Schöne Grüße aus dem Orbán-Land

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Das erste Wahldebakel der Sozialisten

Viktor Orbán und seine FIDESZ-Parteifreunde versuchen den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Orbán erklärt die bevorstehenden landesweiten Kommunalwahlen am 1. Oktober des Jahres 2006 zu einer Volksabstimmung über den Verbleib der Gyurcsány-Regierung. „Verlieren die Sozialisten, müssen sie gehen und einer Expertenregierung Platz machen“, fordert Orbán entschlossen. Wahlberechtigt sind mehr als acht Millionen Ungarn, gewählt werden die Bürgermeister, Bezirks- und Gemeindevertreter. Die Kommunalwahlen vier Jahre zuvor (2002) haben die bürgerlichen Parteien verloren. Die sozialliberalen Regierungsparteien sind in 16 von 22 Komitaten als Sieger hervorgegangen. Die Kandidaten der Koalitionsparteien haben sich über 48 Prozent der Sitze in den Gemeinde- und Stadtparlamenten gesichert, die bürgerlichen Oppositionsparteien nur knapp 33 Prozent. Die Wahlbeteiligung war 2002 mit rund 52 Prozent die höchste seit der politischen Wende im Jahr 1990. Vier Jahre später stehen in den Septembertagen des Jahres 2006 die Vorzeichen für einen fulminanten Wahlsieg von FIDESZ so gut wie noch nie.

Erwartungsgemäß enden die Kommunalwahlen in Ungarn mit einer herben, schmerzhaften Niederlage für die beiden Regierungsparteien MSZP (Sozialisten) und SZDSZ (Linksliberale). In fast allen Komitaten erringt FIDESZ oder eine bürgerliche Gruppierung die Mehrheit. Alle Medien des Landes interpretieren das Wahlergebnis als schallende Ohrfeige oder zumindest als Denkzettel für die Gyurcsány-Regierung. Zwar räumen Kommentatoren ein, dass ja eigentlich nur Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters zur Wahl gestanden sind, die lokale Probleme lösen müssen, aber dennoch haben die meisten Wähler den Kommunalwahlen eine überregionale Bedeutung beigemessen und demnach auch ihr Wahlverhalten entsprechend ausgerichtet. Das zeigt schon allein die Rekordwahlbeteiligung von mehr als 53 Prozent. Wäre es in den Bezirken und Gemeinden wirklich nur um die Frage gegangen, wer Bezirks-, Gemeinderat oder Bürgermeister werden soll, dann wäre die Wahlbeteiligung deutlich niedriger gewesen.

Viktor Orbán verlangt noch in der Wahlnacht den sofortigen Rücktritt der Regierung, die seiner Ansicht nach abgewählt ist. Ferenc Gyurcsány sagt vor laufenden Kameras, er habe die Kritik der Wähler an seiner Politik gehört und verstanden. Er bleibe im Amt, weil die Reformen für Ungarn unumgänglich seien. Ferenc Gyurcsány denkt auch in dieser Phase nicht an Rücktritt. Er ist ein Sportlertyp, der den Zweikampf sucht, und eine Spielernatur, die hohe Einsätze liebt. Er will jetzt wissen, wie lange er durchhalten kann, will testen, wer zu ihm steht und wer nicht, auf wen er setzen kann und auf wen nicht. Für Gyurcsány wird alles plötzlich zum Spiel, das er mehr und mehr zu genießen beginnt. Das Schicksal des Landes ist ihm nicht mehr so wichtig. Jetzt beginnt es für ihn so richtig lustig zu werden.

Tags darauf verschärft Orbán den Ton. Er stellt den Sozialisten ein Ultimatum. Wenn die Sozialisten nicht innerhalb von drei Tagen den Rücktritt Gyurcsánys initiieren, wird FIDESZ die ungarische Bevölkerung zum Parlament rufen. Orbán droht mit einer in ihrer Größe noch nie dagewesenen Massendemonstration, indirekt mit einer Revolution.

