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Im Hause des Kommerzienrates

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11

Endlich standen sie draußen auf dem weiten, sonnigen Felde. Käthe stützte sich für einen Augenblick auf einen hohen Grenzstein, den eine mächtige Eiche überwölbte, während Flora einige Schritte weiter hinaustrat, um den »entsetzlichen« Wald möglichst weit hinter sich zu haben. Die Gefahr war vorüber. Weit drüben auf dem Ackerlande arbeiteten Leute. Sie hätten nötigenfalls einen Hilferuf hören können; man sah die Türme der Stadt, und dort lief der Weg nach dem Parktore der Besitzung Baumgarten.

Aber Käthes Augen hingen an einem Punkte, den Flora nicht sah, an dem niedrigen Dache mit den hohen Schloten und den vergoldeten Windfahnen, das so friedlich aus dem Walde von Obstbäumen auftauchte. Sie konnte deutlich das Staket erkennen, das den Garten umschloss; es lag weit näher als das Parktor, und dahin lenkte sie nach kurzem Ausruhen schweigend ihre Schritte.

»Nun, wo hinaus?« rief Flora, die bereits auf dem Wege nach dem Parke schritt.

»Nach Doktor Brucks Haus«, versetzte das junge Mädchen, ruhig und unbeirrt weitergehend. »Es liegt am nächsten; dort finden wir vor allen Dingen ein Bett, auf das ich Henriette niederlegen kann, und möglicher Weise auch sofortige Hilfe. Vielleicht ist der Doktor gerade zu Hause.«

Flora runzelte die Brauen und zögerte, aber sei es, dass sie das rachedürstende Weib mit den gekrümmten Fingern immer noch nahe auf ihren Fersen wähnte, oder dass sie fürchtete, zwischen dem Parktore und dem Walde ohne Hut und in ihrer derangierten Toilette Spaziergängern zu begegnen – sie kam schweigend herüber.

So ging es über das offene Feld hin. Für Käthe war die Aufgabe eine namenlos anstrengende. Der selten betretene Weg durch den weichen Ackerboden war voller Löcher und sehr steinig; bei jedem Fehltritte, den sie machte, fühlte sie aus Furcht vor einer Wiederkehr des schrecklichen Anfalles ihr Blut fast erstarren. Dabei brannte die Sonne, sengend wie im August, auf ihrem unbedeckten Scheitel; von Zeit zu Zeit schwamm die Welt in einem unheimlich rotgelben Lichte vor ihren Augen, und dann glaubte sie, vor Erschöpfung zusammenbrechen zu müssen, aber in solchen Momenten heftete sich ihr Blick umso fester auf des Doktors Haus; es rückte ja immer näher, das liebliche Bild des ländlichen Friedens und der erquickenden Ruhe. Sie sah nun schon vollkommen klar und deutlich, wie hinter dem Staket emsig hantiert wurde, und bei aller Angst und Ermüdung kam ihr doch ein leises Gefühl der Freude. Der Mann in Hemdsärmeln nagelte dort aus Fichtenästen eine Laube zusammen, eine Laube für die Tante Diakonus. Die alte Frau konnte die weinbewachsene Hütte im kleinen Pfarrgarten nicht vergessen und hatte seitdem nie wieder so im Grünen sitzen dürfen – welche Freude nun für ihr genügsames Herz!

Und jetzt kam sie selbst die Türstufen herab, im weißen Häubchen, die blauleinene Küchenschürze vorgebunden, und brachte auf einem Teller dem Arbeiter sein Vesperbrot. Sie sprach eifrig mit dem Manne; beiden fiel es nicht ein, über das Staket ins Feld hinaus zu sehen. Käthe überlegte eben, ob sie nicht doch um helfende Hände hinüberrufen sollte – in demselben Augenblicke kam auch der Doktor vom Hause her.

»Bruck!« rief Flora mit dem ganzen frischen Silberklange ihrer Stimme über das Feld hin.

Er blieb stehen und starrte einen Augenblick nach der seltsamen Gruppe, die sich auf ihn zu bewegte; dann stieß er die Tür im Stakete auf und stürmte hinüber. »Mein Gott, was ist denn geschehen?« rief er schon von Weitem.

