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Im Hause des Kommerzienrates

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»Und leuchtet Ihnen so sehr ein, dass Sie nicht einen Augenblick schwanken, zu bleiben«, ergänzte er fliegenden Atems mit einem so ungeduldig verzehrenden Blicke, als zürne er den Lippen, dass sie nicht rasch genug bestätigten.

»Nein, Herr Doktor, Sie triumphieren zu früh«, rief sie mit einer Art von wilder Schadenfreude. »Der obstinate Goldfisch durchbricht das Netz. Ich gehe, ich gehe heute noch. Ich kam vorhin nur, um mich von der Frau Diakonus zu verabschieden, und würde daher gelächelt haben über das Verbannungsdekret, das Sie gegen mich richteten, wenn es mich nicht so schmerzlich berührt hätte. Meine Schwestern haben mir vorhin die blinden Augen geöffnet und mir in prächtiger Perspektive ›das Glück‹ gezeigt, das man für mich beabsichtigt. Ich hatte im Moment der Eröffnung das Gefühl, als gäbe es aus dem blauen Salon der Frau Präsidentin nur noch einen Weg für mich, den direkten, sofortigen nach der Eisenbahn, die mich heimbefördere, und ich wäre auch gegangen, wenn ich mich nicht meiner übernommenen Pflichten erinnert hätte. Ich gehe nicht für lange, nur für die Zeit, in der ich Moritz von der Ferne aus überzeugt haben werde, dass er mir nie und nimmer mit einer anderen, als seiner streng vormundschaftlichen Beziehung kommen darf, dass ich ihm stets die entschiedenste Abneigung zeigen werde, sobald er Miene macht, einen anderen Ton, als den des väterlichen Beraters anzuschlagen.«

Ihr Busen hob sich in tiefen, befreienden Atemzügen, und die heiße Glut, die ihr Gesicht bis an die Haarwurzeln überströmte, war das hinreißende Erröten widerstrebender Scham, aber man sah, sie wollte es um jeden Preis klar werden lassen zwischen sich und dem Manne, der sich, während sie sprach, emporrichtete, hoch und elastisch, als werde plötzlich eine niederdrückende Wucht von seinen Schultern genommen.

»Seit dem Tage, wo wir Henriette so schwer leidend in Ihr Haus brachten, besteht ein schönes Verhältnis zwischen der Frau Diakonus und meiner armen Schwester«, fuhr Käthe rascher fort; »ich kann ruhigen Herzens gehen, wenn die Tante sich Henriettens annimmt. Um diesen Liebesdienst wollte ich sie bitten; deshalb kam ich hierher. Ich werde ihr nun von Dresden aus schreiben; denn Sie begreifen wohl, dass die von Ihrem Grund und Boden Verbannte auch nicht einmal die kurze Strecke von hier bis zu dem Hausflure je wieder beschreiten wird.«

Mit diesen Worten ging sie an ihm vorüber. »Leben Sie wohl, Herr Doktor!« sagte sie mit einer leichten Verbeugung und schritt nach der Brücke. Jenseits des Holzbogens, beim Umschreiten der Pappel, wandte sie den Kopf noch einmal nach dem lieben, alten Hause zurück. Dort an der Ecke lugten die Kinderköpfchen neugierig und kichernd eines über dem anderen, neben dem Gartentische aber stand der Doktor, beide Hände sonderbar schwer auf die Tischplatte stützend, und aus seinem aschfahlen Gesichte starrten die Augen mit einem fast wilden Blicke ihr nach.

Seltsames Mädchenherz! Sie flog ohne Besinnung über die Brücke zurück, über den verpönten Weg, den sie nie mehr beschreiten wollte – sie wäre noch weiter gelaufen, in die weite Welt hinein, ihm zu Hilfe.

»Ach, Sie sind krank?« stammelte sie, ihre warmen, geschmeidigen Hände angstvoll auf die seinen legend.