Ferenc Gyurcsány gibt sich gelassen und kontert, indem er sich als demokratischer Staatsmann inszeniert. Im Parlament betritt er im dunklen Anzug und mit ernster Miene das Rednerpult, gratuliert FIDESZ zum Wahlsieg bei den Kommunalwahlen und beginnt, das Wahlergebnis zu interpretieren. „Ich lese daraus ab“, sagt er im Stile eines unabhängigen Meinungsforschers, „dass die Wähler nicht nur über die Kandidaten abgestimmt, sondern auch ihre Meinung über die Regierungspolitik zum Ausdruck gebracht haben. Ich höre die Stimme der Kritik, gleichzeitig fühle ich aber auch Regierungsverantwortung.“ Gyurcsány sagt es erhobenen Hauptes und kündigt zur Überraschung seiner Fraktion an, die Vertrauensfrage im Parlament zu stellen.

Damit setzt die Spielernatur Gyurcsány alles auf Rot. Werden „seine“ Sozialisten loyal zu ihm stehen und weiter mit ihm ziehen? Die Kugel rollt … In dieser Parlamentssitzung bringt Ibolya Dávid, die Chefin der kleinen, bürgerlichen Partei namens „Demokratisches Forum“, kurz MDF, die politische Situation in Ungarn auf den Punkt. Sie sagt: „Zwei Menschen sind für die Unruhen in Ungarn verantwortlich: Ferenc Gyurcsány und Viktor Orbán. Wir driften in eine ernsthafte politische Krise. Gyurcsány hat im Interesse des Machterhalts die Wähler auf zu verurteilende Art belogen. Orbán führt die Massen auf unverantwortliche Weise auf die Straße, um Gyurcsány damit zu erpressen!“ – deutlicher hätte man es nicht sagen können.

… und die Kugel fällt auf Rot. Das Ultimatum Orbáns hat letztlich nur eines bewirkt: das Zusammenrücken der beiden Regierungsparteien MSZP und SZDSZ. Bei internen Fraktionssitzungen wird einstimmig beschlossen, Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány das Vertrauen auszusprechen. Und daran haben sich die beiden Regierungsparteien auch gehalten. Gyurcsány gewinnt erwartungsgemäß die Vertrauensabstimmung im Parlament – und Orbán? Er ruft die Massen vors Parlament! Mehr als 100.000 Menschen folgen dem Ruf des Oppositionsführers. Sie kommen mit Fahnen, Kerzen und Weckern, als Symbol für eine erwachende Bevölkerung, die im Begriff ist, sich ihrer „ungeliebten, unrechtmäßigen, diktatorischen“ Regierung zu entledigen. In einer flammenden Rede fordert Viktor Orbán die Massen auf, ab jetzt täglich vor dem Parlament zu demonstrieren, bis die Regierung zurücktritt. Damit verlegt er die Oppositionspolitik vom Parlament auf die Straße. Plenarsitzungen boykottiert Orbán. Er ordnet an, dass FIDESZ-Parlamentarier das Plenum verlassen müssen, wenn Ministerpräsident Gyurcsány das Wort ergreift.

Jetzt wird’s gewalttätig …

Der 23. Oktober 2006 ist ein wichtiger Tag in der Geschichte Ungarns. Es ist der 50. Jahrestag der Revolution von 1956 gegen die sowjetische Besatzungsmacht in Ungarn. Mehr als 50 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt reisen nach Budapest, um an den Gedenkfeierlichkeiten teilzunehmen, organisiert von der ungarischen Regierung unter Ferenc Gyurcsány. Unter den Festgästen selbstverständlich auch der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer, der als junger Sozialdemokrat während des Aufstandes an der ungarischen Grenze gestanden war und für die Freiheit Ungarns demonstriert hatte. Doch statt dass in einer würdigen Feier der ungarischen Helden des Aufstandes gedacht wird, versinkt der Gedenktag im Chaos einer gewaltsamen Massendemonstration gegen die Gyurcsány-Regierung.

