Seemann, deine Heimat ist das Meer – Teil 2

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Seemann, deine Heimat ist das Meer – Teil 2
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ernst Steininger

Seemann, deine Heimat ist das Meer – Teil 2

Band 70 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Widmung

MS RAVENSTEIN

Weiter mit RAVENSTEIN durch den Indischen Ozean

Weiter mit RAVENSTEIN nach Hongkong

Weiter auf RAVENSTEIN nach Japan

Weiter mit RAVENSTEIN nach Pusan

Weitere Heimreise auf RAVENSTEIN über Manila, Colombo…

Weitere Reisen auf RAVENSTEIN

Motorschiff INNSTEIN

Weiter auf INNSTEIN über den St.-Lorenz-Große-Seen-Wasserweg nach Chicago

Die maritime gelbe Buchreihe

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers


Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig bis zu 140 Betten.


In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.

Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage nach dem Buch ermutigten mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Inzwischen erhielt ich unzählige positive Kommentare und Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!

In den Bänden 69, 70 und 71 können Sie wieder den Bericht eines ehemaligen Seemanns lesen. Da das Gesamtvolumen der Texte für ein Buch mit Leimbindung zu umfangreich war, wurde es zu einer Trilogie aufgeteilt. Ernst Steininger, gebürtiger Österreicher, hatte von frühester Jugend an Fernweh zum Wasser und den Wunsch, zur See zu fahren. 1957 begann er in Bremen mit einem Lehrgang auf dem „SCHULSCHIFF DEUTSCHLAND“ seine Seemannslaufbahn und fuhr danach auf verschiedenen Schiffen und Fahrtgebieten an Deck. Auf einem seiner Schiffe, dem MS „VEGESACK“, begegnete er auch dem durch die Veröffentlichung mehrerer Bücher vielen Seeleuten bekannten Maschinisten Hein Bruns, der ihn für seine weiteren Fahrzeiten wesentlich prägte. Ernst Steininger reflektiert in diesen drei Bänden über das erste Jahrzehnt seiner Seefahrtzeit. Diese Berichte erlauben nicht nur einen guten Einblick in das Leben auf See und in fremden Häfen, wie der Autor es erlebte. Ernst Steininger gibt auch sehr interessante Einblicke in die Geschichte der Seefahrt und die Entdeckungsreisen früherer Seefahrergenerationen.

Ohne bürgerlich-moralische Verklemmungen oder Tabus schildert Ernst Steininger sehr offen auch die Bewältigung der jugendlichen Libido der Seeleute.

In diesem Zusammenhang wurde ich bei der Lektüre des Manuskripts wieder einmal an den bekannten Theologieprofessor und langjährigen Prediger auf der Kanzel des Hamburger Michels, Helmut Thielicke, erinnert, der 1958 eine Seereise nach Japan auf einem Frachtschiff der Hapag unternahm und seine Erlebnisse an Bord in dem Buch „Vom Schiff aus gesehen“ zusammenfasste. Seine hautnahen Begegnungen auf dieser wochenlangen Reise mit Seeleuten brachten ihn zu dem Bekenntnis, dass ihm eine ganz neue, bisher unbekannte Welt erschlossen worden sei und er nun eigentlich sein kurz zuvor veröffentlichtes Ethikwerk umschreiben müsse: „Ich bemühte mich nach Kräften, offen zum Hören zu bleiben und – so schwer es mir fällt – selbst meine stabilsten Meinungen in diesem thematischen Umkreis als mögliche Vorurteile zu unterstellen, die vielleicht einer Korrektur bedürfen. Ich frage mich ernstlich, was an diesen meinen stabilen Meinungen christlich und was bürgerlich ist… Ich merke, wie schwer es ist, sich im Hinblick auf alles Doktrinäre zu entschlacken und einfach hinzuhören – immer nur hören zu können und alles zu einer Anfrage werden zu lassen... Bei meiner Bibellektüre achte ich darauf, wie nachsichtig Jesus Christus mit den Sünden der Sinne ist und wie hart und unerbittlich er den Geiz, den Hochmut und die Lieblosigkeit richtet. Bei seinen Christen ist das meist umgekehrt.“

Hamburg, 2014 / 2015 Jürgen Ruszkowski


Widmung

Dieses Buch ist dem Andenken meiner Mutter gewidmet


Da das Gesamtvolumen der Texte des Ernst Steininger für ein Buch mit Leimbindung zu umfangreich war, wurde es zu einer Trilogie aufgeteilt.