»Ich bin einem tollen Mänadenschwarme in die Hände gefallen«, antwortete Flora bitter lächelnd, aber auch ganz wieder mit jener Geringschätzung und stolzen Nachlässigkeit, die sich durch nichts in der Welt aus der Fassung bringen lassen. »Das Gesindel hat mit seinen Drohungen Ernst gemacht; ich war in Lebensgefahr, und das arme Ding da«, sie zeigte auf Henriette, »hat vor Aufregung darüber einen Blutsturz bekommen.«

Er sah nur von der Seite zu ihr hinüber – sie stand ja heil und unversehrt da – und griff mit beiden Armen zu, um Käthe die Kranke abzunehmen. »Sie haben sich übermenschlich angestrengt«, sagte er, und seine Augen streiften besorgt ihre ganze Erscheinung. Man sah, wie ein nervöses Schütteln durch ihren Körper ging; sie biss krampfhaft mit den Zähnen die Unterlippe, und ihre Wangen glühten, als wollte das erhitzte Blut die zarte Sammethaut zersprengen. … Und daneben stand Flora ruhig atmend, und auf ihrem schönen Gesicht lag nur die duftige, verklärende Röte der seelischen Erregung.

»Du hättest Deiner Schwester die Last nicht allein überlassen sollen«, wandte er sich an seine Braut, indem er die bewusstlose Henriette behutsam weitertrug.

»Bruck, wie kannst Du das von mir verlangen?« rief sie beleidigt. »Übrigens bedurfte es dieser Zurechtweisung Deinerseits durchaus nicht, mein Freund«, setzte sie sehr scharf hinzu; »ich kenne meine Pflicht und wäre sehr gern aus eigenem Antriebe bereit gewesen, Henriette zu tragen, hätte ich mir nicht selbst sagen müssen, dass das bei meinem schwachen Körperbau geradezu Wahnsinn sei, und wäre Käthe nicht eine solche urgesunde, robuste Walkürennatur, die eine derartige Anstrengung sicher nicht anficht.«

Er antwortete ihr mit keiner Silbe und rief der herbeieilenden Tante zu, rasch ein Bett herzurichten. Diese lief, so schnell sie konnte, in das Haus zurück, und als die Ankommenden den Flur betraten, da stand sie schon an der geöffneten Tür eines nach Westen gelegenen Zimmers und winkte stumm und mit bestürzter Miene, da einzutreten.

Es war ihre Fremdenstube, ein von glänzendem Tageslichte erfüllter, ziemlich großer Raum mit ausgetretenen Dielen, verschabten, einst rosa angestrichenen Wänden und einem Ofenungetüm von schwarzen Kacheln. Die neuen, mit Rosen bedruckten Kattunvorhänge an den zwei Fenstern waren vielleicht der einzige Luxus, den sich die Tante Diakonus beim Umzuge gestattet hatte. Am Kopfende des Bettes stand ein uralter, mit chinesischen Figuren beklebter Bettschirm, und rings an den Wänden hingen schwarzeingerahmte, nicht besonders künstlerisch ausgeführte Szenen aus der lieblichen Idylle »Louise« von Voß. Eine köstlich reine, mit Lavendelduft gemischte Luft wehte die Eintretenden an.

Auf der jugendlichen Stirn des Doktors lag ernste Besorgnis. Es dauerte sehr lange, bis sich unter seinen Bemühungen Henriettens Augen zu einem umschleierten Blicke öffneten. Sie erkannte ihn sofort, aber ihre augenblickliche Schwäche war so groß, dass sie die Hand nicht von der Bettdecke zu heben vermochte, um sie ihm zu reichen. Er hatte den Gartenarbeiter in die Villa Baumgarten geschickt, um die Präsidentin von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen – sie kam sogleich. Bis dahin war im Krankenzimmer kein Wort gefallen. Flora stand in dem einen Fenster und starrte in die Gegend hinaus, und in dem anderen saß Käthe, die Hände in den Schoß gefaltet und den Blick auf das Bett geheftet, während die Tante geräuschlos ab- und zuging, um dem Doktor alles herbeizubringen, was er brauchte.

