Schöne Grüße aus dem Orbán-Land

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Orbán wird angezählt

Viktor Orbáns politisches Ende scheint nach seiner zweiten Wahlniederlage plötzlich in greifbare Nähe gerückt zu sein. Der charismatische Führer wirkt angeschlagen, saft- und kraftlos. Er taumelt. Erstmals wird innerhalb der Partei Kritik an Orbán laut, politische Konsequenzen werden verlangt. Junge FIDESZ-Funktionäre fordern mehr Mitsprache in der Partei und kritisieren Orbáns „Alleinherrschaft“. Pläne werden öffentlich, wonach Viktor Orbán als Parteichef abgelöst und auf den Posten des Fraktionsvorsitzenden abgeschoben werden soll. Rasch bildet sich eine Gruppe von prominenten FIDESZ-Funktionären, darunter die Museumsdirektorin Mária Schmidt, der Bürgermeister von Debrecen Lajos Kósa, der ehemalige Kanzleramtsminister István Stumpf, der ehemalige Bildungsminister Zoltán Pokorni und der Politologe Tamás Fricz, die heimlich an der Demontage Orbáns arbeiten. Ermutigt werden sie vom damaligen CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, der zunehmend auf Distanz zu Orbán geht. Stoiber – von Orbán anfangs begeistert – hält ihn heute für einen Demagogen. István Stumpf reist sogar extra nach München, um mit Stoiber Strategien für den Sturz Orbáns zu besprechen …

Kurz scheint es, als hätte Orbán die Kontrolle über die innerparteilichen Diskussionen und den künftigen Weg der Partei verloren. In die Defensive gedrängt, bietet Viktor Orbán seinen Rücktritt an, reicht ihn aber offiziell nicht ein. Damit lässt er Dampf ab aus einer Diskussion um seine Person, die immer hitziger und unkontrollierter zu werden droht. Und er versucht Zeit zu gewinnen. Personelle Änderungen innerhalb von FIDESZ sollen ein Jahr später, bei einem Parteitag im Mai 2007 erfolgen, wie Orbán ankündigt.

Die gewonnene Zeit nutzt er, um jeden Einzelnen seiner Widersacher kalt abzuservieren. Dabei helfen ihm seine engsten Verbündeten, wie etwa László Kövér, heute Parlamentspräsident. Viktor Orbán hat dank seiner loyalen Freunde die Verschwörer rasch enttarnt. Über jeden Einzelnen kennt er Geschichten, die in der Öffentlichkeit nicht gut ankommen. Und daher haben sie sich auch in politisch unbedeutende Positionen abschieben lassen, quasi über Nacht, sang- und klanglos, ohne öffentlich dagegen zu protestieren.

István Stumpf wird der Posten eines Verfassungsrichters zugeschoben, obwohl er keine juristische Ausbildung hat.

Zoltán Pokorni muss sich mit dem Bürgermeisteramt des 12. Budapester Bezirks begnügen, was für ihn aber immer noch besser ist als die Rückkehr in seinen Brotberuf als Lehrer.

Die Ambitionen des Bürgermeisters von Debrecen, Lajos Kósa, Parteichef von FIDESZ zu werden, hat Orbán ebenfalls im Keim erstickt. Bei einer Parteiversammlung hat er Kósa öffentlich gedemütigt und der Lächerlichkeit preisgegeben. „Der Bürgermeister einer Großstadt ist nicht in der Lage, auch die größte politische Organisation des Landes zu führen“, sagt Orbán und erntet Applaus. FIDESZ-Mitglied Tamás Fricz verlässt die Partei freiwillig.

Der sogenannte „heiße Herbst“ (siehe das Kapitel „Der ‚heiße Herbst‘ in Ungarn“) mit zum Teil gewaltsamen Massendemonstrationen gegen die erst neu gewählte Regierung unter Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány und der überlegene Sieg von FIDESZ bei den Kommunalwahlen am 1. Oktober, dem ersten Urnengang nach der Parlamentswahl, festigen Viktor Orbáns Position als Parteichef.

Beim FIDESZ-Parteitag am 20. Mai 2007 steht er ohne Gegenkandidaten zur Wahl. 1.608 Delegierte stimmen für seinen Verbleib als Parteichef, nur 39 dagegen. Und Viktor Orbán rüstet sich für die nächste (Wahl-)Schlacht im Kampf um die Macht in Ungarn.