»Nein, nicht krank, Käthe – nur das, was Sie mir, wenn auch in einem anderen Sinne, Schuld gegeben – ein erbärmlicher Schwächling!« stöhnte er und strich sich mit einer heftigen Gebärde das nach vorn gefallene reiche Lockenhaar aus der Stirn zurück. »Gehen Sie, gehen Sie! Sehen Sie denn nicht, dass ich in einem Seelenzustande bin, für den jedes Wort der Teilnahme, jeder warme Blick zum Dolchstoß wird?« rief er rau, und doch bog er sich blitzschnell nieder und presste seine Lippen fest und heiß, wie in wahnsinnigem Schmerz auf die Mädchenhand, die noch auf seiner Linken lag.

Erschreckt fuhr das junge Mädchen zusammen, allein sie fühlte ihr Herz von einem nie gekannten, beseligenden Zärtlichkeitsgefühl überströmen, und es schwebte ihr auf den Lippen zu sagen: »Nein, ich gehe nicht – Du bedarfst meiner.« Da stand er jedoch schon wieder hochaufgerichtet vor ihr und winkte mit schmerzentstelltem Gesicht stumm, aber gebieterisch nach der Brücke – und jetzt floh das Mädchen, als schreite der Engel mit dem feurigen Schwerte hinter ihr. …

Einige Stunden später stieg sie in Hut und Schleier, eine Reisetasche in der Hand, eine Seitentreppe der Villa geräuschlos herab – sie ging, wie sie gekommen war, plötzlich, unerwartet. Henriette hatte, wenn auch tödlich bestürzt und unter heißen Tränen, dennoch in die schleunige Abreise und mehrwöchentliche Abwesenheit der Schwester gewilligt, da sie sich selbst sagen musste, dass auf Floras unumwundene, taktlose Mitteilungen hin nun eine Reihe peinlicher Auftritte für alle Teile folgen würde. Sie war auch damit einverstanden, dass Käthe stillschweigend gehe und von Dresden aus ihre Willensmeinung äußere, während sie selbst es übernahm, die Verwandten von der Abreise in Kenntnis zu setzen. Dafür stellte sie die Bedingung, dass Käthe sofort zurückkehre, gleichviel wann, und möge sie auch sein, wo sie wolle, sobald die kranke Schwester eine Stütze brauche und sie rufe.

Henriette blieb droben an der Treppe stehen und streckte der Scheidenden die Hände nach, während Käthe den Schleier über die verweinten Augen zog. Wie ein Lichtmeer wogte es durch das Haus; alle Gasflammen loderten, und am Portale fuhr donnernd eine Equipage nach der anderen vor. Für einen Moment war Käthe gezwungen, in einen Seitenkorridor zu flüchten; dort, an die Wand gedrückt, sah sie Damen in eleganter Abendtoilette vorüberrauschen. Die Lakaien schlugen die Türen des blauen Salons weit zurück, und drinnen stand Flora im spitzenbesetzten, blassroten Seidenkleide, strahlend schön und vornehm lächelnd wie ein Fürstenkind, und begrüßte die Gäste, die um ihretwillen kamen – der Kommerzienrat gab ihrem Geburtstag zu Ehren eine große Soiree.

Bei diesem Anblick war es der Lauschenden draußen, als gingen schneidende Schwerter durch ihre Seele. Dort stand die Übermütige, umschwebt vom Glück, das ihr förmlich bettelnd nachgelaufen war, ob sie es auch verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen hatte – und hier verbarg sich die Hoffnungslosigkeit, scheu wie die Sünde. Warum war aller Glücksreichtum, die ganze Fülle von Liebesseligkeit auf dieses eine Haupt gehäuft, das ihrer entbehren konnte, während die andere Schwester inmitten ihrer Goldschätze hungernd und entsagend durch das Leben gehen sollte?