Die Präsidentin sah sehr verstört aus; sie erschrak sichtlich, als sie Henriettens Gesicht so wachsbleich auf dem Kissen liegen sah, und mochte wohl das Schlimmste befürchten, weil die Kranke bei ihrer sanften Anrede die Wimpern nicht hob. Henriette hatte die Augen in dem Moment wieder geschlossen, als ihre Großmutter auf die Schwelle getreten war.

»Sagt mir um’s Himmelswillen, wie das gekommen ist!« rief die alte Dame; ihre weiche, vornehm moderierte Stimme klang förmlich erschreckend laut in die bisher beobachtete Stille hinein.

Nun trat Flora aus dem Fenster und erzählte. Sie schilderte ergrimmt, mit drastischer Deutlichkeit die Szene im Walde; ihrer Darstellung nach hatte sie selbstverständlich keinen Augenblick den Mut und die Geistesgegenwart verloren, aber einer Schar von mindestens zwanzig Furien gegenüber brauche der stärkste Geist alle seine Kraft, um nicht vor Ekel und Abscheu zu erliegen, versicherte sie.

Die Präsidentin ging währenddem ganz außer sich auf und ab; sie bemerkte in ihrer Erregung nicht einmal, dass ihre Seidenschleppe auf dem faserigen Dielenboden jenes monoton schrille Geräusch machte, das für leidende Nerven zur Tortur werden kann. »Was sagt ›der Menschenfreund‹ nun dazu?« fragte sie endlich stehenbleibend, und aus ihren halbzugesunkenen Augen zuckte es wie ein mörderischer Blick nach dem Doktor hin.

Er schwieg mit jener ruhigen Milde, die sein jugendlich schönes Gesicht so geistig überlegen erscheinen ließ. Henriettens Hand in der seinen haltend, schien er nur Augen für das schwach pulsierende Leben zu haben, das jeden Augenblick in das nichts zerrinnen konnte.

Die alte Dame trat wieder an das Bett und bog sich mit zurückgehaltenem Atem über die Kranke.

»Herr Doktor«, sagte sie nach einem momentanen Zögern, »der Zustand scheint mir sehr bedenklich – wollen wir nicht doch endlich einmal meinen alten, erfahrenen Freund und Hausarzt, den Medizinalrat von Bär, zu einer Konsultation herbeiziehen? – Sie dürfen mir das nicht verargen.«

»Nicht im Geringsten, Frau Präsidentin«, sagte er, die aufzuckende Hand der Kranken auf die Bettdecke legend. »Es ist sogar meine Pflicht, alles zu tun, was zu Ihrer Beruhigung dienen kann.« Er erhob sich ruhig und verließ das Zimmer, um nach dem verlangten Arzte zu schicken.

»Mein Gott, was für einen Streich habt Ihr gemacht, Henriette hierher zu bringen!« schalt die Präsidentin hastig, mit gedämpfter Stimme, sobald sich die Tür hinter dem Hinausgehenden geschlossen hatte.

»Daran ist Käthes Weisheit schuld«, versetzte Flora erbittert. »Ihr mache den Vorwurf, dass wir nun möglicherweise gezwungen sind, in dem verkommenen Neste hier wochenlang verkehren zu müssen« – ihre Augen streiften zornig das schweigende Mädchen im Fenster.

»Und welche Indolenz, das arme Geschöpf so zu betten, dass sie bei jedem Augenaufschlag das schwarze Ungeheuer von Ofen vor sich hat! Dazu diese Fratzen an den Wänden – man könnte sich fürchten.« Die alte Dame wandte ihr bei diesen naiven Darstellungen den Rücken und untersuchte das Bett. »Das Lager scheint passable zu sein; das Leinen wenigstens ist weiß und weich, aber ich werde doch Henriettens seidene Steppdecke herüberschicken; ebenso einen bequemen Fauteuil für den Medizinalrat, vor allen Dingen aber anderes Waschzeug. – Steingut!« sagte sie verächtlich und schob das saubere Geschirr auf dem Waschtische zusammen, um für das kommende gemalte und vergoldete Porzellan Platz zu machen. »Gott, wie erbärmlich leben doch solche Leute! Und das fühlen sie nicht einmal – wünschest Du etwas, mein Engel?« unterbrach sie sich mit sanfter Stimme und trat wieder an das Bett.