Der Band 69 beinhaltet den Bericht über die Kindheit und den Beginn der Seefahrtszeit des Autors auf SCHULSCHIFF DEUTSCHLAND in Bremen, Küstenmotorschiff STADERSAND, Motorschiff LINZERTOR, Motorschiff VEGESACK, Turbinenschiff HUGO STINNES, Motorschiff HORNBALTIC, Motorschiff BREMER BOERSE, Turbinenschiff WERRASTEIN, Turbinenschiff MOSELSTEIN.


Hier nun die Fortsetzung.


MS RAVENSTEIN


Motorschiff RAVENSTEIN

11. Kapitel


Motorschiff RAVENSTEIN


Auszug aus dem Seefahrtbuch Nr. 0266, Seite 32/33

Inhaber ist angemustert als Matrose auf MS „Ravenstein“

Reeder: Norddeutscher Lloyd

Unterscheid.-Signal: DLAA

Br.- Raumgehalt: cbm

Heimathafen: Bremen

Geführt von Kapt.

Reise: Große Fahrt

Zeit: unbestimmt

Der Dienstantritt erfolgte 15.10.1963

Das Seemannsamt Bremen, den 25.10.1963

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Der Inhaber hat in der Zeit vom 15.10.1963 bis zum 20.09.1964

11 Monate und 5 Tage als Matrose gedient

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Bremerhaven, den 20. Sept. 1964

Seemannsamt Bremen, den 4. März 1965

Zusätzliche Daten

Entnommen: Seefahrt – Norddeutscher Lloyd – Naxos

MS Ravenstein, Baujahr 1946, BRT: 7822, Ankauf,

Während des Krieges für den NDL in Belgien im Bau.

Nach dem Krieg fertig als „BASTOGNE“ für Belgien.

1955 Ankauf NDL, ab 09.1970 Hapag-Lloyd.

August 1971 verkauft nach Zypern. Neuer Name „RAVENS“.

Juni 1978 Ankunft zum Abwracken in der Bucht von Gadani, Pakistan.

 

MS RAVENSTEIN – aus www.photoship.co.uk

Die RAVENSTEIN, ein so genannter „Viermaster“, war das älteste unter all „meinen“ Schiffen. Alles, was ich von ihr weiß, ist, dass sie nach Kriegsende als abgesoffenes Schiff aus dem Antwerpener Hafen geborgen und wieder instand gesetzt wurde. Da sich in meinem Seefahrtbuch keine Angaben über den Bruttorauminhalt des Schiffes befinden, kann ich ihre Größe nur relativ beschreiben. Sie war sicher noch etwas größer als die MOSELSTEIN, hatte über 10.000 Ladetonnen und sechs, vielleicht sogar sieben Luken. Jedenfalls waren diese Schiffe – es gab deren drei: RAVENSTEIN, REIFENSTEIN und ROTENSTEIN – für uns Decksleute die arbeitsintensivsten unter allen Lloydschiffen. Trotz dieser Tatsache brauchte sich Herr Pauli, Chef der lloydeigenen Heuerstelle, deswegen keine Sorgen zu machen. Diese alten Stückgutfrachter waren vorwiegend in der Ostasien-Fahrt eingesetzt. Und wer von uns jungen Seelords wollte nicht auch einmal in Singapur, Hongkong und Yokohama gewesen sein? Zwei weitere, weitaus jüngere Lloydschiffe, die „BAYERNSTEIN“ (Band 42 in der maritimen gelb en Buchreihe) – verewigt auf einer Briefmarke, (Michel-Katalog NR. 257) – und die „SCHWABENSTEIN“, die ebenfalls die Ostasienroute fuhren, kamen für mich nicht in Betracht, denn diese waren noble Fahrgastschiffe.

