Vom schönen Schein

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ES GEHT NOCH

Wenn du in der Früh aufwachst und es tut dir nichts weh und du denkst: Bin ich jetzt tot? Dann weißt du, dass du alt bist.

Genau so war es an diesem Novemberdienstag. Draußen Sonnenschein, als ob es Mai wäre, und ich erinnere mich noch, nach dem ersten Schock kam die Erleichterung: von mir aus alt, aber nicht tot, und danach die Erkenntnis, dass ich damit leben muss. Am Leben liegt mir noch immer eine Menge.

Es war auch keiner von uns Heimbewohnern, der diesen strahlenden Novembertag nicht mehr erlebt hat.

Ich habe wie immer im Saal gefrühstückt, allein an meinem Tisch. Ich hasse es, in der Früh sprechen zu müssen. Das war schon immer so. Wenn es möglich gewesen ist, bin ich frühen Dreharbeiten aus dem Weg gegangen. Das Essen ist gar nicht so übel, egal, was der griesgrämige Dr. Hubmann sagt. Auch an den anderen Tischen wird in der Früh wenig gesprochen. Ich habe da so eine Theorie: Die meisten von uns haben ihr Kontingent an Wörtern schon verbraucht. Klar gibt es Ausnahmen wie Frau Gerngross, sie hat auch an diesem Tag irgendetwas erzählt, von Hannes und der heiligen Betty und dass er will, dass sie ihr Geld auf die Bank tut, und wenn sie will, dann schreibt er mit, aber die Heilige und sie finden das nicht so gut, und von ihrem Onkel, der sein Vermögen einem Gnadenhof vermacht hat, obwohl der Sänger, der diese Gnadenhöfe betreibt, schon dreimal verheiratet war. Sie macht nie einen Punkt und keiner hört ihr zu. Dabei ist sie laut. Danach habe ich mich zur Gymnastikgruppe aufgemacht. Ich bin beweglich, immer noch. Sechsundneunzig und noch immer wie junges Mädchen, hat Dana erst vorgestern gesagt. Sie ist eine Schleimscheißerin, aber es nützt nichts, dass ich ihr das sage, sie versteht nur, was sie verstehen will. Jedenfalls bin ich noch recht gut beieinander, wie man so schön sagt. Und wenn das verdammte Knie ausgeheilt ist, ziehe ich wieder zurück in meine Wohnung. So viel ist klar.

Sie wollen uns hier agil halten. Wofür, habe ich vor einiger Zeit die Heimleiterin gefragt, fürs Sterben? Sie war peinlich berührt. Sie will auch nicht Heimleiterin genannt werden, und schon deswegen nenne ich sie so. Residenzdirektorin. Wie lächerlich. Genauso wie das, was im Prospekt steht: Je mehr Jahre der Mensch mit sich bringt, desto eigener wird er. Auf dem Weg in ein zweites oder drittes Zuhause steigen die Ansprüche und sind viel konkreter als in jungen Jahren. Für diese Lebenszeit bieten wir Ihnen ein absolutes Top-Niveau an Lebensstandard. Ich hab mich für dieses Heim entschieden, weil ein Zimmer frei war. Und weil mir der Satz mit dem „eigen“ gefallen hat. Irgendwas scheinen sie von uns doch zu begreifen. Jedenfalls gaukelt man uns vor, in einer Art von Hotel zu sein. So kann man mehr Geld aus uns rausschlagen. Heim klingt doch ohnehin nett, man könnte stattdessen Anstalt sagen und manchmal tue ich das auch. Jedenfalls habe ich hier nicht viel zu tun, also mache ich brav bei fast allem mit. So vergeht der Tag wenigstens etwas schneller. Wer behauptet, dass mit fortschreitendem Alter die Zeit immer mehr zu rasen scheint, der lebt nicht bei uns.

Ich war auf der Treppe zum Untergeschoss, als mir Anne und Dr. Hubmann entgegengekommen sind. Aufgeregt keuchend. Ich habe sie mit hochgezogener Augenbraue angesehen. Ein Blick, den ich mir antrainiert habe, als ich vor geraumer Zeit die englische Königin gespielt habe. Sogar mein Enkel Martin würde den Blick als cool durchgehen lassen. Der alte Hubmann freilich war ganz weiß vor Aufregung und Anne, die zwar um mehr als zehn Jahre jünger ist als ich, aber manchmal reichlich verwirrt, hat glühend rote Wangen gehabt.