Die in ihren Staatskarossen vors Parlament rollenden Festgäste aus aller Welt werden mit ohrenbetäubender Revolutionsmusik empfangen, die von den knapp 100 Demonstranten auf dem Kossuth-Platz vor dem Hauptportal abgespielt wird. Die Musik wird von einem gellenden Pfeifkonzert übertönt, als der Wagen mit Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány eintrifft. Teil des Festaktes ist die Ehrung von 70 Persönlichkeiten wegen ihrer Verdienste für die Republik Ungarn. Die Auszeichnungen überreicht Staatspräsident László Sólyom in Anwesenheit des Ministerpräsidenten. Demonstrativ verweigern einige der Geehrten Gyurcsány den Handschlag. Unterdessen treffen vor dem Parlament immer mehr Demonstranten ein. Rund 2.000 sind es zu Mittag. Immer wieder skandieren sie „ötvenhat – ötvenhat – ötvenhat“ (56 – 56 – 56). Damit bringen die Demonstranten zum Ausdruck, dass sie ihren Protest als „Revolution“ gegen das „Gyurcsány-Regime“ verstehen, bei dem es sich für sie um die Erben derjenigen handelt, die die Revolution von 1956 brutal niedergeschlagen haben. Die Atmosphäre wird von Stunde zu Stunde aggressiver. Die Polizei zieht Einheiten zusammen und bereitet sich auf die Räumung des Kossuth-Platzes vor. Während im Parlament der offizielle Festakt zum Gedenken an die Opfer der Oktoberrevolution 1956 abgehalten wird, krachen vor dem Hohen Haus aggressive Demonstranten, vorwiegend Skinheads und Fußball-Hooligans, mit der Polizei zusammen. Innerhalb kürzester Zeit greifen die Ausschreitungen um sich. Es kommt zu heftigen Straßenschlachten an mehreren Plätzen der Budapester Innenstadt. Dabei gelingt es den selbst ernannten „Freiheitskämpfern“, einen anlässlich des Gedenktages ausgestellten sowjetischen Panzer vom Typ T-34 zu kapern, der vom heeresgeschichtlichen Museum zur Verfügung gestellt worden war. Vermummte Männer schlagen zuerst den Sicherheitsdienst nieder, sägen die Einstiegsluke auf und bringen dann den Motor des an sich fahruntauglichen Kriegsgeräts mit mitgebrachten Akkus und Treibstoff zum Laufen. Ihre Spazierfahrt durch die Budapester Innenstadt – teilweise mitten zwischen den Demonstranten – wird schließlich von einem Spezialkommando beendet. Die Straßenkämpfe hingegen dauern bis in die frühen Morgenstunden.

Die Bilanz der gewaltsamen Ausschreitungen an diesem wichtigen Gedenktag für die Geschichte Ungarns ist verheerend. 130 Menschen werden verletzt, davon 20 Polizisten. Mehr als 100 sind in Haft. Das Schadensausmaß in der Budapester Innenstadt wird auf knapp eine Million Euro geschätzt. Im In- und Ausland herrschen großes Entsetzen und Bestürzung über die Gewalt in Ungarn.

Die Orbán-freundliche Presse sieht in den gewaltsamen Ausschreitungen am Jahrestag der Oktoberrevolution den Beweis für die Existenz eines Polizeistaates mit Ferenc Gyurcsány an der Spitze. In einem Leitartikel der nationalkonservativen Zeitung „Magyar Nemzet“ (Ungarische Nation) ist zu lesen: „Es hat sich erneut bewahrheitet, dass ein Polizeistaat, ein staatlicher Terror nach Ungarn gezogen ist. Dass die Macht Angst vor ihren eigenen Bürgern hat und sich nur hinter Paravents und Sicherheitsglas, mit der Sicherung durch Heckenschützen und Polizisten mit Schilden, zu ‚feiern‘ traut. (…) Was hat sich seit 1956 geändert?, können wir fragen; und ich leihe mir von einem der gestrigen Demonstranten die Antwort, der es so formuliert hat: Im Verhältnis zwischen Bürgern und Regierung ist der einzige Unterschied zwischen heute und vor fünfzig Jahren, dass heute vielleicht die Russen nicht mehr einmarschieren werden.“