 

Henriette hatte langsam den Kopf aufgerichtet und einen sprühenden Blick um sich geworfen; jetzt lag sie schon wieder mit geschlossenen Augen da, aber ein Anschein von Kraft war insoweit zurückgekehrt, als sie die Hand der Großmama, die streichelnd ihre Rechte berührte, wegzuschieben vermochte.

»Eigensinnig, wie immer!« seufzte die Präsidentin und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bette.

Der Medizinalrat ließ nicht lange auf sich warten, aber er kam ganz konsterniert. Er konnte sich anfänglich durchaus nicht dreinfinden, seine alte Freundin im Hause am Flusse zu sehen, bis man ihm in flüchtigen Umrissen das Vorgefallene mitteilte. Er war ein hübscher alter Herr, spiegelblank vom Kopfe bis zur Zehe und von hochmütig zurückhaltenden Manieren. Er war Leibarzt des regierenden Fürsten, hatte für seine Verdienste den Adel, eine hübsche Anzahl Orden, Brillanten und goldene Schnupftabaksdosen erhalten, und draußen an der Brücke hielt seine prächtige Equipage.

»Fatal, sehr fatal!« sagte er mit bedenklicher Miene an das Bett tretend. Er beobachtete die Kranke minutenlang, dann fing er an, die kranke Brust zu beklopfen. Er tat das zwar vorsichtig, aber die Patientin stöhnte dennoch auf; die wiederholte Berührung verursachte ihr offenbar Schmerz.

Doktor Bruck stand schweigend mit untergeschlagenen Armen neben ihm. Er zuckte mit keiner Wimper; allein bei dem ersten Jammerlaute Henriettens zogen sich seine Brauen unwillig zusammen; in diesem vorgerückten Stadium der Krankheit war eine so anhaltende, gründliche Untersuchung vollkommen überflüssig. »Darf ich Ihnen meine Beobachtungen mitteilen, Herr Medizinalrat?« fragte er mit gelassener Stimme, aber nachdrücklich, um ein Ende zu machen.

Der alte Herr schielte seitwärts empor. Für den bittersten, gehasstesten Feind gab es keinen giftigeren Blick, als der aus den tiefliegenden Augen des vornehmen Arztes schoss. »Erlauben Sie, dass ich mich persönlich überzeuge, Herr College!« antwortete er kalt und setzte seine Untersuchungen fort. »So, nun stehe ich zu Ihrer Verfügung«, sagte er einige Augenblicke später. Er trat vom Bett zurück und folgte dem Doktor, der die Tür öffnete, in das Eck- und Arbeitszimmer.

Gleich darauf hob Henriette die Wimpern. Auf ihren Wangen lag das gefährliche Rot innerer Aufregung, und sie verlangte mit fast heftigen Gebärden und Worten nach ihrem Arzte, dem Doktor Bruck.

Die Präsidentin vermochte kaum ihren Ärger über »den bodenlosen Eigensinn« zu unterdrücken; allein sie ging ohne Widerrede, um den Wunsch der Kranken zu erfüllen. Sie kam auch durchaus nicht zu früh, wie sie gefürchtet. Der Herr Medizinalrat hatte jedenfalls von den Beobachtungen des jungen Arztes keinen Gebrauch zu machen gewusst, und noch weniger war er auf eine Beratung eingegangen – er setzte sich eben an den Arbeitstisch des Doktors, um ein Rezept zu verschreiben.

