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Inhaltsverzeichnis





Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8







Kapitel 9







Kapitel 10







Kapitel 11







Kapitel 12







Kapitel 13







Kapitel 14







Kapitel 15







Kapitel 16







Kapitel 17







Kapitel 18







Kapitel 19







Kapitel 20







Kapitel 21







Weitere Kinder- und Jugendliteratur von Eva Markert






Kapitel 1



Sina Paulsen fand Freitage blöd. Freitags hatte sie morgens eine Doppelstunde Mathe und nachmittags Sport und kam erst gegen Viertel vor fünf nach Hause. Davon abgesehen war Sportunterricht in ihren Augen die reinste Zumutung. Man musste sich unheimlich anstrengen für nichts und wieder nichts, wie zum Beispiel heute beim Fußballspielen. Von dem hohen Verletzungsrisiko ganz zu schweigen!



Außerdem machte es wenig Spaß, Sport zu treiben, wenn man so wenig auf den Rippen hatte wie sie. „Man kann deine Knochen kilometerweit klappern hören“, flachsten ihre Klassenkameraden gern. Beliebt war auch die Feststellung: „Ich dachte, Gerippe wären besonders gelenkig“, wenn Sina wie ein nasser Sack an irgendeinem Turngerät hing. Zuerst hatte sie noch mitgelacht, doch auf die Dauer nervten solche Bemerkungen.



In dieser Sportstunde war ihnen was Neues eingefallen. Der Barren wurde hervorgeholt. Als Sina sagte: „Ich hasse den Barren. Ich habe immer Angst, auf den Arsch zu fallen“, rief jemand: „Du kannst gar nicht auf den Arsch fallen. Weil du nämlich keinen hast!“ Die meisten fanden das wohl witzig, dem Gegröle nach zu urteilen, das danach ausbrach. Sina musste ebenfalls grinsen, aber sie hatte schon mal mehr gelacht.



„Ach, lass sie quatschen“, meinte Thomas und legte tröstend den Arm um sie.



„Kein Problem“, erwiderte Sina und machte sich los.



Es störte sie tatsächlich nicht, wenn man sie ein bisschen foppte, zumal sie wusste, dass sie bei ihren Klassenkameraden gut angesehen war.



Als sie nach Hause kam, war sie dennoch heilfroh, dass sie nun alles hinter sich hatte: den Sportunterricht, den Tag, die ganze Schulwoche. Ihre Mutter rumorte bereits in der Küche. Sie schien bester Laune zu sein, rührte in einem Topf herum und summte dabei vor sich hin.



„Hi, Mama!“ Sina ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie bemerkte, dass ihre Mutter ein neues, ziemlich enges T-Shirt trug, das ihr sehr gut stand.



„Hallo, Sinchen! Wie war’s in der Schule?“



Diese Frage stellte sie oft. Zu oft. „Gut“, brummte Sina.



Das war allerdings stark übertrieben. Die Mathearbeit zum Beispiel hatte überhaupt nicht geklappt. Aber darüber hielt sie besser den Mund, wenn sie das Wochenende retten wollte.



Da fragte ihre Mutter schon weiter: „Und wie war die Mathearbeit?“



Es hatte keinen Zweck, sie würde es ja eh erfahren. Also Augen zu und durch. Sina räusperte sich. „Ich hoffe, ich kriege noch eine Vier.“



„Noch eine Vier?“, wiederholte ihre Mutter aufgebracht. „Das hoffe ich für dich mit. Eine Drei wäre mir wesentlich lieber.“



„Mama! Ich bin schlecht in Mathe, wie du weißt. Und die Witter verlangt viel zu viel. Das sagen alle.“



„Dass du Schwierigkeiten in Mathe hast, ist mir klar. Ob Frau Witter zu viel verlangt, kann ich nicht beurteilen. Aber keinesfalls darfst du dich darauf ausruhen. Du müsstest mehr tun, dann würde es bestimmt besser laufen in der Schule.“



Diese alte Leier schon wieder! Sina unterdrückte einen Seufzer. „Die Arbeit war zu schwer“, verteidigte sie sich. „Alle sagen, sie haben ein schlechtes Gefühl.“