 

Die linksliberale Presse spricht von einem geschändeten Fest. Ein Kommentator der Tageszeitung „Népszabadság“ schreibt: „Die organisierte Würde, die organisierte Gegen-Würde und die organisierte Unwürdigkeit haben die Straßen und Plätze von Budapest überschwemmt. Das Niederlegen der weißen Rosen am Vormittag war noch schön. Dann kamen die Feiern ohne Volk und das Volk ohne Feiern. Und all dies erhielt seinen milden Rahmen durch Straßenkämpfe ohne jede Glorie. Wenn wir von den Ereignissen den Schleier vom 23. Oktober ablösen, sehen wir nichts anderes als die nackte Wirklichkeit des politischen Kampfes, den Krieg um die Seelen.“

Während Viktor Orbán seine Rhetorik verschärft, indem er behauptet, „die Regierung habe einen Krieg gegen das eigene Volk begonnen“, befürwortet die Mehrheit der Bevölkerung die Polizeimaßnahmen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Szonda Ipsos finden mehr als 60 Prozent das Vorgehen der Sicherheitskräfte richtig. Und auch die westeuropäische Presse, linker wie rechter Couleur, verurteilt die gewaltsamen Proteste und interpretiert die Ereignisse in Ungarn ganz anders als Viktor Orbán, der die Regierung als illegitim betrachtet und daher Verständnis für einen gewaltsamen Sturz der Machthaber erkennen lässt. Ausländische Medien sehen im Gegensatz zu Orbán („das ganze Volk wehrt sich gegen eine Diktatur“) ein zutiefst gespaltenes Land. Auf der einen, der rechten Seite des politischen Spektrums eine kompromissunwillige Opposition, die zum Zwecke der Machtergreifung rechtsradikale Kriminelle instrumentalisiert und so mit dem Feuer spielt und auf der anderen, der linken Seite eine hilflose und überforderte Regierung, die aufgrund ihrer katastrophalen Wirtschaftspolitik kaum noch Handlungsspielraum besitzt. Der international renommierte ungarische Schriftsteller György Konrád sagt in einem Interview für die Deutsche Presseagentur (DPA): „Orbán will den sozialdemokratischen Regierungschef Gyurcsány zu Fall bringen. Nachdem ihm das auf demokratischem Weg nicht gelungen ist, hat er seine Anhänger zu Kundgebungen auf die Straße gerufen – und dabei billigend in Kauf genommen, dass sich auch gewaltbereite Rechte dazugesellen. Wenn man außerparlamentarisch die Straße mobilisiert, erinnert mich das an die Zeiten der Weimarer Republik!“ György Konrád wird von etlichen FIDESZ- und Jobbik-Sympathisanten bis heute als Vaterlandsverräter beschimpft.

Die renommierte britische Wochenzeitung „Economist“ schreibt zwar, für die Situation in Ungarn sei das „verschwenderische Regieren der vergangenen fünf Jahre“ verantwortlich, und sieht in der „geleakten“ Gyurcsány-Rede den Anlass für den „Ausbruch der Wut“, meint aber auch, „nicht viel besser ist die durch den launischen und opportunistischen Viktor Orbán geführte Opposition“. Es würde, so der „Economist“, den Anschein erwecken, dass Orbán und seine Kollegen „den Rassisten und Ultranationalisten gegenüber auf beängstigende Weise nachsichtig sind“. Ungarn, wegen seiner Rolle bei der Überwindung des Eisernen Vorhangs und des Kommunismus in Osteuropa sowie als Starreformer nach der Wende Darling der westlichen Medien, ist in die Rolle des Buhmanns geraten. Doch das sollte erst der Anfang sein.