Auf einem Parteikongress der sozialistischen Partei gibt Ferenc Gyurcsány am 21. März 2009 überraschend seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten bekannt.

2. FERENC GYURCSÁNYS STURZ – DAS JAHR 2006 UND DIE FOLGEN

In den ersten Wochen seiner zweiten Amtszeit als ungarischer Regierungschef bemüht sich Ferenc Gyurcsány um eine Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Opposition. Er schreibt sowohl an Viktor Orbán, Parteichef von FIDESZ, als auch an Ibolya Dávid, Chefin des bürgerlichen Demokratischen Forums (MDF), einen Brief mit der Bitte um Kooperation. In dem Schreiben heißt es, er, Gyurcsány, betrachte es als seine Pflicht, in den wichtigsten nationalen Fragen nach einer Übereinkunft zwischen den politischen Parteien zu suchen.

Gyurcsány plant große Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen sowie eine Staats-, Verwaltungs- und Wahlrechtsreform. So will er beispielsweise das mit 386 Abgeordneten recht üppig besetzte Parlament auf 300 verkleinern und die Parlamentswahlen auf einen Wahlgang beschränken. Er weiß, dass er dafür eine Zweidrittelmehrheit im Parlament braucht, weil in vielen dieser Reformbereiche die Verfassung geändert werden muss. Gyurcsány bittet die Oppositionsführer zum Gedankenaustausch und holt sich eine Abfuhr. Orbáns FIDESZ lässt Ministerpräsident Gyurcsány wissen, dass seine Reformpläne intransparent, teuer und wenig demokratisch seien. Vor allem die geplante Verkleinerung des Parlaments empört die FIDESZ-Politiker. Gyurcsány versuche die Rolle des Parlaments zu beschneiden, heißt es. Damals ist noch nicht absehbar, dass Viktor Orbán fünf Jahre später das Parlament auf 199 Abgeordnete zusammenstutzen wird (siehe das Kapitel „Viktor Orbán sichert seine Wiederwahl“). Ferenc Gyurcsánys Popularität beginnt schon kurz nach seiner parlamentarischen Wahl zum Ministerpräsidenten am 9. Juni 2006 rapide zu sinken. Die Neuverschuldung Ungarns im Jahr 2006 beträgt acht (!) Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Der Ministerpräsident sieht sich daher zu drastischen Sofortmaßnahmen gezwungen, um den stetig wachsenden Schuldenberg des Landes irgendwie zu stoppen.

Zum Entsetzen der Bevölkerung lässt Gyurcsány zahlreiche Preis- und Steuererhöhungen durchs Parlament peitschen: Erhöht werden die Mehrwertsteuer auf bestimmte Produkte von 15 auf 20 Prozent, die Umsatzsteuer von 15 auf 25 Prozent, die Genusssteuer bei Zigaretten um fast sechs Prozent und bei alkoholischen Getränken – bis auf Wein – um sieben Prozent. Leicht angehoben wird auch die Rezeptgebühr. Außerdem werden eine Praxisgebühr von 300 Forint (knapp zwei Euro) pro Arztbesuch und eine Spitalsgebühr von ebenfalls 300 Forint pro Tag eingeführt. Ausgenommen sind chronisch Kranke und Mindestrentner. Neu sind ferner eine Zins- und eine Kursgewinnsteuer in der Höhe von je 20 Prozent sowie eine Solidaritätssteuer in Höhe von vier Prozent für Arbeitnehmer, die monatlich mehr als 500.000 Forint (knapp 2.000 Euro) verdienen. Dem nicht genug, lässt Gyurcsány auch noch die Gaspreise um durchschnittlich 30 Prozent erhöhen und die Strompreise um zehn bis 14 Prozent. Und auch Studenten müssen zahlen, Studiengebühren werden wieder eingeführt.