Die RAVENSTEIN war nicht nur das älteste, es war auch das unfallträchtigste Schiff, auf das ich je meinen Fuß gesetzt habe. Dass mir auf ihr während meines dreizehnmonatigen Bordaufenthaltes nichts Schlimmeres passierte, als dass ich mir einen langen Nagel durch die obligate Plastiksandale in den Fuß trat; dass mir auf diesem „vorsintflutlichem“ Schiff körperlich nichts Gröberes passierte, war reine Glückssache. Dabei waren mir aber die Erfahrungen, die ich auf meinem vorhergehenden Einsatz machte, sicherlich von Nutzen. Nicht nur von Nutzen – ich begann zu begreifen, dass man nicht zu allem „Ja und Amen“ sagen könne – und dass man sich wehren müsse! Denn gerade diese Unfallträchtigkeit schärfte so nach und nach meinen Blick für die uns zugemuteten Arbeitsbedingungen, die oft jedem Sicherheitsgedanken blanken Hohn sprachen.

Das äußere Kennzeichen der RAVENSTEIN waren die vier Großmasten, je zwei vor und zwei hinter den Mittschiffsaufbauten. Wenn ich nicht irre, bestand das Umschlagsgeschirr aus mindestens 22 Ladebäumen und ein oder zwei Schwergutbäumen. Das Schiff hatte keines der sonst üblichen zwischen den Ladeluken stehenden Deckshäuser, auf denen normalerweise die Ladewinden montiert waren. Die Winden standen stattdessen lediglich auf einem etwas erhöhten Podest. Das dazu gehörende „laufende Gut“, die ölig verschmierten und oft genug auch noch verkinkten und mit Fleischhaken gespickten „Renner“ und „Faulenzer“ – das sind ganz ordinäre Drahtseile – lag dann während des Hafenbetriebs einfach dazwischen herum. Die Lukenabdeckungen der Laderäume bestanden aus schweren Eisenpontons, die nur mit dem bordeigenen Umschlagsgeschirr oder mit Landkränen anzuheben waren. Bei Bedarf wurden diese einfach in Reichweite zur Luke an Deck abgesetzt. Zur seefesten Lukenabdichtung gehörten dann auch noch ein paar schwere, übereinander aufgezogene Persenninge, die an den Lukensüllen verschalkt, d. h. an den Rändern eingeschlagen und verkeilt werden mussten. Zum Verschalken bedurfte es der Schalkleisten, stabiler Flacheisen in passenden Längen, und natürlich einer Unmenge von Holzkeilen. Dazu kam dann noch pro Luke ein grobschlächtiges, unhandliches Regensegel, das dann auch ständig nur im Wege lag, wenn man es nicht gerade brauchte. Das lose Taugut der Geien, mit denen die Bäume per Hand seitlich bewegt wurden, war auch nicht immer da, wo es sein sollte, nämlich in Buchten aufgeschossen an der Verschanzung hängend. Und selbstverständlich lagen da auch noch längst ausgemusterte Drahtseile an Deck herum, die immer noch als Preventer Verwendung fanden.

Jede Menge Müll, den man im Hafen nicht sogleich los wurde, besonders das in Massen anfallende Stauholz, machten das Hauptdeck während des Umschlagbetriebes zu einer einzigen großen Falle. Alles in allem ein Szenario, das jedem Seeberufsgenossenschaftler Albträume verursacht hätte. Aber von diesen Herren ließ sich damals sowieso keiner blicken, nicht einmal in Bremen. Und die UVV (Unfallverhütungsvorschriften), zusammengefasst als Loseblattsammlung in einem blauen Ringband, verstaubten auf einem Bücherbord im Kartenhaus. Wir Janmaaten dachten wohl, das müsse so sein und machten uns weiter keinen Kopf darüber, jedenfalls so lange nicht, so lange es einen nicht selbst erwischte. Der pummelige, schon etwas ältere griechische Kollege, der von einem Lukenponton beinahe zu Tode gequetscht wurde, war eben schlicht selbst daran schuld, dass er nicht schnell genug aus dem Gefahrenbereich kam. In unseren Augen war er einfach ein Tollpatsch. Quintus Wunderlich, der Junge hieß wirklich so, bekam während der Reinigungsarbeiten im Unterraum einer Luke aus nicht geringer Höhe eine Holzpalette auf seinen ungeschützten Kopf. Quintus war das fünfte Kind eines honorigen Professors und wohl auch das schwarze Schaf in seiner Familie, hatte wohl den Schädel eines Steinbocks. Außer, dass ihm bei dem plötzlichen wuchtigen Schlag aufs Haupt sein funkelnagelneuer Stiftzahn stiften ging, war an und in seinem Kopf nichts Ernsthaftes kaputt gegangen. Das Horn, das für eine Weile seine Stirn zierte, trug er mit Gelassenheit. Die Tatsache aber, dass sein teurer Stiftzahn trotz intensiver Suche nicht mehr auffindbar war, ergrimmte ihn sehr. Derlei Unfälle waren sozusagen während der Aufräumarbeiten an Deck und in den Luken und auch während der Umschlagsarbeiten im Hafen vorprogrammiert. Aber ganz offensichtlich hat das in jenen Tagen keinen Verantwortlichen groß gestört. Und wir, wir jungen Doofis, fielen immer wieder auf die markigen Sprüche der alten Haudegen rein: „Das, was dich nicht umbringt, macht dich nur noch härter“…