„Da ist ein Toter“, hat sie gejapst und ich habe mir Sorgen gemacht, dass auch die beiden gleich über den Jordan gehen könnten.

„Weidmar-Klein?“, habe ich mit Queen-Blick zwei, starr geradeaus, die blassen Augen Richtung Unendlichkeit, gefragt. Weidmar-Klein geht es seit einigen Tagen nicht gut, ewig schade, er kann wirklich amüsante Geschichten aus seinem Leben als Hotelpage in der Zwischenkriegszeit erzählen. Später ist er bis zum Direktor aufgestiegen. Nur seine Tochter erkennt er manchmal nicht mehr. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie an seiner Stelle erkennen wollte.

Die beiden schütteln den Kopf. „Hannes“, krächzt Dr. Hubmann.

„Der Zivi?“

„Liegt in der Apotheke und ist tot.“

„Und sonst? Ist da sonst niemand?“

„Die Tür war offen, ich wollte etwas von diesen Vitamindingern“, erklärt Anne.

„Da war niemand. Bis auf …“, ergänzt Dr. Hubmann und flattert mit den Armen.

„Habt ihr es schon jemandem gesagt?“

Die beiden schütteln schon wieder gleichzeitig den Kopf. So als ob sie beim Fernsehballett von vorvorgestern wären. Ich atme durch. Bei mir war die Neugier schon oft stärker als die Vernunft, ein gutes Gefühl, wie eine lang vermisste Meeresbrise.

Zu dritt starren wir auf Hannes, unseren Zivildiener. Er liegt auf dem weiß gekachelten Boden, als wäre er eingeschlafen. Nur die Augen sind offen und gerade das fühlt sich für solche, die dem Tod statistisch schon näher sind als der Durchschnitt, nicht so erfreulich an. Gedankenfetzen flattern durch mein Hirn, ich kann sie nicht einfangen und denke mir, jetzt weiß ich endlich, wie es Anne geht. Oder werde ich etwa selbst senil? Der erste Fetzen, den ich fange, ist: schon wieder wen überlebt. Der zweite: ja keine Spuren verwischen. Aber dann beuge ich mich vorsichtig über den Toten. Er trägt Jeans und ein schwarzes Sweatshirt und er sieht so jung aus. Ich habe ihn gemocht. Er war lustig, lange nicht so betulich wie zum Beispiel Schwester Irene. „Waren wir heute schon am Klo, Frau Prager?“ Meine Güte, wie ich das hasse. Wenn es das Letzte ist, über das ich bestimme: Meine Verdauung gehört mir. Und es ist Schwester Irene, die aussieht, als wäre sie eine ganze Woche nicht am Klo gewesen.

Ich greife Hannes vorsichtig an den Hals, vielleicht schlägt sein Herz ja noch und wir alte Idioten denken zu viel an den Tod, aber der Hals ist kalt. Völlig unsinnig, nach seinem Puls zu tasten. Ich tue es trotzdem. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Der da ist früher dahingegangen.

„Man muss die Direktion verständigen“, murmelt Dr. Hubmann. Er hat eine ganze Menge von seiner üblichen Wichtigtuerei eingebüßt.

Ich sehe mich im Raum um: Einige Laden stehen offen, so, als hätte jemand etwas gesucht. Hinter dem Pult, nicht weit von der linken Hand von Hannes, liegt eine Spritze. Ich kenne mich nicht aus mit Drogen, aber ich habe in unzähligen Kriminalfilmen mitgespielt, also schiebe ich den linken Ärmel seines Sweatshirts hoch. Einstiche. Gleich mehrere.

Schritte. Stimmen.

Ein Versteck. Ich brauche ein … aber wie verstecke ich die beiden neben mir? Anne spielt starres Kaninchen, oder sind das Hühner, die sich in Panik plötzlich nicht mehr bewegen und sich fangen lassen? Dr. Hubmann stemmt die Arme in die Seiten. Im wirklichen Leben war er Anwalt.

„Was …“, fängt Zehetner an, als er uns sieht. Er ist unter anderem für die Apotheke zuständig. Er bricht ab, starrt Hannes an, dann uns. Als hätten wir ihn umgebracht.

„Dort drüben liegt eine Spritze“, sage ich.