Die Verwaltungsreform, die einen massiven Stellenabbau im öffentlichen Dienst gebracht hätte, scheitert am Veto der Orbán-Partei FIDESZ. Gyurcsány hätte dafür eine Zweidrittelmehrheit, also die Stimmen der FIDESZ-Parlamentarier benötigt. Trotzdem werden Beamte gekündigt, eine Pragmatisierung wie in Österreich gibt es in Ungarn nicht. Die Gyurcsány-Regierung beginnt noch im Sommer 2006 mit der stufenweisen Kündigung von 12.000 der insgesamt rund 300.000 ungarischen Staatsdiener.

Plötzlich herrscht Unruhe im Land, die Gewerkschaften rufen zu Demonstrationen auf und das Vertrauen der Ungarn in die Gyurcsány-Regierung sinkt auf ein Allzeittief.

Im Zuge der heftigen Kritik am Sparprogramm der Regierung Gyurcsány II ist eine Aussage von Viktor Orbán damals kaum aufgefallen, die aber heute, im Rückblick, doch bemerkenswert erscheint: Im Juli 2006 behauptet Orbán bei einer Großkundgebung im rumänischen Siebenbürgen, dass Gyurcsány die Wahlen im April nur mit Lügen gewonnen habe. „Ungarn ist Opfer einer politisch organisierten Lüge“ sagt der nationalkonservative Oppositionsführer, und er prophezeit ein vorzeitiges Ende der Regierung. Offenbar besitzt Viktor Orbán zu diesem Zeitpunkt bereits Informationen, die er erst kurze Zeit später an die Öffentlichkeit bringen lässt und die seine Position festigen sowie Gyurcsánys Sturz einleiten.

Der „heiße Herbst“ in Ungarn

Am 17. September 2006 platzt in Budapest eine politische Bombe, die den Auftakt zu einer in der demokratischen Geschichte Ungarns beispiellosen Welle der Gewalt markiert und zur nahezu vollständigen Handlungsunfähigkeit der Regierung Gyurcsány führt. An diesem lauen Spätsommersonntag veröffentlicht der ungarische Rundfunk eine Audiokassette, auf der eine Rede von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány zu hören ist.

Die Rede hat es in sich: Gyurcsány liest den Abgeordneten der sozialistischen Parlamentsfraktion die Leviten, in einer Sprache, die auch schlichte Gemüter sofort verstehen. „Wir haben vier Jahre lang nichts getan und wahrscheinlich bis zum Schluss gelogen“, poltert der wiedergewählte Ministerpräsident. „Wir haben noch nie solche Probleme gehabt wie jetzt, aber es gibt nicht mehr viele Möglichkeiten, weil wir es verschissen haben, nicht ein bisschen, sondern sehr! Wir haben offenbar die letzten eineinhalb, zwei Jahre durchgelogen, morgens, mittags und abends. Es war ganz klar, dass nicht wahr ist, was wir sagen. Dass wir dermaßen jenseits der Möglichkeiten des Landes sind, wie wir es uns nie vorher vorstellen konnten. Und was haben wir sonst während der letzten vier Jahre gemacht? Nichts! Wir können keine einzige bedeutsame Regierungsentscheidung nennen, auf die wir stolz sein können, außer jener, dass wir zum Schluss die Regierung (mit dem Wahlsieg, Anm.) aus der Scheiße gefahren haben. Wenn wir vor dem Land Rechenschaft ablegen müssen, was wir in den vier Jahren gemacht haben, was sagen wir dann? (…) Ihr irrt euch, wenn ihr denkt, dass ihr Handlungsmöglichkeiten habt. Ihr habt sie nicht. Ich habe sie auch nicht. Heute besteht höchstens die Chance, ob wir versuchen, zu beeinflussen, was passiert, oder das ganze Zeug fällt uns auf den Kopf. Unsere Lösung ist sicher nicht vollkommen (…) aber wir wissen keine bessere. (…) Die ersten paar Jahre werden furchtbar sein, sicher. Aber es ist völlig uninteressant, dass (künftig nur, Anm.) 20 Prozent der Bevölkerung für uns stimmen werden. (…) Was wäre mal, wenn wir unsere Popularität nicht (deswegen, Anm.) verlieren, weil wir Arschlöcher zueinander sind, sondern weil wir große gesellschaftliche Dinge machen wollen? Und es ist auch kein Problem, wenn wir dann für einige Zeit unsere Popularität in der Gesellschaft verlieren. Wir werden sie dann eben wieder zurückgewinnen. Weil sie (die Ungarn, Anm.) es einmal verstehen werden.“ (Übersetzung der Austria Presse Agentur vom 18. 9. 2006)