Die Türflügel fielen zu, und Käthe eilte hinaus in den Park, von einer Verzweiflung erfüllt, wie sie nur ein junges, heißes Herz zu erschüttern vermag, und während die Kammerjungfer droben ahnungslos ihrer harrte, um auch ihr beim Ankleiden für die Soiree behilflich zu sein, pochte sie an das erleuchtete Mühlenfenster und berief Franz, sie nach dem Bahnhof zu begleiten. …

22

Seitdem waren mehr als drei Monate verstrichen. Nie hatte sich Käthe so eifrig in ihr Musikstudium versenkt, wie in dieser Zeit, aber auch ihr übriges Wissen hatte sie auszudehnen und zu vertiefen gewusst mit jener fieberhaften Hast, die in angestrengter Arbeit und Tätigkeit – Vergessenheit sucht. Henriette hatte eine Art Tagebuch für sie angefangen, das sie allwöchentlich schickte. Diese Blätter erzählten ihr, wie sich seit ihrer Abreise das Leben in der Villa weiterspann. Sie las nur zwischen den Zeilen, dass die Präsidentin förmlich neu auflebe, aber auch anmaßender und despotischer als je im Hause herrsche; unumwundener dagegen sprach Henriette aus, dass die Großmama Käthes plötzlichen Entschluss, »um des dabei an den Tag gelegten Taktes willen«, geradezu in den Himmel hebe, während Flora die Achseln zucke und von Backfischstreichen spreche. Der Kommerzienrat hatte mehrere Tage mit ihr gegrollt, ihrer unbefugten Einmischung wegen. Er war an jenem Abend, wo ihm Henriette in einer Ecke des Musiksalons leise das Geschehene mitgeteilt, blass geworden vor Schreck und Verdruss, und nur die Anwesenheit der Gäste hatte eine heftige Familienszene verhindert, die jedenfalls umso erbitterter ausgefallen wäre, als auch Flora den ganzen Abend sehr verstimmt und pikiert gewesen war – der Bräutigam hatte sich mit Berufspflichten entschuldigt und war in der Geburtstagssoiree nicht erschienen.

Der Kommerzienrat hatte gleich zu Anfang an Käthe und die Doktorin geschrieben und »behufs einer Aussprechung« seinen Besuch in Dresden für den Juni angekündigt, allein das Tagebuch teilte in jener Zeit mit, dass häufiger als je Depeschen in der Villa einliefen, dass der Kommerzienrat weit mehr in Berlin als daheim und mit Geschäften vollständig überbürdet sei. Der Besuch unterblieb; nur selten kam ein flüchtiger Geschäftsbrief von der Hand des Vormundes, und die letzte Geldsendung hatte – was bisher nie geschehen – der Buchhalter abgeschickt.

Käthe atmete auf; der gefürchtete Konflikt war ohne allen Zweifel beseitigt. Der Herr Vormund hatte aus ihrem Antwortschreiben die Überzeugung gewonnen, dass er niemals hoffen dürfe, und sich vernünftiger Weise beschieden. Das junge Mädchen hätte nunmehr als Pflegerin zurückkehren können, dem aber widersetzte sich die Doktorin energisch, weil Käthe, wie sie oft tadelnd und bekümmert aussprach, so sehr verändert, mit dem Verluste ihres jugendlichen Frohsinns und ihrer frischblühenden Gesichtsfarbe heimgekommen sei. Zudem hatte die Baronin Steiner in der Tat mit ihrem Gefolge für zwei volle Monate Einzug in der Villa gehalten und sich dermaßen ausgebreitet, dass kein Winkelchen in der Beletage unbesetzt geblieben war.