Nach dem Mittschiffsaufbau zu urteilen, musste das Schiff schon einmal bessere Zeiten gesehen haben. Die einzelnen Decks waren alle von ganz oben bis ganz unten mit Holz ausgelegt. Ja, sogar auf dem Hauptdeck, auf dem sich die Kabinen der niederen Dienstgrade befanden, war das Eisendeck der äußeren Betriebsgänge mit Holzplanken bedeckt. Auf dem Palaverdeck führte ein ebenfalls mit Dielen ausgelegter Gang rund um das ganze „Haus“. Da hatten vermutlich in Vorkriegszeiten die Passagiere gewohnt. Na, und erst das Boots- und Kapitänsdeck! Alles aus blitzblank geschruppten Holzdielen. Dazu noch die vielen mit Bootslack sorgfältig imprägnierten Türen, die ebenso behandelten Handläufe der Treppen und Relings: alles aus feinstem Mahagoniholz. Na, vielleicht war es auch nur Teakholz, aber immerhin, um das alles in Schuss zu halten, bedurfte es schon einiger Anstrengung. Zuständig dafür waren der Zimmermann und sein Juzi (Jungzimmermann). Hin und wieder wurde auch unsereins mit solch feiner Holzarbeit betraut. Allerdings beschränkte sich das meist nur auf das Abbeizen alter Lackschichten. Das allmorgendliche Schruppen der Holzdecks auf See blieb natürlich uns „Decksbauern“ überlassen.

Trotz der unwahrscheinlich hohen Besatzungsstärke – die Deckscrew allein bestand aus etwa 16 Mann – war da auch immer noch Platz für einige Passagiere, mit denen wir aber so gut wie gar nicht in Berührung kamen. Eine weitere Besonderheit der RAVENSTEIN war, dass sie, sage und schreibe, drei Schrauben hatte. Logischerweise hatte sie demnach auch drei Hauptmaschinen. Aus diesem Grund gab es zum Chief und seinen drei Ingenieuren auch noch gleich drei Ingenieursassistenten. Einer davon war Erwin R., ein Linzer. Erwin, ein quirliger Typ, war ganz begeistert von „seiner“ Maschine. Hin und wieder entführte er mich in seine phantastische „Unterwelt“ und erläuterte mir mit dem Stolz des angehenden Ingenieurs die Funktionen der verschiedensten Aggregate. Vermutlich nahm ich seine Ausführungen gehörig staunend zur Kenntnis. Sobald ich dem Mief des „Kellers“ entronnen war, war ich dann aber immer heilfroh, wieder frische Seeluft um die Nase zu haben. Nein, in der Maschine wollte ich um keinen Preis der Welt Karriere machen. Mein Wunsch war es vielmehr, von ganz oben, von der Schiffsbrücke aus, ein Schiff zu dirigieren.

Wie so oft vor der Ausreise war Antwerpen der letzte Ladehafen. Während noch das Schiff an der Scheldekaje bis über die Halskrause voll gestopft wurde, verabschiedete sich der eine oder andere Janmaat von seiner ‚Braut’ in der Schipperstraat oder von Luzie, der seuten Deern aus der „Röden Latern“. Luzie, sie mag so oder so ähnlich geheißen haben, war in Lloyd-Kreisen so bekannt wie anderswo ein bunter Hund. Sie, eine mittelgroße, mittelhübsche Barfrau mittleren Alters, war die ungekrönte Fellatio-Königin von der ganzen, langen Scheldekaje. Natürlich musste auch ich wenigstens einmal in ihrem Etablissement gewesen sein und – wurde auch prompt Zeuge einer Demonstration ihrer oralen Kunstfertigkeit. Leider erfolgte diese Demonstration nicht an mir, nein, überhaupt an keinem lebendigen Objekt, sondern nur an einer geöffneten, profanen Bierflasche. Beim Beobachten ihres perfekten Zungenschlages fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Aber, es war noch helllichter Tag, und ich war nur so auf die Schnelle, so zwischendurch, in Arbeitsklamotten – na, aus welchen Gründen auch immer – ich wurde, den Göttern sei’s geklagt, nicht zum Objekt ihrer Begierde…