 

Es ist eine sehr emotionale Rede, die Ferenc Gyurcsány am 26. Mai, also kurz nach seinem Wahlsieg, in Balatonöszöd anlässlich einer internen Sitzung der sozialistischen Parlamentsfraktion hält. Damals Anwesende erzählen hinter vorgehaltener Hand, dass Gyurcsány schon ein paar Gläschen Whisky zu viel intus hatte. Das erklärt auch seine allzu lockere Umgangssprache. Bis heute ist nicht bekannt, wer die Rede mitgeschnitten und wer sie letztlich dem ungarischen Rundfunk zugespielt hat. Die Verantwortlichen von Magyar Rádió haben sich stets auf das Redaktionsgeheimnis berufen.

Tage später wollen britische Medien erfahren haben, dass frustrierte Sozialisten rund um die Parlamentspräsidentin Katalin Szili die Tonbandaufnahme der Öffentlichkeit zugespielt haben. Szili soll der Reformkurs Gyurcsánys nicht gefallen und Ambitionen auf den Posten des Ministerpräsidenten gehabt haben, wie der konservative „Sunday Telegraph“ Ende September 2006 zu wissen glaubt. Bestätigt ist das nicht.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Audiokassette zuerst Orbáns Partei FIDESZ erhalten hat. Offenbar hat Orbán auf einen geeigneten Zeitpunkt für die Veröffentlichung gewartet: nämlich exakt zwei Wochen vor den landesweiten Kommunalwahlen am 1. Oktober. Auffallend ist, dass der gewiefte Oppositionschef schon Wochen vor der Veröffentlichung das „Feld“ entsprechend aufbereitet hat. Begonnen hat er bei der bereits erwähnten Großveranstaltung der ungarischen Minderheit in Rumänien. Orbán lässt vor der Veröffentlichung der Balatonöszöd-Rede Gyurcsánys keine Gelegenheit aus, den sozialistischen Ministerpräsidenten zum Rücktritt aufzufordern, weil er die Wahlen nur mit Lügen gewonnen habe. Und er spricht der Gyurcsány-Regierung die Legitimität ab. Gleichzeitig verlangt er von der Bevölkerung, endlich aufzuwachen und für den Rücktritt der Gyurcsány-Regierung auf die Straße zu gehen, weil die Regierung im Wahlkampf gelogen habe.

Im Internet initiiert FIDESZ die Protestbewegung „Guten Morgen, Ungarn“. Und immer wieder betont er, dass Gyurcsány gelogen habe. All das Wochen vor der Veröffentlichung der schockierend ehrlichen Balatonöszöd-Rede Gyurcsánys, die paradoxerweise als „Lügen-Rede“ in die politische Geschichte Ungarns eingegangen ist.

Jetzt geht’s los …

Noch am Abend der Veröffentlichung versammeln sich tausende aufgebrachte Regierungsgegner auf dem Budapester Kossuth-Platz vor dem Parlament und verlangen den sofortigen Rücktritt des Ministerpräsidenten und rasche Neuwahlen. Auch in anderen Städten des Landes wird gegen Gyurcsány protestiert, der von Viktor Orbán medienwirksam zur Persona non grata der ungarischen Politik erklärt wird.

Während hauptsächlich jene Menschen demonstrieren, die FIDESZ bereits Wochen zuvor mobilisiert hat, setzt der Innenminister auf die Polizei. Ihre Präsenz ist gewaltig. Hunderte Einsatzkräfte bilden einen doppelten Schutzkordon rund ums Parlament, vorsorglich errichten sie Barrikaden. Die Demonstrationen sind friedlich. Anfangs.

Doch schon bald gesellen sich rechtsradikale Glatzköpfe in Tarnanzügen und Springerstiefeln dazu sowie Fußball-Hooligans des Erstliga-Clubs Ferencváros und andere gewaltbereite Typen mit aufgestautem Alltagsfrust. Sie suchen die Konfrontation. Politik interessiert sie nur wenig. Angestachelt werden sie von der rassistischen und antisemitischen Partei namens Jobbik, die damals noch nicht im Parlament vertreten ist.