Käthe selbst schauderte bei dem Gedanken an eine Rückkehr, so lange die Übersiedelung nach L…..g nicht stattgefunden hatte. Sie wusste nur zu gut, dass sie jetzt nicht mehr monatelang mit äußerer Ruhe inmitten der dortigen Verhältnisse ausharren könne – bedurfte es doch selbst in Dresden all’ ihrer Kraft, nicht zu zeigen, dass sie ihren inneren Frieden verloren habe, dass sie fast übermenschlich ringe mit der süßen, zwingenden Gewalt, die sich ihrer Seele bemächtigt, und welche die Menschen Sünde nannten. Henriette hatte ja auch noch nicht »gerufen«, trotz ihrer leidenschaftlichen Klagen über die Sehnsucht nach »der starken, besonnenen Schwester«; sie sprach im Gegenteil mit enthusiastischem Danke von der Aufopferung, mit der sie von Seiten der Tante einstweilen gepflegt und verhätschelt werde. Ihr Tagebuch war eigentlich auch nur eine fortlaufende Schilderung, in der zwei Menschen die Hauptrolle spielten, der Doktor und die Tante. Alles, was sich im Hause am Flusse ereignete, wurde getreulich mitgeteilt, und war es auch nur der jähe Tod der gelben Henne, die endlich doch ein tückisches Zuschnappen des grimmen Feindes vor der Hundehütte aus der Welt befördert, oder der außergewöhnliche Traubenreichtum, der in diesem Jahre am Weinspalier hing; selbst ein neu angeschafftes silberweißes Kätzchen, »das sich auf dem Sofa der Taute breit mache«, wurde als Merkwürdigkeit aufgezählt – das waren die harmlosen Momente, sonst aber trug das Tagebuch eine düstere Färbung. Manche Stellen lasen sich, als müssten die Briefblätter noch tränenfeucht sein, andere wieder so leidenschaftlich fortreißend, als sei aus den schreibenden Fingern Feuer in die Feder geströmt. Über das bräutliche Verhältnis zwischen Flora und dem Doktor fiel auch hier kein Wort, wohl aber wurde angstvoll geklagt, dass der Letztere in Folge seiner aufreibenden ärztlichen Tätigkeit sich auffallend verändere; nur den Kranken gegenüber sei er mild und geduldig, im geselligen Umgange dagegen verfinstert, wortkarg wie nie und sichtlich reizbar; in seiner äußeren Erscheinung verfalle er zum Befremden aller.

 

So war allmählich der Zeitpunkt herangerückt, auf welchen man die Hochzeit festgesetzt hatte. Flora hatte es unterlassen, die ferne Stiefschwester einzuladen; sie habe den Kopf voll – schrieb Henriette – eine Reihe von Feten, die ihr zu Ehren noch gegeben würden, lasse sie kaum zu Atem kommen; dazu sei sie kapriziös wie immer, auch bezüglich ihrer Aussteuer und der Vermählungsfeierlichkeiten – es werde fortwährend noch ausgewählt und geändert zur Verzweiflung der Lieferanten. Henriette befand sich in unbeschreiblicher Aufregung; sie betonte wiederholt, dass sie in dem Hochzeitstrubel um keinen Preis allein bleiben wolle. Die Tante Diakonus werde ihr in »den entsetzlichen Tagen« voraussichtlich keine Stütze sein, da sie selbst schon jetzt unter dem Trennungsweh leide und oft auffällig verstimmt und bewegt sei. Diese Klagen steigerten sich von Blatt zu Blatt, bis eines Abends, wenige Tage vor der Hochzeit ein Telegramm einlief, welches lautete: »Komme sofort! Ich bin auch körperlich sehr elend.«

Da galt kein Zögern; auch die Doktorin war damit einverstanden, dass Käthe gehe – und das junge Mädchen selbst? Ein Nervenschauer um den anderen durchschüttelte sie aus Angst vor dem Kommenden, und dabei jubelte sie auf in unbeschreiblicher Seligkeit, dass sie den noch einmal sehen sollte, der – ihr Schwager wurde.