Ab geht die Post. Die Schelde hinunter, an Dover / Calais vorbei, hinein in den Ärmelkanal. Mit WSW-lichem Kurs, vorbei an Cape de la Hague und den britischen Kanalinseln, halten wir vorerst auf den „Preußischen Grenadier“ zu. Gemeint ist der markante, schwarzweiß geringelte Leuchtturm „Phare du Creac’h“. Das ist der größte und lichtstärkste von den fünf Leuchttürmen auf der Ile d’ Quessant. Allein die Anzahl der Leuchttürme auf dieser gerade einmal 7 x 4 km großen Insel zeigt an, dass man ihr als „Dickschiff“ nicht zu nahe kommen soll. Riffe, Klippen, Untiefen; schweres Wetter, schnell wechselnde Strömungen: Alles, was ein Seemannsherz nicht unbedingt begehrt, macht ihm dieses felsige Eiland deshalb auch nicht unbedingt liebenswert. Trotzdem nehmen manche Kapitäne, um „Meilen“ einzusparen, auf dem Wege zum Kap Finisterre die Kurve etwas zu eng. Dann passiert nicht selten das, was schon 1896 der „DRUMMOND CASTLE“ widerfuhr: Sie krachte auf einen Felsen, und von den vierhundert Schiffbrüchigen konnten nur drei von den Insulanerinnen gerettet werden. Ja doch, stimmt schon: Insulanerinnen! Waren doch deren Männer, Seemänner eben, natürlich nie zu Hause, wenn man sie schon einmal brauchte. Die einzigen Männer, die damals sowohl anwesend als auch zugleich abwesend waren, waren die Leuchtturmwärter. Und die immerhin sorgten nicht nur für das Feuer der Leuchttürme, sondern auch für das Fegefeuer der Leidenschaften in den Herzen der Inselbewohnerinnen.

So jedenfalls stellt sich der französische Regisseur Philippe Lioret in dem Film: „Die Frau des Leuchtturmwärters“ extreme Liebe an einem extremen Ort vor. Nun, die Zeit der Leuchtturmwärter ist passé. Viele, viele Türme, sofern sie nicht elektronisch ausgerüstet wurden, sind zu bloßen touristischen Objekten degradiert worden. Die Türme von und vor Quessant, „Ar-Men“ und „Kereon“, die weit draußen im Meer den Stürmen trotzen, werden aber trotz GPS und dem Radar noch eine Weile ihre Lichtbündel über die dunklen Wasser in die finstere Nacht schicken. Ach ja, richtig: Was wohl bewog vordem die kaisertreuen deutschen Seefahrer, aus dem Phare du Creac’h, mal abgesehen von der schwarzweißen „Kriegsbemalung“, einen preußischen Grenadier zu machen? Na, vermutlich war es die außergewöhnliche Höhe dieses Leuchtturmes, der sie an die „langen Kerls“ des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. von Preußen, gemahnte…

Will man in das Mittelmeer gelangen, steht auf der Höhe von Quessant die nächste Kursänderung an. Mit SSW-lichem Kurs queren wir den Golf von Biskaya, um unserem nächsten „Waypoint“, dem Kap Finisterre; zuzustreben. Wer nun der Meinung ist, dass „die Biskaya“ aus seemännischer Sicht eine sehr unfreundliche, ungehobelte Frauensperson ist, sozusagen geradezu eine ausgesprochene „Bissgurn“, dem gebe ich ohne Einschränkung Recht. Nicht wenige dürften es sein, die sich beim unfreiwilligen Tanz mit dieser unberechenbaren Furie die Seele aus dem Leib gekotzt haben. Seeleute sind oft schizophren: Sind sie zu Haus, wollen sie hinaus; sind sie auf See, plagt sie das Heimweh. So haben sie in ihrer Hassliebe dieser Windsbraut auch noch ein Lied gewidmet. Und was für ein Lied! Es trieft vor lauter Schmalz. Es war neben „Wir lagen vor Madagaskar“ und „Ick hew mol en Hamburger Veermaster sehn“ und – last not least – „La Paloma“ eines unserer beliebtesten Sauflieder. Deshalb will ich dem geneigten Leser den zu Tränen rührenden Text auch nicht vorenthalten:

 

1. Am Golf von Biskaya / Ein Mägdelein stand / Ein junger Matrose / hielt sie bei der Hand. / Sie klagt ihm ihr Schicksal, / Ihr Herz war so schwer. / Sie hat keine Heimat, / Kein Mütterlein mehr.

Refrain: Fahr mich in die Ferne, / Mein blonder Matrose, / Bei dir möchte ich sein / Auch im Wellengetose. / Wir gehören zusammen / Wie der Wind und das Meer. / Von dir mich zu trennen, / Ach, das fällt mir so schwer. / Wir gehören zusammen, / Wie der Wind und das Meer. / Von dir mich zu trennen, / Ach, das fällt mir so schwer.

2. Der Vater, die Brüder / Auf kämpfendem Schiff / Zerschellte im Sturme / Am felsigen Riff. / Vor Gram starb darüber / Mein lieb’ Mütterlein, / Nun steh auf der Welt / Ich verlassen, allein. Refrain:…

3. Es rauschen die Wellen / Ihr uraltes Lied, / Zwei Herzen sind selig / In Liebe erglüht. / Die Stunden vergehen,/ ihr war’s wie ein Traum, / Da flüstert er leise, / Man hörte es kaum. Refrain:…

4. Hörst du die Sirene, / Die Pflicht ruft mich fort, / Komm mit, teures Mädchen, / Wir müssen an Bord. Es blühen die Reben / Am herrlichen Rhein, / Dort wird für uns beide / Die Heimat auch sein. Refrain….

Jo mei, man soll’s nicht glauben, so tiefschürfend und traurig können Seemannslieder sein. Der Refrain allerdings, der ist mir doch teilweise etwas verändert in Erinnerung. Und zwar so: „Fahr mir, fahr mir mein blonder Matrose, / Fahr mir mit der Hand über’n Bauch in die Hose / Wir gehören zusammen“…

Banausen! Banausen, kann man da nur sagen…

Die Strecke von Quessant bis zur nächsten Kursänderung vor dem „Ende der Welt“, dem Kap Finisterre (y = 42° 55’ Nord, l = 9° 18’ West), beträgt für ein Schiff mit 15 bis 17 Knoten Marschfahrt ungefähr ein Tagesetmal. Das auf einer Hunderte Meter hohen Felsenküste thronende Leuchthaus schickt sein Licht weit in den Atlantik hinaus. Und, so sehnlichst auch von so manchem navigatorisch verunsicherten Steuermann das Leuchtfeuer herbeigewünscht wurde, so sehr sollte man sich auch hüten, dem Kap zu nahe zu kommen. Die ungebändigt anstürmenden Wogen, die unermüdlich anrennende Dünung des nördlichen Atlantik setzen jedes manövrierunfähig gewordene Schiff mitleidslos auf die tückisch lauernden Steine. Die alte RAVENSTEIN mit ihren drei starken Hauptmaschinen war da aber viel weniger gefährdet als zum Beispiel heutzutage die modernen Supertanker. Diese riesigen Blechbüchsen sind vergleichsweise maschinell so ausgerüstet wie ein schwerer Fernlaster mit einem Mopedmotor. Sie haben da der Urgewalt des Meeres wenig entgegenzusetzen. Die Bewohner der von der Ölpest verseuchten bretonischen und galizischen Küste können ja inzwischen ein jammervolles Lied davon singen. Aber, vornehm gesagt, gegen ökonomische Zwänge und ökologische Unvernunft kann auch das stärkste Leuchtfeuer nichts ausrichten.