„Was alle sagen, interessiert mich nicht“, gab ihre Mutter zurück. „Nur du interessierst mich, und du bist faul. Du solltest dich jeden Tag nur ein halbes Stündchen hinsetzen ...“



Sina schaltete ab, sie wusste ohnehin, was jetzt kam: von Anfang an am Ball bleiben, bei Schwierigkeiten gleich die Lehrerin fragen oder jemanden in der Klasse, der gut in Mathe war, weniger mit Jenny abhängen, blablabla. Ein Glück, dass nicht aufgefallen war, dass sie ihre Hausaufgaben für Deutsch vergessen hatte – das heißt, sie hatte sie gemacht, aber das Heft zu Hause liegen lassen. So etwas war schon häufiger passiert, und bestimmt hätte der Lehrer eine Benachrichtigung nach Hause geschickt. Das Theater stellte sie sich lieber gar nicht erst vor ...



Ihre Mutter hielt sich dran mit dem Thema Mathe. „... könnten versuchen, eine Mathenachhilfe zu besorgen“, hörte sie sie sagen.



Um Himmels willen! Das würde ihr gerade noch fehlen! Die drei Wochenstunden in der Schule waren mehr als genug! Nun wurde es höchste Zeit, das Gespräch auf etwas anderes zu bringen. „Lass uns die nächste Arbeit abwarten“, sagte sie und setzte hinzu: „Übrigens, Jenny hat die Witter gestern mit einem Mann gesehen!“



„Aha?“



„Stell dir vor: Hand in Hand!“ Sina kicherte.



„Na und? Frau Witter ist eine junge Frau. Und Lehrer sind auch Menschen. Sie verlieben sich wie jeder andere.“



Dass jemand sich in diese blöde Kuh verlieben konnte, war Sina unbegreiflich. Im Augenblick hielt sie es jedoch für klüger, solche Gedanken für sich zu behalten.



„Was ich dir schon länger erzählen wollte ...“ Frau Paulsen stockte. Neugierig schaute Sina sie an. Es sah fast aus, als wäre ihre Mutter ein wenig befangen.



„Ich habe da jemanden kennengelernt“, fuhr sie fort. „Einen sehr netten Mann ...“



Jetzt ging Sina ein Licht auf. „Ach, deshalb bist du in letzter Zeit oft spät nach Hause gekommen. Du warst mit ihm verabredet! Und ich dachte, du machst Überstunden!“



Ihre Mutter lachte verlegen und wandte ihr wieder den Rücken zu, um die Frikadellen in der Pfanne zu wenden. „Du kannst schon mal den Tisch decken“, sagte sie wie beiläufig.



„Kenne ich den?“, fragte Sina, während sie Teller aus dem Schrank holte.



„Nicht persönlich. Aber du hast sicher schon von ihm gehört. Er besitzt ein Malergeschäft hier am Ort, das er von seinem Vater übernommen hat. Der Betrieb existiert schon seit Jahrzehnten.“



„Ich weiß, wen du meinst“, fiel ihr Sina lebhaft ins Wort. „Der war neulich auch bei Jenny, als sie renoviert haben. Wagner heißt der, stimmt’s? Oder war es Wegener?“



„Wagner.“



Sina legte Besteck neben die Teller. „Und wie bist du an den gekommen?“, wollte sie wissen.



„Seine Firma hat die Renovierung unserer Büros übernommen. Er schaute zwischendurch öfter vorbei. Wir sind ins Gespräch gekommen, haben die Mittagspausen miteinander verbracht und uns nach der Arbeit getroffen.“



Sina fand die Geschichte dermaßen interessant, dass sie glatt darüber das Tischdecken vergaß. „Wie ist er denn?“, löcherte sie ihre Mutter weiter.



„Nett und lustig.“



„Und wie sieht er aus?“



„Sehr gut, finde ich. Er hat dunkle Haare, blaue Augen, ein sehr sympathisches Gesicht. Und er lächelt so lieb ...“ Sie schaute versonnen vor sich hin.