Da stand sie nun an einem Septembermorgen wieder in der Schlossmühlenstube. Sie war mit dem Nachtzuge gefahren und eben angekommen. Bei ihrer Abfahrt hatte sie Franz telegraphisch ihre Ankunft mitgeteilt, und liebevoller hätten Mutterhände ihre Aufnahme nicht vorbereiten können, als die alte Suse getan. Die große, von dem durch die Kastanienwipfel hereinfallenden grünen Dämmerlichte angehauchte Stube war erfüllt von den Düften der Heliotropen, Rosen und Reseden, die auf den Fenstersimsen standen; saubere Decken lagen auf allen Tischen; im Alkoven lockte ein blütenweißes Bett, und auf dem großen Eichentische mit den plump ausgespreizten Füßen stand die wohlbekannte kupferne Kohlenpfanne, mit ihrer Glut den Kaffee warm erhaltend. Sogar der selbstgebackene Kuchen war noch fertig geworden und stand, zuckerbestreut, in bräunlicher Schöne neben der vergoldeten Tasse, dem Prachtstücke aus dem Glasschranke der seligen Schlossmüllerin.

Nun schütterten die schneeweiß gescheuerten Dielen wieder unter den Füßen des jungen Mädchens, und durch die offenen Fenster kam das Rucksen der Tauben und das Tosen des fernen Wehres – sie war daheim. Von hier aus wollte sie die kranke Schwester besuchen und um keinen Preis die Gastfreundschaft im Hause des Kommerzienrates annehmen, mochte auch die Frau Präsidentin die Nase rümpfen über den anstößigen Verkehr zwischen Villa und Mühle.

Käthe war in einer seltsamen Stimmung. Furcht vor dem ersten Wiedersehen in der Villa, schmerzliche Sehnsucht nach dem Hause am Flusse, dessen Wetterfahnen sie mit hochklopfendem Herzen von dem südlichen Eckfenster aus erblickte, und das sie doch nicht betreten durfte, leidenschaftliche Ungeduld, der hohen Gestalt, wenn auch nur noch ein einziges Mal, zu begegnen, die sie hier in der Mühle zum ersten Male gesehen und – das sagte sie sich ja täglich unter tausend Schmerzen – seit jenem Momente geliebt hatte: das alles wogte in ihr, und daneben schlich eine unerklärliche Bangigkeit und Beklemmung. Schon seit Monaten füllten die Sensationsnachrichten von dem Zusammenbrechen des Gründungsschwindels in Wien und später in der preußischen Hauptstadt die Spalten der Zeitungen. In allen öffentlichen Lokalen, in allen Salons war der welterschütternde Einsturz dieses modernen Turmes zu Babel das Tagesgespräch, und selbst in dem kleinen ästhetischen Zirkel der Doktorin hatte man die Ereignisse wiederholt erörtert. Während der Eisenbahnfahrt von Dresden nach M. waren sie auch das ununterbrochene Gesprächsthema der Mitreisenden gewesen – man hatte haarsträubende Dinge erzählt und noch Schrecklicheres prophezeit, und nun sah Käthe mit eigenen Augen eine der Folgen dieser Kalamität. In das Gelärme der Tauben und das Rauschen des Wehres hinein klang das laute Durcheinander von Menschenstimmen, und schräg hinter der letzten Kastanie hervor konnte das junge Mädchen den großen Kiesplatz vor der Spinnerei überblicken; er wimmelte, genau wie an jenem Tage des Attentates, von Arbeitern, die bald mit allen Zeichen der Niedergeschlagenheit, bald heftig streitend und drohend untereinander verkehrten – die Aktiengesellschaft, welche die Spinnerei von dem Kommerzienrate gekauft, hatte Bankerott gemacht; eben war die Gerichtskommission in der Fabrik erschienen, und die Leute stoben im ersten Schrecken wie Spreu auseinander.