Wenngleich das lateinische „finis terrae“ auf gut deutsch „Ende der Welt“ heißt, so heißt das aber noch lange nicht, dass das auch so stimmt. Allenfalls stimmt es für die hartnäckigsten unter den „Jakobspilgern“, die das Kap für das eigentliche Ende ihrer Pilgerfahrt halten. Der westlichste Punkt des europäischen Festlandes liegt aber auf portugiesischem Boden und heißt Cabo da Roca. Dieses Kap, auf das wir nun mit annähernd 180° zusteuern, liegt 30 Kilometer westlich von Lissabon und hat die Koordinaten Y = 38° 47’ Nord, l = 9° 30’ West. Es liegt somit 16, 5 km weiter westlich als das spanische Cabo de Finisterre. Jedenfalls behauptet das und anderes die freie Enzyklopädie Wikipedia:

Es gibt dort ein Fremdenverkehrsbüro, in dem man sich gegen eine Gebühr den Besuch auf einer kunstvoll gestalteten Urkunde bestätigen lassen kann. Ansonsten gibt es noch einen Leuchtturm und einen Seefunksender.

„Donnerwetter, einen Leuchtturm gibt es also auch!“ Er steht sogar 140 Meter über dem Meeresspiegel und ist somit kaum zu übersehen. Für die Seefahrt ist er neben dem Cabo Raso allerdings nur als Ansteuerungspunkt für die großen Häfen an der Tejo-Mündung – Barreiro, Belem und Lissabon – von Interesse. Und das, was der portugiesische Nationaldichter Luis de Camoa über diesen Ort aussagt, nämlich dass da die Erde endet und das Meer beginnt, das ist doch, bei allem Respekt vor der Poesie – Onde a terra acaba e o mar comeca – so umwerfend auch wieder nicht…

Mit annähernd SzE, (Süden zum Osten = 168° 30’), das deutsche Wort Ost musste mittlerweile dem englischen East weichen, visieren wir die nächste Kursänderung, pardon, den nächstfolgenden Waypoint an, Cabo de Sao Vicente: y = 37° 1’ 30’’ Nord, l = 8° 59’ 40’’ West. Die Leuchtfeueranlage mit dem 22 m hohen, rotweißen Turm sitzt auf der Kante einer 70 m hohen Steilküste. Mit 32 Seemeilen (knapp 60 km) Tragweite ist es das lichtstärkste Leuchtfeuer Europas. Vielleicht sollte ich hier einige technische Begriffe, entnommen dem „Handbuch für Brücke und Kartenhaus, ergänzend mit einfügen.

Da steht unter:

Leuchtfeuer und Nebelschallsender

Leuchtfeuer gehören zu den wichtigsten und besten Navigationshilfen für die nächtliche Fahrt an den Küsten und auf den Revieren. Sie dienen nicht nur als Warnung vor Untiefen und Gefahren, sondern ermöglichen zuverlässige Ortsbestimmungen und werden in besonderen Anordnungen zur Bezeichnung der Fahrwasser verwendet. Die Reichweite der einzelnen Leuchtfeuer hängt von der Höhe und Stärke ihrer Lichtquelle ab und wird außerdem durch den Sichtigkeitsgrad der Luft bestimmt.

Unter dem Titel: „Benennung der Leuchtfeuer nach besonderen Zwecken“ sind die verschiedenartigen Feuer angegeben: das Leit-, das Tor-, das Richt-, das Unter-, das Quermarken-, das Gefahren-, das Luftfahrt- und das Warnfeuer. Diese Feuer, auf die ich hier nicht extra eingehe, erfüllen ihren Zweck entsprechend ihrer Benennung.

Kennzeichnung der Leuchtfeuer

Lichterscheinungen der Leuchtfeuer. Die vorübergehenden Lichterscheinungen, die durch Verdunkelungen oder Änderungen der Stärke des weißen oder farbigen Lichtes entstehen, heißen Scheine, Blinke, Blitze; und zwar heißt in der Regel

Schein: die Lichterscheinung zwischen zwei Verdunkelungen oder Abschwächungen oder zwischen zwei Lichterscheinungen anderer Farbe. Diese dürfen höchstens die Dauer der Lichterscheinungen haben.

Blink: das Aufleuchten von mindestens 2 s Dauer aus einer im Verhältnis zur Lichterscheinung langen Dunkelheit oder aus schwachem Licht heraus.