Doktor Bruck verließ sofort das Zimmer, und die Präsidentin trat zu ihrem alten Freunde, um sein Urteil zu hören. Er war ziemlich spitz und verstimmt, sprach von total verfehlter Behandlung des Leidens und warf den Vorwurf hin, dass man immer erst in den gefährlichsten Momenten »vor die rechte Schmiede gehe«. Die Großmama habe längst Henriettens eigensinniges Köpfchen brechen und den alten Hausarzt, der sie doch in ihrer Kindheit behandelt, zu Rate ziehen müssen. In solchen Fällen sei eine Rücksicht, wie die auf Floras Bräutigam genommene, geradezu gewissenlos. »Vor allen Dingen müssen wir jetzt sehen, dass wir das arme Kind so schnell wie möglich in sein eigenes, bequemes und elegantes Schlafzimmerchen bringen, meine Gnädigste«, setzte er hinzu. »Sie wird sich in ihrer gewohnten Umgebung wohler fühlen; auch bin ich dann sicher, dass meine Anordnungen strikt befolgt werden, was hier voraussichtlich nicht der Fall sein würde.«

Er tauchte die Feder ein – da fiel sein Blick auf ein geöffnetes, elegantes Kästchen, das mitten unter den Büchern und Schreibmaterialien stand; es mochte kaum erst ausgepackt worden sein, denn die Emballage lag noch daneben.

Die Frau Präsidentin hatte das blühende Gesicht ihres »bewährten Freundes« noch nie so lang, noch nie so unbeschreiblich, bis zur Geistlosigkeit verdutzt gesehen, wie in diesem Augenblicke, wo ihm die Feder aus der Hand fiel.

»Mein Gott, das ist ja der herzoglich D.’sche Hausorden«, sagte er und tippte mit scheuem Finger an das Kästchen. »Wie kommt denn der in dieses Haus, an diese obskure Adresse?«

»Merkwürdig!« murmelte die Präsidentin betreten. Über ihre bleiche Haut flog das schnelle Rot einer jähen, unliebsamen Überraschung. Sie hielt die Lorgnette vor die Augen und musterte eifrig den Inhalt des Kästchens. »Ich kenne den Orden und seine Bedeutung nicht –«

»Das glaube ich gern, wird er doch selten genug verliehen!« fuhr der Medizinalrat dazwischen.

»Sonst möchte ich behaupten, die Dekoration rühre noch vom letzten Feldzuge her«, vollendete sie.

»Denken Sie nicht dran!« polterte er heraus – er musste in sehr aufgeregter Stimmung sein, da er diesen Ton anschlug. »Erstens ist der Orden nur gestiftet für Leistungen, die dem Fürstenhause persönlich gelten, und dann möchte ich den Mann sehen, der eine solche Auszeichnung jahrelang besäße, ohne dass die Welt es erführe. … Eh – wenn ich nur das Motiv wüsste, das Motiv!« Er rieb sich unablässig wie geistesabwesend die Stirn mit der Rechten, an der mindestens drei fürstliche Huldbeweise in Brillantenfeuer glänzten – was galten sie ihm in diesem Augenblicke! Es waren Geschenke, die ihm seine fürstlichen Herrschaften von den Reisen mitgebracht, keine Auszeichnung fremder Höfe.

»Gerade dieser Orden ist das Ziel vieler Wünsche«, fügte er hinzu; »manche hochgestellte Persönlichkeit hat sich schon vergeblich darum beworben, und nun liegt er hier, wie achtlos aus der Hand geschoben, auf diesem erbärmlichen, angestrichenen Arbeitstische. Und jenem Menschen, jenem Ignoranten, der sich durch seine Misserfolge so gründlich blamiert hat – Pardon, meine Gnädigste! aber das muss heraus – ihm wird er an den Hals geworfen, und man hat nicht die blasse Ahnung, wofür.«

Er war aufgesprungen und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer. Die stolze Frau, die sich sonst durch nichts so leicht aus der Fassung bringen ließ, verfolgte ihn jetzt mit ziemlich ängstlichen, ratlosen Blicken. »Ich kann mir nicht denken, dass die Dekoration mit seinem ärztlichen Wirken zusammenhängt«, warf sie unsicher hin; »wie käme er denn auch an den D.’schen Hof?«