Auch auf europäischer Ebene findet Viktor Orbán keinen Verbündeten in seinem verbissenen Kampf gegen die rechtmäßig gewählte Gyurcsány-Regierung.

Bei einer Fraktionssitzung der Europäischen Volkspartei in Straßburg am 24. Oktober 2006 fordert Orbán vergeblich, dass die EU klar zum Ausdruck bringen müsse, dass sie unter keinen Umständen Regierungen Hilfe leiste, die lügen, betrügen und das moralische Erbe des Kommunismus nicht aufgegeben hätten. Unter Politologen und Kommentatoren entbrennt daraufhin eine heftige Diskussion, was Orbán konkret meint, wenn er sagt, „die EU dürfe unter keinen Umständen Hilfe leisten, wenn eine Regierung lügt …“ Viele meinen, Orbán habe die EU damit indirekt aufgefordert, für Ungarn gewidmete Fördergelder einzufrieren oder, wie in Artikel 7 des EU-Vertrags vorgesehen ist, das Stimmrecht des Landes vorübergehend zu suspendieren.

Die Mehrheit der Bevölkerung betrachtet die Rede Orbáns in Straßburg als eine Art „Landesverrat“, wie das Meinungsforschungsinstitut Political Capital erhoben hat. Orbán und seine Partei FIDESZ beginnen in der Gunst der Wähler plötzlich wieder zu sinken.

Orbáns neue Strategie gegen die Regierung: Volksabstimmungen

Ende 2006 beschließt Viktor Orbán, den „gewaltsamen“ Sturz der Gyurcsány-Regierung vorerst einmal zu vertagen. In einem Radio-Interview gesteht er ein, dass er keine Mittel hat, um die Regierung zu stürzen. „Nur die Menschen können eine Regierung verjagen“, sinniert der Oppositionsführer live auf Sendung. Viktor Orbán wechselt damit seine Strategie, er entdeckt das Plebiszit als Waffe im Kampf gegen die linksliberale Regierungskoalition unter Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány.

Schon die Kommunalwahlen vom 1. Oktober 2006 wollte Orbán in eine Volksabstimmung über den Verbleib der Regierung uminterpretieren. Danach forderte er vergeblich ein eigenes Referendum über die Gyurcsány-Regierung, das er aber nicht initiierte, weil er wusste, dass so ein Plebiszit vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig abgeschmettert worden wäre. Jetzt versucht Orbán mit Hilfe einer Volksabstimmung große Teile des Sparpakets zu verhindern. Er plant ein Referendum über all jene Sparmaßnahmen zu erzwingen, die die Gyurcsány-Regierung zur Sanierung des Staatshaushaltes eingeführt hat. Viktor Orbán bezeichnet die Gebühren- und Steuererhöhungen der Regierung als „Geldeintreiberei“ und sein geplantes Referendum als „Selbstreinigung der ungarischen Demokratie“.

Für die Abhaltung einer Volksabstimmung in Ungarn sind 200.000 Unterschriften notwendig, die nach Aussage Orbáns in 48 Stunden gesammelt sind. Sechs Fragen will der Oppositionsführer der ungarischen Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen:

Sollen die Regierungsmitglieder persönlich für das Defizit im Staatshaushalt haften?

Sollen Medikamente außerhalb von Apotheken verkauft werden dürfen?

Sollen Spitäler in staatlicher Hand verbleiben?

Sollen landwirtschaftlich tätige Familien und der Staat ein Vorkaufsrecht beim Erwerb von Agrarland bekommen? (de facto ein Kaufverbot für Ausländer)

Sollen Studiengebühren wieder abgeschafft werden?

Sollen die Spitals- und Praxisgebühr in der Höhe von 300 Forint (knapp 2 Euro) pro Tag bzw. pro Besuch wieder abgeschafft werden?