»Ja, ja, so geht’s«, sagte Franz, der eben Käthes kleinen Koffer heraufgetragen hatte. »Den Leuten war’s zu wohl, und sie meinen, es ginge ihnen noch lange nicht gut genug; nun gehen sie von einer Hand in die andere und kommen mit der Zeit vom Pferde auf den Esel. ’s ist aber auch eine schlimme Zeit, eine heillose Zeit. Jeder will sein Geld mit Sünden verdienen und womöglich die Dukaten von der Straße auflesen, und man kann’s den Kleinen kaum noch verdenken, die Großen machen’s ja nicht besser.«

»Wohl dem, der sein Schäfchen ins Trockene bringt!« fuhr Franz, gemächlich auf die Tasche klopfend, fort. »Ehrlich verdient und fein stet und redlich vermehrt, das ist meine Parole; dabei kann man ruhig schlafen. Wer sich auf das Spekulieren nicht versteht, der soll’s bleiben lassen. Da ist der Herr Kommerzienrat drüben – den ficht freilich die ganze Geschichte nicht an; der sitzt bombenfest, weil er ein kluger Kopf ist und eine feine Nase hat.« Er hob mit wichtiger Anerkennung den Zeigefinger. »Kam gestern erst wieder von Berlin, stramm wie immer. Ich hatte gerade Mehl an die Bahn gefahren – hui, wie da seine zwei Schwarzen, seine Prachtpferde, vorbeisausten! Der versteht’s wie keiner. Die Leute meinten, er hätte gewiss wieder einmal gehörig eingestrichen, so munter sah er aus und so recht wie einer, der Millionen kommandiert. Er war diesmal lange fort und wär’ wohl auch gestern Abend nicht gekommen, wenn sie heute nicht Polterabend drüben feierten.«

Polterabend! Und übermorgen war die Hochzeit, und gleich nach der Trauung sollte das junge Paar abreisen. Käthe wusste das ja; sie hatte es oft genug in Henriettens Tagebuche gelesen, und doch durchfuhr sie ein jähes, schmerzvolles Erschrecken, als es Menschenlippen so selbstverständlich aussprachen.

»Es soll hoch hergehen heute Abend«, sagte Suse, indem sie der jungen Herrin eine Tasse Kaffee präsentierte. »Ich sprach gestern dem Herrn Kommerzienrat seinen Anton, der sagte, es kämen so viele Gäste, dass sie nicht Platz genug schaffen könnten. Ein Theater haben sie gebaut, und eine Menge Fräulein aus der Stadt sollen verkleidet kommen, und das Grüne zum Putzen wird wagenweise aus dem Walde geholt.«

Es schlug Elf auf dem Turme der Spinnerei, als Käthe nach der Villa ging. Noch klang das verworrene Stimmengeräusch von der Fabrik her an ihr Ohr, als sie den Mühlenhof durchschritt, aber kaum war die kleine Bohlentür in der Mauer, die das Mühlengrundstück von dem Parke trennte, hinter ihr zugefallen, als auch schon tiefe, so recht vornehme Parkstille sie umfing.

Franz hatte Recht: hier überkam einen das Gefühl, dass der wüste Lärm des Geldmarktes den reichen Mann und seine wohlgeborgenen Schätze nicht anfechte, dass die alles verschlingenden Unglückswogen nicht einmal bis zu seinen Sohlen hinauflecken durften. Ah, dort dehnte sich ein herrlicher Wasserspiegel hin. Er fing den Azur des wolkenlosen Morgenhimmels auf – ein riesiger Saphir von fleckenloser Reinheit! Der Teich war fertig, unglaublich rasch fertig geworden durch die massenhaft auf diesen kleinen Fleck konzentrierte Menschenkraft und riesige Geldopfer. Schwäne durchfurchten die blaufunkelnde Flut, und dem Ufer nahe schwankte ein buntbewimpelter Nachen au der Kette. Als Käthe gegangen war, hatte der Park in heller Maienblüte gelegen – jetzt schien alles Grün tief schattiert, wie ein nachgedunkeltes Gemälde; über das sanfte Farbengemisch der Frühlingsblumen waren die Sonnenflammen sengend hingelaufen und hatten dafür die Blütenfackeln der Cannas, die kerzenartig aufstrebenden Gladiolen auf jedem zwischen der Boscage hervortretenden Rasenspiegel angezündet.