Der Parteiname „Jobbik“ ist von den Rechtsradikalen ganz bewusst gewählt worden, weil das Wort „Jobbik“ in der ungarischen Sprache einen doppeldeutigen Sinn hat. „Jobb“ heißt auf Deutsch „besser“, aber auch „rechts“ („jobb oldal“ = die rechte Seite). „Jobbik“ kann daher mit „das Bessere“ oder im politischen Sinne mit „rechts“ übersetzt werden. Jobbik-Politiker verstehen sich als die Besseren auf der rechten Seite im politischen Spektrum.

Die Demonstrationen auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament beginnen zu eskalieren, als Jobbik in einem Internetvideo zum Sturz der Regierung aufruft. In dem Video werden Parallelen zum Ungarnaufstand 1956 gezogen. Zunächst ist ein Foto des ungarischen stalinistischen Diktators Mátyás Rákosi (1949 – 1956) zu sehen, anschließend ein Bild von Ferenc Gyurcsány. Zu hören ist ein Originalzitat eines Radiojournalisten, der über seine Arbeit während des kommunistischen Regimes in den Oktobertagen des Jahres 1956 erzählt: „Wir logen in der Nacht, wir logen am Tag, wir logen auf jeder Wellenlänge.“ Überblendet zu hören sind Gyurcsánys Aussagen, wonach seine Regierung über die wahre wirtschaftliche Situation des Landes „in der Früh, zu Mittag und am Abend“ gelogen hat. Zu lesen ist: „Die Geschichte wiederholt sich …“ Am Ende des Videos folgt der Aufruf: „Stürzen wir die Regierung!“ mit dem Hinweis, wann und wo die nächste Demonstration stattfindet.

Weder Viktor Orbán noch Funktionäre seiner Partei haben sich je von dem Jobbik-Aufruf distanziert. Im Gegenteil. Für Beobachter der Ereignisse im sogenannten „heißen Herbst 2006“ ist oft deutlich zu sehen, dass FIDESZ mit der damals außerparlamentarischen Partei Jobbik eine stille Allianz geschmiedet hat. Jobbik-Vertreter stacheln rechtsradikale Glatzköpfe, Fußball-Hooligans und Rowdies an, gewaltsam gegen die Polizei vorzugehen, mit der Absicht, die Polizei zum Gegenschlag zu provozieren. Immer öfter fliegen bei den anfänglich friedlichen Demos Molotow-Cocktails, Steine und Flaschen gegen die Einsatzkräfte. Ein Mob zertrümmert Schaufenster, setzt Mülltonnen in Brand und liefert sich stundenlange Straßenschlachten mit einer zum Teil heillos überforderten Polizei, die verzweifelt versucht, die tobende Masse mit der Zündung von Tränengasgranaten und dem Einsatz von Wasserwerfern auseinanderzutreiben sowie die Rädelsführer zu verhaften.

Erst viel später wird bekannt, dass viele junge Polizisten, die an vorderster Front agiert haben, für solche „Kampfeinsätze“ gar nicht ausgebildet waren. Sie sind aus ländlichen Regionen nach Budapest beordert worden, um zu helfen. Daher ist passiert, was in solchen Fällen eben passieren muss: Etliche Polizisten verlieren „im Gefecht“ die Nerven und prügeln mit ihren Schlagstöcken auf Demonstranten ein. Und nicht selten kommt es vor, dass die Prügel friedfertige Demonstranten beziehen, die eigentlich zwischen den Rowdies und den Einsatzkräften vermitteln wollten. Die dutzenden Kamerateams und zahlreichen Pressefotografen stehen mittendrin und dokumentieren die Übergriffe. Und genau darauf warten Jobbik- und FIDESZ-Funktionäre. Sofort ziehen sie Vergleiche mit den blutigen Ereignissen des Oktoberaufstandes von 1956. „Der Stalinist Gyurcsány schickt seine Prügelpolizei, um friedliche Demonstranten niederzuknüppeln“, heißt es immer wieder. Im Internet veröffentlichen die Rechtsradikalen Fotos von blutenden Demonstranten, und das heizt die Massendemos weiter an. Die Einpeitscher der Demos lassen regelmäßig „ötvenhat – ötvenhat“ (56 – 56, in Anspielung auf den Aufstand von 1956 gegen die Sowjetunion) skandieren. Den aus aller Welt eilig angereisten Reportern, staunenden Beobachtern und irritierten Touristen in Budapest wird so suggeriert, dass in Ungarn nach 1956 eine zweite Revolution im Gange ist, eine Revolution gegen eine stalinistische Diktatur mit Ferenc Gyurcsány als Diktator.