Der Medizinalrat blieb stehen und lachte laut auf, aber es war ein gewaltsam erzwungenes Lachen. »Nun, das muss ich sagen, Sie sprechen da etwas aus, meine Gnädigste, was mir nun und nimmermehr in den Sinn gekommen wäre, weil es einfach – unmöglich ist. Es müssten sich denn alle Dinge der Welt plötzlich auf den Kopf gestellt haben, so dass die Stümperei und Unwissenheit bei unreifen Strebern ausgezeichnet und das gediegene Wissen, die gereifte Erfahrung, das wahre Verdienst mit Füßen getreten würde. Nein, daran denkt meine Seele nicht.« – Er trat an ein Fenster und trommelte mit den Fingern auf dem Sims. »Wer weiß denn, welcher Mission er sich unterzogen hat! Er war ja für acht Tage verschwunden, und niemand wusste wohin«, sagte er nach kurzem Verstummen in gedämpftem Ton über die Schulter zurück. »Hm, wer kennt denn seine Beziehungen außerhalb? Solche Duckmäuser, die nie von sich und ihrem Berufe sprechen, haben stets ihre guten Gründe – es kommen ja in der ärztlichen Praxis genug Dinge vor, zu denen sich achtbare Leute nicht hergeben. Nun, ich schweige. Es ist nie meine Sache gewesen, von den dunkeln Umtrieben anderer den Schleier zu heben; es geht ja schließlich doch alles seinen Weg, wie der da droben es will.« Er zeigte himmelwärts mit so gutgespieltem Gottvertrauen, dass es ihm nur seine intimste Freundin, die Frau Präsidentin, nicht glaubte; er wurde stets fromm und weich, wenn er sich zurückgesetzt oder in irgendeinem Vorrecht verkürzt wähnte.

Er setzte sich wieder an den Tisch und schrieb das beabsichtigte Rezept, aber so hastig und flüchtig, als sei in dem fatalen Kästchen neben ihm ein Brennpunkt, der ihm die Finger versenge. »Um eines bitte ich Sie, meine verehrte Freundin«, sagte er einen Augenblick innehaltend, »suchen Sie der Sache ein wenig auf den Grund zu kommen! Ich möchte gern au fait sein, ehe Bruck Lärm schlägt mit seiner zweifelhaften Auszeichnung – man kann nötigenfalls parieren. … An Ihre diplomatische Feinheit brauche ich selbstverständlich nicht zu erinnern; die steht hoch über jedem Zweifel.«

Die alte Dame antwortete im ersten Augenblicke nicht; sie hatte ihn, so lange er seine zierlichen, mysteriösen Schriftzüge auf das Papier warf, nachdenklich beobachtet und finden müssen, dass der Freund plötzlich merkwürdig gealtert habe. Nicht etwa, dass Runzeln seine blühenden Wangen durchfurcht hätten – noch sah er wohlbeleibt und glatt aus, aber ein undefinierbares Gemisch von Besorgnis, von Niedergeschlagenheit und mürrischem Verdrossensein sprach in diesem Moment des Sichgehenlassens aus allen seinen Gesichtslinien; er sah aus wie ein Mensch, dem ein heimlich verstimmender Gedanke die Freuden des Tages beeinträchtigt und den Schlaf stört. Und sie erinnerte sich jetzt, dass er in der letzten Zeit hier und da ganz feine Andeutungen über fürstliche Launen hingeworfen hatte. Himmel, wenn sie diesen Freund verlor! Damit meinte sie durchaus nicht seinen Heimgang aus diesem irdischen Leben – sie dachte überhaupt nie ans Sterben – sie verlor ihn nur durch seine Pensionierung; er konnte ihr nichts, gar nichts mehr sein bei Hofe, und wie sich dann alles ändern würde, das mochte sie gar nicht ausdenken. Bah, warum denn auch? Der gute Medizinalrat aß gar zu gern Trüffeln und andere gute, aber schwerverdauliche Dinge, und starke Weine und schweres Bier liebte er auch – er begann hypochondrisch zu werden; er fing Grillen und sah Gespenster; sie mit ihren feinen Fühlfäden spürte es stets lange vorher, wenn eine Macht bei Hofe stürzen sollte, diesmal aber hatte auch nicht das leiseste Wehen eines Lüftchens die Schwenkung der reizbaren Wetterfahne angezeigt.