Blitz: das Aufleuchten von weniger als 2 s Dauer aus einer im Verhältnis zur Lichterscheinung langen Dunkelheit oder aus schwachem Licht heraus. (Bei deutschen Feuern beträgt die Zeitdauer für den Blitz im Allgemeinen höchstens 1 s).

Der Unterschied zwischen Blink und Blitz liegt nur im Zeitmaß.

Wiederkehr: die Zeit vom Eintritt einer bestimmten Taktkennung bis zum Wiedereintritt der nächsten gleichen Taktkennung.

Arten der Kennung der Leuchtfeuer: Der ein Leuchtfeuer kennzeichnende Verlauf seiner Lichterscheinungen wird Kennung genannt. Zu unterscheiden sind folgende Arten der Kennung:

Festfeuer (F.), weißes oder farbiges Licht von gleich bleibender Stärke und Farbe.

Unterbrochenes Feuer (Ubr.), weiße oder farbige Scheine zwischen Verdunkelungen (Unterbrechungen), und zwar: Unterbrochenes Feuer mit Einzelunterbrechungen und unterbrochenes Feuer mit Gruppen von 2, 3, 4 Unterbrechungen.

Und so weiter. Gibt es doch, wie oben bereits angeführt, der unterschiedlichen Feuer gar viele. Im nächsten Absatz des Handbuches wird in der gleichen umständlich trockenen Schreibweise das Ausmachen der Kennung erklärt. Aber das will ich Ihnen lieber ersparen und stattdessen meine persönliche Art der „Takterkennung“ vorstellen, ganz so, wie ich es als „Moses“ erlernte. Beim ersten Blink oder Blitz zählte ich die Dauer der Unterbrechung(en) an den Fingern meiner beiden Hände ab. Mit dem linken Daumen begann ich zu zählen: Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, wenn nötig, bis neunundzwanzig. Das funktionierte immer, auch wenn eine der Unterbrechungen mal über 10 Sekunden lang war, dann fing ich eben mit dem linken Daumen noch einmal von vorne an. Sobald sich die Anzahl der Blitze und der dazwischen liegenden Unterbrechungen wiederholte, stand für mich die Kennung fest. Die servierte ich dann, innerlich voller Stolz auf meine nautischen Kenntnisse, dem angenehm überraschten Wachoffizier.

In jenen grauen nautischen Vorzeiten, damals, als sich die Steuermänner noch mit optischen Mitteln an den Küsten entlang peilen mussten und ihre „Orte“ nicht per GPS prompt und frei Haus laufend geliefert bekamen, war auch das Wissen von der Tragweite des Lichts, der geographischen Sichtweite, von großer Wichtigkeit. Ich zitiere:

Tragweite und Geographische Sichtweite. Unter Tragweite versteht man denjenigen Abstand, in dem ein Feuer einen noch eben deutlichen Lichteindruck am Auge des Beobachters hervorruft; die Tragweite ist unter anderem abhängig von der Lichtstärke des Feuers und dem Sichtwert = Lichtdurchlässigkeit der Atmosphäre.

International ist festgelegt worden, die Tragweite der Feuer für einen Sichtwert 0,74, der einer meteorologischen Sichtweite am Tage von 10 sm entspricht, anzugeben und als Nenntragweite zu bezeichnen. Die Tragweite eines Feuers bei anderen meteorologischen Sichtweiten und seine Lichtstärke lässt sich aus der Tafel „Tragweite der Leuchtfeuer“ ablesen. …

Unter geographischer Sichtweite versteht man denjenigen Abstand, aus dem man ein in bestimmter Höhe über dem Meeresspiegel befindliches Ziel eben noch über die Kimm weg erblicken kann; die geographische Sichtweite eines Feuers ist also abhängig von der Feuerhöhe und der Augenhöhe des Beobachters. Aus der Tafel „Abstand eines Feuers in der Kimm“ kann bei bestimmter Feuerhöhe die Sichtweite in sm (1 sm = 1.852 m) für verschiedene Augenhöhen entnommen werden.

Anleitung für die Benutzung der Tafel „Tragweite der Leuchtfeuer“. Ist die Nenntragweite eines Feuers z. B. mit 20 sm angegeben, so wird man dieses Feuer bei einer meteorologischen Sichtweite von 5,4 sm in einem Abstand von 12,5 sm sehen. Die Lichtstärke dieses Feuers beträgt 110 00 cd.