Ständig wird betont, dass der Ministerpräsident wegen seines Eingeständnisses, gelogen zu haben, seine politische Legitimität verloren habe, also jetzt illegal an der Macht sei. Es sei also nur verständlich, wenn sich in diesen Tagen „ganz Ungarn“ auflehnen würde, sagen Oppositionspolitiker mit Unschuldsmiene vor der Weltpresse.

Viktor Orbán und seine FIDESZ-Parteifreunde verurteilen zwar die Gewalt bei den Demonstrationen, lassen aber immer wieder Verständnis für die kriminellen Taten des Mobs erkennen. Die Menschen seien eben sehr frustriert und enttäuscht von der Gyurcsány-Regierung, die jetzt zurücktreten müsse, um Schlimmeres zu verhindern, wie in unzähligen Interviews und öffentlichen Reden dieser Tage immer wieder gesagt wird.

Mit dieser Rhetorik schmieden FIDESZ-Politiker bewusst oder unbewusst eine Allianz mit Jobbik und ermutigen die Rechtsradikalen, ihre gewaltsamen Demos fortzusetzen. Gleichzeitig üben FIDESZ- und Jobbik-Vertreter heftige Kritik an der Vorgangsweise der Polizei, die nichts anderes im Sinn hätte, als die „friedlichen Demonstranten“ niederzuprügeln. Die Polizei – so heißt es – stehe auf der Seite des Diktators. Mit dieser dummen Behauptung wollen die FIDESZ- und Jobbik-Leute glauben machen, dass Ungarn zu einem diktatorischen Polizeistaat verkommen sei.

Schon damals fällt auf, dass bei FIDESZ-Politikern und ihren Sympathisanten eine differenzierte Sichtweise der politischen Ereignisse nicht akzeptiert wird sowie eine kritische Distanz zu den handelnden Personen der Opposition unerwünscht ist. In den Augen von Viktor Orbán und seiner FIDESZ-Parteifreunde gelten nur jene als gute Journalisten, die Orbáns Position kritiklos wiedergeben und sie im Bestfall auch untermauern. Orbán und seine Freunde haben damals von der Weltpresse erwartet, dass sie die Gyurcsány-Regierung in Grund und Boden schreibt, dass sie über eine Diktatur berichtet, die zu Unrecht an der Macht ist und gestürzt gehört. Wer das nicht tat, sondern wer differenziert über den „heißen Herbst 2006“ berichtete, wird bis heute als unverbesserlicher Linker bezeichnet, der eine „sozialistische Diktatur“ medial stützen wollte.

Besonders deutlich habe ich das nach einer Liveschaltung für die „Zeit im Bild 2“ mitten unter den Demonstranten auf dem Budapester Kossuth-Platz vor dem Parlament zu hören bekommen. Umringt von vielen Zuhörern, habe ich live auf Sendung gesagt, dass sich auch die Demonstranten an demokratische Spielregeln zu halten haben. „Sie müssen langsam akzeptieren, dass es in einem EU-Mitgliedsland nicht zulässig ist, eine demokratisch gewählte Regierung gewaltsam zu stürzen. Es bedarf demokratischer Mittel, eine Regierung zum Abdanken zu bringen!“ Nach Beendigung meines Liveberichts ist ein Zuhörer mittleren Alters auf mich zugegangen und hat wörtlich zu mir gesagt: „Weißt du, was du bist? Du bist eine angemietete Habsburg-Judensau!“ Mich wundert bis heute, dass er nicht auch noch das Wort „Zigeuner“ verwendet hat.

