linksliberale Bund SZDSZ, holt 18 Mandate und sichert somit den Fortbestand der Regierung Gyurcsány.

FIDESZ unter Viktor Orbán muss sich mit 164 Mandaten auf weitere vier Jahre in der Opposition einstellen. Das bürgerliche Demokratische Forum, kurz MDF, schafft mit elf Mandaten wider Erwarten den Einzug ins Parlament. Die restlichen Mandate gehen an unabhängige beziehungsweise gemeinsame Kandidaten von MSZP und SZDSZ.

Die Sozialisten feiern frenetisch und liegen ihrem neuen Helden Ferenc Gyurcsány zu Füßen. Erstmals in der Geschichte der jungen Republik Ungarn hat ein Ministerpräsident seine Wiederwahl geschafft. Seit der Wende ist noch jede Regierung vom Wähler in die Opposition geschickt worden. Gyurcsány hat dieses ungarische Gesetz der Serie durchbrochen, er hat den Gipfel seiner Macht erreicht.