Wie viele Hände mussten bezahlt werden, um dem Parke das Gepräge peinlicher Sauberkeit und Pflege zu bewahren! Kein abgefallenes Blättchen lag auf den Wegen; kein Grashalm bog sich über die vorgeschriebene Linie; keine verdorrende Blüte hing an den Zweigen. Und dort zwischen den köstlich schattierten Gruppen von Laubholz trat jetzt die imposante Fassade des neuen Marstalles hervor; auch an ihr war ununterbrochen gearbeitet worden; ihr Emporwachsen war ein so zauberhaft rasches, als habe eine Riesenkraft das Mauerwerk mit seinen Stuckverzierungen aus der Erde getrieben. Und hier förderte in der Tat die treibende Macht, das Geld, fort und fort; hier sprang der Goldquell in unverminderter Stärke, ob auch auf der Börsenbühne die großen Brunnen verschüttet waren – nein, nicht einer der elektrischen Schläge, welche die Geschäftswelt so mörderisch durchzuckten, hatte seinen Lauf hierher gelenkt.

Unter der kühlen Wölbung der Lindenallee hinschreitend, kam Käthe der Villa näher und näher. Noch nie war ihr das kleine Feenschloss so aristokratisch unnahbar erschienen, als heute in dieser tiefgoldenen Morgenbeleuchtung, mit der aufgezogenen, farbenglänzenden Flagge auf seiner Plattform – das flatternde Willkommenzeichen wogte, festlich einladend, hoch in den Lüften. Unwillkürlich legte das junge Mädchen die Hand auf das ängstlich pochende Herz – sie war nicht eingeladen, und doch kam sie. Es war ein schwerer Gang, es war ein großes Opfer der Schwesterliebe, dieses Niederkämpfen der eigenen stolzen Natur. Hinter dem Bronzegitter des untern Balkons lief das Löwenhündchen der Präsidentin auf und ab und kläffte die Kommende wie immer feindselig an, und die Papageien im blauen Salon akkompagnierten kreischend durch die weit offenen Glastüren.

Als Käthe unter das Portal trat, huschte eine Dame an ihr vorüber; sie hielt das Taschentuch vor das Gesicht, aber über den Spitzenbesatz hinweg streifte ein scheuer Blick aus furchtbar verweinten Augen das junge Mädchen. Käthe erkannte sie – es war die schöne, üppige, in Luxus schwelgende Frau eines Majors; die Eleganz ihrer Toiletten war in der Residenz sprichwörtlich geworden. Sie eilte um die Hausecke, in das Dunkel der Boscage, jedenfalls, um erst die Tränenspuren zu beseitigen, ehe sie die von Spaziergängern wimmelnde Promenade betrat.

»Dem Manne bleibt auch nichts anderes übrig, als ›die Kugel vor den Kopf‹ – das Bett unter dem Leibe soll ihm genommen werden«, hörte Käthe, an der halb offenen Tür der Portierstube vorübergehend, einen Bedienten sagen. »Geschieht ihm ganz recht – was braucht denn solch ein Offizier in Papieren zu spekulieren, von denen er nicht den Pfifferling versteht! Nun kommt die Frau und heult unserm Herrn was vor, und der soll nun den Karren aus dem Moraste holen – das könnte ihm fehlen! Wenn er allen denen helfen wollte, die in den letzten Tagen dagewesen sind, da könnte er nur den Ziegenhainer in die Hand nehmen und den Staub von den Schuhen schütteln – da blieb ihm nichts.«

 