24 Stunden nach Veröffentlichung der sogenannten „Lügen-Rede“ beginnen sich hunderte Demonstranten auf der Parkanlage vor dem Parlament häuslich einzurichten. Sie schlagen Zelte auf und errichten Kochstellen, denn sie wollen den Kossuth-Platz so lange besetzt halten, bis die Gyurcsány-Regierung zurücktritt. Und sie kündigen für den nächsten Tag an, zum Gebäude des öffentlichrechtlichen ungarischen Fernsehens, kurz MTV (Magyar Televízió), ziehen zu wollen, um in den Programmen von MTV 1 und MTV 2 eine Petition der Demonstranten verlesen zu lassen.

Noch am selben Abend versammeln sich hunderte Menschen vor dem Gebäude des ungarischen Fernsehens auf dem Freiheitsplatz im Zentrum von Budapest. Lautstark verlangen sie Einlass. Sie wollen allen Ernstes in den Programmen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens die Regierung ultimativ zum Rücktritt auffordern. Die Stimmung vor dem prachtvollen MTV-Gebäude im Herzen Budapests wird immer aggressiver.

Plötzlich ist MTV der Feind. Hunderte gewaltbereite Rowdies, Hooligans und stiernackige Glatzköpfe stürmen den Haupteingang des Fernsehzentrums auf dem Budapester Freiheitsplatz. Zwei MTV-Fahrzeuge gehen in Flammen auf. Und wieder ist die Polizei schwer überfordert. Es fliegen Steine, Flaschen und Brandbomben. 50 Personen werden verletzt, drei von ihnen schwer. Unter den Verletzten sind zahlreiche Polizisten. Schließlich geben die Sicherheitskräfte auf und überlassen das Gebäude kurz nach ein Uhr morgens den tobenden Demonstranten. Daraufhin schaltet der Sender beide Kanäle ab. Bis zu diesem Zeitpunkt ist auf einem der beiden Kanäle die Erstürmung des Gebäudes live übertragen worden.

 

Welch Geistes Kinder manche unter den gewaltbereiten Demonstranten waren, verdeutlicht ein Telefongespräch, das einer der Rowdies geführt hat und das von meinem Kameramann aufgeschnappt wurde, der mit seiner Kamera mitten im Getümmel stand. Unmittelbar nach Erstürmung des Gebäudes griff ein gestiefelter Glatzkopf im Großungarn-Leiberl (schwarzes T-Shirt mit der Karte Ungarns in seinen Grenzen vor 1918 auf dem Rücken) zu seinem Mobiltelefon, um einem seiner Kameraden den „Sieg“ zu vermelden. Freudig erregt brüllte er ins Telefon: „Wir haben’s geschafft, wir haben soeben das Parlament (!) gestürmt!!!“


20. September 2006: ein Demonstrant vor dem Gebäude des öffentlich-rechtlichen ungarischen Fernsehens. Nach Bekanntwerden der sogenannten Balatonöszöd-Rede von Ferenc Gyurcsány, in der er schwere Kritik an seiner Regierung und den sozialistischen Parteigenossen übte, kommt es in ganz Ungarn zu gewalttätigen Protesten gegen die Regierung.

Und wieder versucht die Orbán-Partei FIDESZ, die eskalierende Gewalt zu rechtfertigen. Péter Szijjártó, enger Vertrauter von Viktor Orbán, heute Staatssekretär im Außenamt, damals Parteisprecher, sagt: „Die Menschen werden von äußerster Verzweiflung und Verbitterung überwältigt, nachdem sie erkannt haben, dass die Regierung im Interesse des Machterhalts gelogen hat.“

Den Druck der Straße bekommt auch der bürgerliche Staatspräsident László Sólyom zu spüren. Von allen Seiten wird er aufgefordert, die Regierung zu entlassen und Neuwahlen auszuschreiben. Eine Forderung, die der der Regierung kritisch gegenüberstehende bürgerliche Sólyom beim besten Willen nicht erfüllen kann.

Anders als in Österreich hat der ungarische Präsident gemäß Verfassung kein Recht, die Regierung zu entlassen. Sólyom hätte Gyurcsány zwar ausdrücklich zum Rücktritt auffordern können, doch das hat der Staatspräsident nicht getan, aus Angst, seine eigene Autorität zu verspielen und damit die Krise zu verschärfen. Denn Gyurcsány hätte die Rücktrittsaufforderung des Präsidenten ohne Konsequenzen ignorieren und den Staatspräsidenten damit als handlungsunfähig der Öffentlichkeit preisgeben können.