„Mama! Du bist ja richtig verknallt!“



Wie witzig, jetzt wurde ihre Mutter tatsächlich rot! Sie atmete tief durch, dann sagte sie: „Ich habe Jörg übrigens für morgen zum Abendessen eingeladen. Und danach gehen wir ins Kino. Er ist genau so ein Filmfan wie ich.“



Das wurde ja immer interessanter! „Okay“, sagte Sina. „Ich bin gespannt.“ Sie überlegte. Es war schon ein komisches Gefühl, dass ihre Mutter einen Freund hatte. Einerseits könnte man fragen: Warum nicht? Sie war nett und sah gut aus. Andererseits: in ihrem Alter? Sie war schon 39, fast 40! War das nicht viel zu alt für so was?



Nein, ihre Mutter, verliebt, das konnte sie sich nur schwer vorstellen. Hoffentlich war der Mann wirklich in Ordnung. Vorher konnte man das nie wissen ...



„Woran denkst du?“, fragte ihre Mutter.



„An diesen Gero. Weißt du noch?“



Michaela Paulsen schlug die Augen zum Himmel. „Erinnere mich bloß nicht an den!“

 



Als Sina noch in die Grundschule ging, war ihre Mutter mit Gero befreundet gewesen, einem Junggesellen. Bei dem wurde es richtig ernst. Zeitweilig war sogar von Hochzeit die Rede. Sina dachte mit Schrecken an diese Zeit zurück. Am Anfang war er ja ganz nett, sie unternahmen oft was zusammen am Wochenende. Aber dann gab es immer häufiger Streit. Er wollte alles bestimmen, hatte stets und ständig Recht und schien zutiefst getroffen, sollte es jemand wagen, anderer Meinung zu sein als er. Wenn er beleidigt war, tauchte er ab und blieb tagelang wie vom Erdboden verschluckt. Dann stand er plötzlich wieder vor der Tür, als wäre nichts gewesen. Bis ihre Mutter die Nase voll hatte und ihm den Laufpass gab.



Sina war damals sehr erleichtert. „Kein Wunder, dass der keine Frau gefunden hat“, dachte sie. „Der treibt ja jede in den Wahnsinn.“ Ihre Mutter zumindest war am Ende nur gestresst gewesen. Auch noch nach der Trennung. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder die Alte war.



„War Jörg schon mal verheiratet?“, erkundigte sie sich.



„Ja.“ Ihre Mutter lächelte. „Er ist in allem das genaue Gegenteil von Gero.“



Vor lauter Jörg und Gero merkte ihre Mutter erfreulicherweise nicht, dass sie kaum etwas aß. Diesmal lag es hauptsächlich an der aufregenden Neuigkeit, dass ihr der Appetit vergangen war.



Während Sina das Geschirr in die Spülmaschine räumte, wurde ihr klar, wie sehr sie sich freuen würde, wenn Jörg Wagner tatsächlich so nett wäre, wie ihre Mutter behauptete. Sie hatte sich schon immer einen Vater gewünscht. Sina kannte ihren eigenen nicht. Er verließ ihre Mutter, bevor sie geboren wurde. Wegen ihr. Weil er auf gar keinen Fall ein Kind haben wollte.



Sina guckte sich immer die Väter von anderen an. Jennys zum Beispiel war klasse. Um den beneidete sie ihre Freundin. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Er verteidigte sie immer vor ihrer Mutter und machte nie Theater, wenn Jenny mal nicht das tat, was man von ihr erwartete. Sie hatten eine gemeinsame Leidenschaft: das Marathonlaufen. Fast jedes Wochenende brachen sie gemeinsam auf.



„Du hast es gut“, sagte Sina mal, als Jenny ihr davon vorschwärmte. Sie meinte, weil die einen so lieben Vater hatte, aber ihre Freundin verstand sie falsch und dachte, ihr ginge es ums Marathonlaufen. „Komm nächstes Wochenende mit uns“, schlug sie vor. „Dann laufen wir nur die halbe Strecke. Mein Papa ist bestimmt einverstanden.“



„Du bist gut! Ich kann zwanzig Kilometer nicht mal gehen, geschweige denn laufen.“



„Du musst bloß trainieren.“



„Nee! Dazu habe ich keine Lust. Du weißt doch, dass ich Sport hasse!“



Jenny schüttelte den Kopf. „Du redest wie Mama. Die will auch nie mitkommen.“



„Meinst du, dein Jörg mag Jugendliche?“, erkundigte Sina sich bei ihrer Mutter.