Die Frage eins lehnt das Verfassungsgericht ab, weil persönliche Haftungen kein Gegenstand eines Referendums sein können, wie die Höchstrichter urteilen. Alle anderen Fragen werden zugelassen. In der Hoffnung, die Volksabstimmung zumindest zu verzögern, kontert die Regierung mit 130 Einwänden, die das Verfassungsgericht behandeln muss. Und die Regierung entdeckt ebenfalls das Instrument der Volksabstimmung. So will beispielsweise der ungarische Umweltminister Gábor Fódor ein Referendum über den Bau eines weiteren Atomkraftwerks in Ungarn vorschlagen und Ministerpräsident Gyurcsány plant eine Volksabstimmung über ein Programm zur „Sauberkeit im politischen Leben“. Auch der Weltverband der Ungarn will neuerlich ein Referendum über die Vergabe der Doppelstaatsbürgerschaft initiieren. Drei Jahre zuvor ist eine Volksabstimmung mangels Wählerbeteiligung gescheitert.

Am 9. März 2008 wird über drei Fragen abgestimmt: Soll die Praxisgebühr von 300 Forint pro Arztbesuch wieder abgeschafft werden, soll die Spitalsgebühr von 300 Forint pro Tag wieder abgeschafft werden und sollen die Studiengebühren wieder abgeschafft werden? FIDESZ hat letztlich nur diese drei Fragen eingereicht, weil es die aussichtsreichsten Fragen für ein „Ja“ und somit für einen Wahlsieg sind. Unklar ist bis heute, warum der Verfassungsgerichtshof diese drei Fragen überhaupt zugelassen hat, denn nach der damaligen Verfassung Ungarns wäre eine Volksabstimmung nicht zulässig gewesen, wenn sie das Staatsbudget oder das Regierungsprogramm berührte.

Wahlberechtigt sind mehr als acht Millionen Ungarinnen und Ungarn. Das Referendum ist gültig und für die Regierung bindend, wenn mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen und entweder mit „Ja“ oder „Nein“ antworten.

Erwartungsgemäß endet die Volksabstimmung mit einem großen Sieg für den Initiator des Referendums, für Viktor Orbán und seine Partei FIDESZ. Mehr als 80 Prozent stimmen für die Abschaffung aller drei Gebühren. Das sind in Summe mehr als drei Millionen Wahlberechtigte. Besonders erstaunlich ist das nicht, denn wer stimmt schon für zusätzliche Abgaben. Die Wahlbeteiligung beträgt mehr als 50 Prozent, das Referendum ist somit gültig und beschert der Gyurcsány-Regierung nach den Kommunalwahlen die nächste schwere Niederlage bei einem Urnengang, den Viktor Orbán schon Wochen zuvor als „vorgezogene Neuwahl“ bezeichnet hat. „Ungarn hat gesiegt“, lautet Viktor Orbáns erste Reaktion auf das Ergebnis des Referendums. Für ihn steht einmal mehr fest, dass die Regierung endgültig ihr Recht verloren hat zu regieren, weil sie von der „gesamten Bevölkerung Ungarns“ (drei Millionen von mehr als acht Millionen Wahlberechtigten) abgewählt worden ist. Während Orbán und seine Parteifreunde über den „Wahlsieg“ jubeln, stellen Politologen im Land die Frage, wie die Gyurcsány-Regierung jetzt weiterzuregieren gedenke. Sie muss nämlich zur Kenntnis nehmen, dass jede unpopuläre Maßnahme zur Sanierung des Staatshaushaltes mit Hilfe einer von der Opposition initiierten Volksabstimmung zu Fall gebracht werden kann. Das heißt, dass die Regierung künftig in permanenter Unsicherheit leben muss, ob die von ihr eingeführten Maßnahmen durch ein Plebiszit nicht sofort wieder rückgängig gemacht werden. Orbán weiß, dass er mit Hilfe des demokratischen Instruments Referendum die Regierung vor sich hertreiben kann – ihm als Ministerpräsident wird das sicher nicht passieren.

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