Abermals ein Opfer der entsetzlichen Katastrophe! Käthe schauerte in sich zusammen und stieg unbemerkt die Treppe hinauf. In der Beletage war es feierlich still – mechanisch schritt sie zuerst nach dem kleinen Salon, den sie bewohnt, und öffnete die Tür. Die Frau Baronin Steiner herrschte allerdings hier nicht mehr, aber das Zimmer war auch nicht angetan, einen andern Gast wieder aufzunehmen. Sämtliche Möbel waren ausgeräumt – dafür standen große, schöndrapierte Tafeln die Wände entlang und trugen auf ihren Flächen einen förmlichen Bazar von Ausstattungsgegenständen, den mit großer Ostentation aufgebauten, wahrhaft fürstlichen »Trousseau« der Frau Professorin in spe; in der Mitte des Salons aber wogte von einem Kleiderständer nieder milchweißer Atlas, umhaucht von Spitzenduft und mit Orangenblüten besteckt, und so hoch auch das Postament war, der schwere Stoff schleppte doch noch weit über das Parkett hin – Floras Brautanzug! Käthe drückte mit weggewandten Augen die Tür wieder zu – einige Sekunden später lag sie tieferschüttert in Henriettens Armen, die in einen so exaltierten Jubel ausbrach, als werde sie durch diese Ankunft aus namenloser Pein erlöst.

Die kranke Schwester war allein. Man habe heute im Hause keine Zeit für sie, klagte sie; der Kommerzienrat richte Flora die Hochzeit aus, und zwar mit einem beispiellosen Aufwand. Er wolle bei dieser Gelegenheit der Residenz wieder einmal zeigen, wie hoch er alle überrage, wenn er auf seinen Geldsäcken stehe – das sei nun einmal seine Schwäche. … Ganz ihrer unabhängigen Art und Weise gemäß, hatte sie es unterlassen, den Verwandten anzuzeigen, dass sie Käthe telegraphisch berufen habe. Das sei doch völlig überflüssig, meinte sie mit großen, erstaunten Augen auf Käthes betroffenes Kopfschütteln hin; sie habe es stets betont, dass die Schwester eines Tages zurückkommen werde, um sie zu pflegen – man wisse das im Hause gar nicht anders, und was ein mögliches unvorbereitetes Zusammentreffen mit dem Kommerzienrat betreffe, so möge sie ganz ruhig sein, er habe jedenfalls »eine neue Flamme« in Berlin; er sei die beiden letzten Male – vorzüglich aber gestern – ziemlich zerstreut zurückgekehrt, und habe auf Floras Neckereien hin nur schlau gelächelt und durchaus nicht geleugnet.

Käthe schwieg auf alle diese Mitteilungen; sie hatte zuletzt nur den einen Gedanken, dass es allerdings die höchste Zeit für sie gewesen sei, zurückzukehren. Sie fand die Kranke maßlos aufgeregt; der hohle, erstickende Husten schüttelte den schattenhaft abgezehrten Körper viel häufiger als früher; die Hände brannten wie Kohlen, und der Atem ging so schwer, so mühsam aus und ein. Henriette hatte es bisher auch bei den heftigsten Leiden nie »zu Tränen kommen lassen« – sie hatte einen unglaublich starken Willen, heute aber waren ihre schönen Augen verweint bis zur Unkenntlichkeit. Sie verzehre sich in Angst, dass Bruck bei all seiner Liebe für Flora doch vielleicht sehr unglücklich werden würde, klagte sie, ihr Gesicht an Käthes Brust verbergend, und obgleich nie ein unvorsichtiges Wort darüber gefallen, sei sie dennoch fest überzeugt, dass die Tante genauso denke und sich gräme. … Käthe wies sie mit der schneidenden Antwort zurecht, dass das einzig und allein Brucks Sorge sei und bleiben müsse; niemand habe mehr Anlass gehabt, tiefe Einblicke in Floras selbstsüchtiges Wesen zu tun, als gerade er; wenn er trotz alledem darauf bestehe, sie zu besitzen, so werde er sich auch mit seinem Schicksal abzufinden wissen, möge es fallen, wie es wolle. … Henriette fuhr ganz erschrocken empor, so rau klang das Gesagte; es lag überhaupt etwas so bestürzend Fremdes, eine Art starrer Zurückhaltung und Abgeschlossenheit in der Erscheinung der jungen Schwester, als sei auch sie mit sich und ihrem Schicksal fertig – nach schweren Kämpfen. …