Rechtsextreme Demonstranten errichten in den Straßen Budapests Straßenbarrikaden.

Sólyom beschränkt sich darauf, die Gewalt zu verurteilen, er spricht von Straftaten der Demonstranten und übt Kritik am sozialistischen Ministerpräsidenten. Der Staatspräsident beschuldigt Gyurcsány, eine moralische Krise in Ungarn ausgelöst zu haben, und er verlangt, dass sich der Regierungschef bei der ungarischen Bevölkerung entschuldigen möge. Dieser Forderung kommt Ferenc Gyurcsány nicht nach, so wie auch allen Rücktrittsaufforderungen.

Die spanische Zeitung „El Mundo“ meint dazu, dass Ferenc Gyurcsány mit seiner Weigerung zurückzutreten bereits den zweiten Fehler begangen habe. Der erste sei gewesen, zu glauben, dass seine interne Rede in Balatonöszöd nicht publik werden würde, der zweite, dass er nicht bereit sei, dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Die MSZP, die sozialistische Partei Ungarns, steht in diesem „heißen Herbst“ voll und ganz hinter dem Ministerpräsidenten. Die Reihen werden dicht geschlossen. Sowohl MSZP-Chef István Hiller als auch die Fraktionsvorsitzende der Sozialisten im Parlament, Ildikó Lendvai, sichern dem Ministerpräsidenten und seiner Regierung die eindeutige Unterstützung zu. In Wahrheit bleibt den beiden auch gar nichts anderes übrig, als eine Art „Augen zu und durch“-Strategie zu verfolgen. Ein fliegender Wechsel des Regierungschefs, so wie schon vor zwei Jahren von Medgyessy zu Gyurcsány, hätte die konservative und rechtsradikale Opposition nicht zufriedengestellt und dem Land somit auch keine Ruhe verschafft.


Protestveranstaltung gegen die Regierung Gyurcsány auf dem Budapester Heldenplatz (23. September 2006).

Die andere Option, nämlich ein Rücktritt der gesamten Regierung samt vorzeitigen Neuwahlen, hätte die Abstrafung der ungarischen Sozialisten durch den Wähler und ihre todsichere Verbannung in die Opposition bedeutet. Hilfesuchende Blicke vieler verunsicherter Ungarn zur EU nach Brüssel bringen keine Aufschlüsse. Die Kommission der Europäischen Union will die Ereignisse beim EU-Neuling Ungarn nicht kommentieren. Eine Sprecherin der Kommission sagt, dass die EU die gewalttätigen Proteste gegen die sozialistisch-liberale Regierungskoalition unter Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány als interne Angelegenheit betrachte. Die Unruhen seien „eine Sache der demokratischen Institutionen in Ungarn“, wie die Kommissionssprecherin betont. Die Kommission sei nicht in einer Rolle, einzelne Regierungen zu bewerten oder im konkreten Fall einzugreifen. Brüssel hält sich vornehm zurück. Heute gilt diese Zurückhaltung bei vielen Orbán-Sympathisanten und FIDESZ-Vertretern als Beweis, wie einseitig und parteipolitisch gefärbt die EU-Kommission Ungarn beurteilt, wie blind sie auf dem „linken Auge“ ist.

Die Demonstranten gegen die linksliberale Gyurcsány-Regierung beweisen Ausdauer. In den Septembertagen des Jahres 2006 wird täglich demonstriert. Meistens stehen tausende Menschen vor dem Parlament, manchmal nur zwei-, dreihundert. Jedes Mal stimmen sie „Nieder mit Gyurcsány“-Sprechchöre an oder „Gyurcsány verschwinde“. Und immer dann, wenn sich rechtsradikale Glatzköpfe oder Fußball-Hooligans dazugesellen, kommt es zu Raufereien mit der Polizei. Manchmal sind sie heftig, manchmal weniger heftig, je nach Höhe des Frustrationspegels der Rowdies. Und wie das Amen im Gebet sprechen FIDESZ- und Jobbik-Politiker nach solchen Zusammenstößen von der „Prügelpolizei, die der Diktator Gyurcsány gegen friedliebende Demonstranten losschickt, um seine Diktatur zu schützen!“.