Frau Paulsen lachte. „Klar! Sonst hätte ich ihn nicht eingeladen.“



„Woher weißt du denn, dass er sie mag? Hat er selbst Kinder?“



„Nein. Aber er hat gesagt, dass er gern welche hätte. Und dass er sich darauf freut, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.“



Natürlich musste Sina gleich nach dem Abendessen Jenny anrufen. „Stell dir vor, meine Mutter hat einen Lover“, platzte sie heraus.



„Ziemlich spannend“, fand ihre Freundin das und fügte hinzu: „Vielleicht wird das auch für dich ganz schön.“



„Das bleibt abzuwarten“, antwortete Sina. „Liebe Güte, hoffentlich gibt das am Ende kein Drama ...“




Kapitel 2



Sina musste heimlich lachen, als sie ihre Mutter bei den Vorbereitungen für das große Ereignis beobachtete.



Morgens verbrachte sie Stunden in der Küche, um Gulasch und einen Vanillesahnepudding mit Himbeersoße herzurichten. Sogar die Klöße und den Rotkohl bereitete sie frisch zu.



Am Nachmittag verschwand sie im Badezimmer. Irgendwann klopfte Sina an die Tür. „Denkst du, du kommst da heute noch mal raus?“



Ihre Mutter öffnete. Sie hielt einen Föhn in der Hand, und in ihren blonden Haaren steckten mehrere Rundbürsten. „Ich bin gleich fertig. Ich muss mich nur noch schminken.“



Sie hatte dieselben graugrünen Augen wie Sina. Und Lidschatten in haargenau dieser Farbe. Das sah toll aus, wenn sie den auftrug. Das Kästchen, Wimperntusche und andere Utensilien lagen schon auf der Ablage unter dem Spiegel bereit.



Sina trat ein. „Darf ich deinen Lidschatten benutzen?“



Die meisten Mädchen in ihrer Klasse schminkten sich schon lange, bloß ihre Mutter fand aus unverständlichen Gründen, sie wäre noch zu jung dafür. Erstaunlicherweise hatte sie jetzt nichts dagegen.



Und wo Sina schon mal dabei war, nahm sie gleich noch ein bisschen Wimperntusche. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Sie mochte ihre Augen. Und mit Make-up sahen sie noch besser aus.



„Was meinst du: Soll ich Jeans und ein weißes T-Shirt anziehen oder meinen blauen Rock mit der geblümten Bluse?“, fragte Frau Paulsen.



Sina überlegte. „Ich würde die Jeans mit der Bluse nehmen.“



„Gute Idee, das mache ich.“



Sina musste grinsen. „So weit ist es gekommen!“, dachte sie. „Ich als Modeberaterin meiner Mutter ...“



Nach dem Umziehen lief Frau Paulsen wieder in die Küche. Sie wirkte nun sehr aufgeregt. „Hoffentlich brennt nichts an“, sagte sie. „Hoffentlich werden die Klöße nicht matschig. Guck mal nach, ob auf dem Esstisch alles klar ist.“ Sina kicherte in sich hinein.



Pünktlich um sieben ging die Türklingel. In der Küche schepperte es ordentlich, als ihre Mutter hastig die Töpfe von den Herdplatten zog. Sina drückte auf und hörte jemanden die Treppe hinaufspringen.



Ihre Mutter stellte sich neben sie. „Gott, bin ich nervös!“, flüsterte sie.



Sina verstand das im selben Augenblick, als Jörg Wagner ihr gegenüberstand. Er sah einfach umwerfend aus! Schlank, athletisch gebaut, welliges, dunkles Haar, das ihm in die Stirn fiel. Und diese Augen! Frühlingshimmelblau! Die Nase schien etwas zu groß, aber sie passte in sein Gesicht.