»Aber, bester Medizinalrat, wer sagt Ihnen denn, dass die Dekoration überhaupt für den Doktor selbst bestimmt ist?« fragte sie mit der ganzen Zuversicht der erfahrenen Weltdame. »Ich glaube nicht daran, weil ich mit dem besten Willen den Zweck nicht einsehe. Übrigens mag die Sache zusammenhängen, wie sie will, ihm wird sie in unserer Residenz nichts nützen, denn da ist er ein- für allemal so gut wie tot. Ich will Ihnen gern den Gefallen tun und nachforschen, lediglich zu Ihrer Beruhigung –« sie verstummte; im Nebenzimmer knarrte eine Tür; die Frau Diakonus kam herein, um etwas aus ihrer Kommode zu holen.

Der Medizinalrat erhob sich und übergab der Präsidentin das Rezept; dann gingen beide durch das Zimmer, wo die Tante eben den Kasten wieder schloss. Am liebsten hätte der Medizinalrat seiner Unruhe jetzt gleich ein Ende gemacht und im Vorübergehen mittelst einer schalkhaften Bemerkung eine aufklärende Antwort herausgelockt, allein die alte Frau verneigte sich so kühl und würdevoll, mit so viel ernster Zurückhaltung, dass er gar nicht wagte, sie anzureden.

Und drüben war noch weniger zu erfahren. Der Doktor hatte die große Glasschale mit den Goldfischen aus dem Zimmer der Tante herübergebracht und war eben bemüht, den dazu gehörigen Apparat eines kleinen Springbrunnens in Gang zu bringen; die Aufwärterin schleppte frisches Wasser herbei und goss es in verschiedene flache Schüsseln auf den Tischen und in einen Kübel nicht weit vom Krankenbette, alles, um die Luft des Zimmers möglichst zu durchfeuchten. … Wer hätte dem Manne, der in seiner Fürsorge, seiner Pflichterfüllung aufzugehen schien, gerade jetzt mit verfänglichen Andeutungen über Außendinge kommen mögen? Und der Medizinalrat fand das auch plötzlich vollkommen überflüssig. Es wurde ihm ganz leicht ums Herz; die Sache musste anders zusammenhängen; denn so schlicht und unbefangen, so anspruchslos wie der junge Arzt dort, gerierte sich kein Mann, der eben einer seltenen Auszeichnung gewürdigt worden war.

 

Henriette saß jetzt, durch Kissen gestützt, im Bette aufrecht und sah mit weitoffenen, glänzenden Augen um sich; es war starkes Fieber eingetreten. Von einem Übersiedeln nach der Villa konnte keine Rede sein, so lebhaft auch die Präsidentin es wünschte. Sie musste sich vorläufig damit begnügen, Henriettens Jungfer zur Pflege für die Nacht, und alles, was das Krankenzimmer »komfortable« machen konnte, herüberzuschicken. Käthes Bitte, die Nachtwache übernehmen zu dürfen, wurde weniger von ihr und dem Medizinalrat, als von Seiten des Doktor Bruck rundweg abgeschlagen. Die Tränen traten dem jungen Mädchen in die Augen, als er so kühl und fest bei seinem Ausspruche beharrte, nach welchem die pflegende Hand der Kammerjungfer unter seiner speziellen Aufsicht und Leitung völlig genügte. Es wurde demnach beschlossen, dass Flora und Käthe bis um zehn Uhr bleiben und dann durch Nanni abgelöst werden sollten.

Flora hüllte sich bei diesen Verhandlungen in konsequentes Schweigen. Sie fühlte so gut, wie die Großmama, dass sie als leibliche Schwester sich bei diesem Erkranken, welches im Verein mit dem Vorfalle im Walde morgen voraussichtlich das Tagesgespräch der Residenz bilden werde, durch Käthe sich nicht beschämen lassen dürfe, und deshalb ließ sie den Beschluss wie eine Verurteilung über sich ergehen.