Jörg wirkte völlig ungezwungen. Er lächelte Sina an, bevor er ihre Mutter begrüßte und ihr einen Blumenstrauß überreichte, der Sina ausnehmend gut gefiel, weil er hübsch bunt war.



Danach schüttelte Jörg ihr die Hand. Sein Händedruck war warm und fest. „Ihr beide habt dieselben schönen Augen“, stellte er fest, und Sina spürte, dass sie errötete.



„Geht schon mal durch. Das Essen ist gleich so weit.“



An der Stimme hörte Sina, dass die Mutter ihre innere Ruhe noch nicht zurückgewonnen hatte. Sie dagegen war völlig entspannt. In Jörg Wagners Gegenwart fühlte sie sich sofort wohl.



Er schnupperte. „Hier riecht’s gut. Was gibt es denn Schönes?“



„Gulasch, Rotkohl und Klöße“, antwortete Sina bereitwillig. „Und danach Vanillepudding mit Himbeeren.“



„Mm! Das gehört zu meinen Lieblingsgerichten!“



„Ich weiß“, rief Frau Paulsen aus der Küche. „Das hast du mir mal erzählt. Deshalb habe ich es ja gekocht.“



„Wie lieb von dir!“ Jörg wandte sich an Sina: „Und du hast geholfen?“



Sina schüttelte den Kopf und bedauerte plötzlich, dass sie das nicht getan hatte.



Sie setzten sich an den Tisch. Sina nahm sich einen Klecks Rotkohl.



Jörg warf einen Blick auf ihren Teller. „Magst du keinen Rotkohl?“, erkundigte er sich.



Sina zuckte die Achseln. „Mir ist eigentlich egal, was ich esse.“



„Nanu?“, wunderte er sich.



„Ich esse nur ungern“, fügte sie hinzu.



„Hast du Angst zuzunehmen?“



„Im Gegenteil. Ich wäre froh, wenn ich mehr wiegen würde. Aber ich mache mir nichts aus Essen. Und ich habe fast nie Hunger.“



„Wie schade! Da entgeht dir was.“



„Ein ewiges und leidiges Thema zwischen uns“, warf Frau Paulsen ein. „Ich finde, sie ist viel zu dünn.“



Jörg betrachtete Sina prüfend.



Der war dieses Gespräch äußerst peinlich. Ihre Mutter redete über sie, als wäre sie ein kleines Kind. Schlimmer noch: als wäre sie gar nicht anwesend! Was sollte Jörg von ihr denken! Wie eine Idiotin stand sie vor ihm da! Sie warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu. „Ich mag das ganze Zeug halt nicht besonders“, setzte sie unwirsch hinzu. „Das ist doch kein Grund, sich aufzuregen.“



„Na ja, so dünn bist du nun auch wieder nicht“, stellte Jörg fest. „Hauptsache, du fühlst dich wohl. Meinst du nicht, Michaela?“



Überraschenderweise stimmte ihre Mutter zu.



Sina strahlte Jörg an. In diesem Augenblick hatte er bei ihr gewonnen - auf der ganzen Linie!



Danach achtete niemand mehr darauf, wie viel oder wie wenig sie aß. Für ihre Verhältnisse war es eine Menge: ein halber Kloß und von dem anderen jeweils ein Löffel. Es schmeckte sogar halbwegs. Vielleicht, weil es Spaß machte, am Esstisch zu sitzen. Jörg konnte lustig erzählen. Zum Beispiel von seinem tollpatschigen Lehrling, der mit dem Hintern in einen Farbeimer fiel und mit seinem Hosenboden alles grün volltropfte. Oder von der alten Dame, die sich nicht entscheiden konnte, in welcher Farbe sie ihr Wohnzimmer gestrichen haben wollte, und mindestens dreimal am Tag anrief, weil sie ihre Meinung geändert hatte. Schließlich landete sie bei Dunkellila. Und dabei blieb sie. Keine Macht der Welt konnte sie davon abbringen. Sina schüttelte den Kopf. Dunkellila Wände – eine geradezu abartige Vorstellung!



„Holst du mal den Pudding, Apfelsinchen?“, bat ihre Mutter.



Jörg horchte auf. „Apfelsinchen“, wiederholte er, „das klingt nett, das gefällt mir.“



Beinahe hätte Sina gesagt: „Sie können mich ja so nennen, wenn Sie wollen.“ Im letzten Moment verkniff sie es sich. Das wäre nun doch verfrüht gewesen. Trotzdem hätte sie nichts dagegen. Fast kam es ihr vor, als würde sie ihn schon richtig gut kennen.



Ihre Mutter schaute auf die Uhr. „Wenn wir noch ins Kino wollen, müssen wir uns beeilen. Sina bringt die Küche schon in Ordnung.“



„Von mir aus können wir hierbleiben“, erwiderte Jörg. „Ich finde es richtig gemütlich bei euch. Außerdem regnet es. Lass uns ein anderes Mal ins Kino gehen.“



Frau Paulsen lächelte. „Einverstanden.“



Zu dritt machten sie sich ans Aufräumen. Die Mutter brachte das Geschirr in die Küche und Sina nahm die große Tischdecke ab. „Könnten Sie mir beim Falten helfen?“, bat sie.



Jörg fasste das Tischtuch am anderen Ende an. „Du kannst ruhig du zu mir sagen, wenn du willst.“



Und ob sie das wollte! Sie freute sich über das Angebot, obwohl es sie gleichzeitig ein wenig verlegen machte.



Als alles aufgeräumt war, ging Frau Paulsen mit Jörg ins Wohnzimmer. Wie selbstverständlich folgte Sina ihnen. Die beiden setzten sich auf die Couch und Jörg legte den Arm um ihre Mutter. Aus irgendeinem Grund störte Sina das und sie versuchte wegzusehen.



Sie sprachen über einen Film, den sie zufällig alle drei kannten. Er handelte von der Tochter einer Deutschen und eines Japaners. Die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Japan, danach zog die Familie nach Deutschland. Das Mädchen wusste nicht, wohin sie gehörte, konnte sich für keine der beiden Kulturen entscheiden. Erst am Ende begriff sie, dass sie beide Mentalitäten in sich vereinigte und dass es genau das war, was ihre unverwechselbare Persönlichkeit ausmachte.



Der Film gefiel Sina wirklich sehr gut. Im Nachhinein wunderte sie sich, dass sie nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte. Wahrscheinlich, weil sie automatisch annahm, dass die sich nicht für ihre Meinung interessierte. Jörg hingegen interessierte sich sehr dafür. Er stellte viele Fragen, hörte ihr aufmerksam zu und nahm sie richtig ernst. Man konnte wunderbar mit ihm diskutieren.



Sina erzählte, dass sie ein Mädchen mit einer deutschen Mutter und einem türkischen Vater kannte.



„Hat deine Mitschülerin ähnliche Probleme wie das Mädchen in dem Film?“, wollte Jörg wissen.



„Ich glaube nicht“, antwortete sie nach einigem Nachdenken. „Melissa fühlt sich wie eine Deutsche und sie lebt hier ganz normal. Sie fährt nur in den Ferien in die Türkei und möchte nach der Schule in Deutschland bleiben.“



„Wer weiß, was in ihrem Innern vorgeht“, gab Jörg zu bedenken. „Der Deutsch-Japanerin im Film hat man von außen auch nicht angesehen, wie sehr sie sich quälte. Möglicherweise hätte es ihr geholfen, wenn sie sich jemandem anvertraut und offen über ihre Probleme gesprochen hätte.“



„Meinst du, das hätte was geändert?“



„Bestimmt. Gefühle in sich hineinzufressen, ist das Verkehrteste, was man tun kann.“



Sina konnte sich nicht erinnern, jemals ein derartig anregendes Gespräch geführt zu haben. Sie wollte Jörg gerade fragen, ob sein Rat für alle Probleme galt, als die kalte Dusche kam. Ihre Mutter schaute auf die Uhr. „Die Spülmaschine müsste inzwischen durchgelaufen sein. Du könntest sie ausräumen, bevor du ins Bett gehst.“

 



Sina war natürlich klar: Ihre Mutter sagte das nur, weil sie allein sein wollte mit