Beim Mittagessen reden alle, die noch bis zwei zählen können – man will hier jeden fördern, aber niemanden überfordern –, von nichts anderem. Hannes war also ein Junkie und hat sich den goldenen Schuss gesetzt. Das ist auch die inoffizielle Meinung der Direktion. Ein Polizeibeamter befragt Anne und Dr. Hubmann und mich. Bei Anne haben sie Pech, offenbar hat sie der Schock etwas mehr als üblich verwirrt, sie schwafelt von einem großen Geburtstagsfest, für das sie noch Torten backen müsse, mit Orangenscheiben obenauf, wegen der Vitamine. Dr. Hubmann ist unwirscher denn je, er bellt bloß, dass er niemand gesehen habe, und basta. Und wer ihm etwas unterstelle, den würde er verklagen. Ich mime die späte Unschuld vom Land und hauche: „Ist er wirklich an einer Überdosis gestorben?“ Offenbar verfängt mein Charme bei diesem Typ nicht. Er sieht überhaupt nicht aus, wie man sich einen Polizeibeamten vorstellt. Er ist klein und übergewichtig und trägt eine blaue Strickjacke mit engen Bündchen. Unmöglich.

„Die Ermittlungen sind noch im Gange“, antwortet er. So eine öde Textzeile würde jeder gute Schauspieler verweigern. Ich werde unsicher. Träume ich das Ganze nur? Spiele ich in einem Film? Die letzte Rolle? Quatsch. Nächste Woche habe ich einen Gastauftritt im Werbefernsehen. Inzwischen ist das besser bezahlt als vieles in der Branche. Und wenn jemand wirklich glaubt, dass viel Zucker und einige Mineralstoffe den Alterungsprozess aufhalten können, dann ist er selbst schuld.

Man müsste mit allen aus dem Heim reden, überlege ich. Aber es gibt mehr als fünfzig Insassen und nicht alle sind, freundlich ausgedrückt, in Top-Verfassung. Weidmar-Klein scheint es allerdings wieder besser zu gehen. Er tappt uns mit seinem Rollator entgegen. „So ein Unglück“, ruft er mir zu, „so ein netter Kerl.“

Ich nicke.

Weidmar-Klein stoppt und setzt sich auf dieses Ding, mit dem ich nie näher zu tun haben möchte. „Wissen Sie, zuerst habe ich ihn nicht leiden können. ‚Na, du alter Scheißer‘, hat er gesagt, bevor er mir … nun ja, einen gewissen Toilettendienst erwiesen hat. Aber er hat es nie böse oder demütigend gesagt, und bald habe ich mir gedacht, ist ja wahr, ich bin ein alter Scheißer, besser, der Tatsache ins Auge zu sehen und darüber zu lachen. Wenn ich da an Frau Elvira denke und ihr ‚Haben wir uns vielleicht schon wieder vollgegackt?‘ Da möchtest du das tun, was sie ohnehin alle von dir erwarten. Sterben.“

„Vielleicht braucht Frau Elvira auch Windeln“, sage ich trocken. Weidmar-Klein und ich sind uns meistens einig. Auch wenn er vier Jahre jünger ist als ich. Irgendwann beginnen gewisse Altersunterschiede nicht mehr so wichtig zu sein. Wenn ich mir vorstelle: mit siebzehn einen dreizehnjährigen Freund? Unmöglich. Ich hatte damals einen, der schon Mitte zwanzig war. Es war Krieg und er war der Sohn irgendwelcher Leute, die beim Regime gut angeschrieben waren. Er werde mir den Weg zur Bühne ebnen, hat er versprochen. Vielleicht hätte ich mich doch besser an einen Dreizehnjährigen gehalten. Aber was bringt es, im Nachhinein klüger zu sein? Besser leben als mit dem optimalen Durchblick sterben.

 

Am nächsten Tag hält die Frau Residenzdirektorin beim Frühstück eine Rede. Sie sieht wie meist erschreckend blass aus, aber vielleicht hält sie das auch für vornehm. Elitäres Getue liegt ihr nun einmal. Fairerweise muss man sagen, dass sie es nicht so einfach hat mit uns alten Deppen und dem Personal und den Eigentümern unserer Anstalt, die schon seit längerem überlegen, an einen „Gesamtanbieter in Einrichtungen für das Gesundheitswesen“ zu verkaufen. Den Satz habe ich auswendig gelernt. Ein mieser internationaler Konzern, der Alte, Kranke und Erholungsbedürftige in maximalen Gewinn pro Stück umrechnet. Andererseits. So ist jeder von uns noch zu etwas gut. Jedenfalls hat die bleiche Residenzdirektorin jetzt auch noch einen toten Zivi am Hals.

Wir hätten ein Recht darauf, informiert zu werden, sagt sie. Wenn sie betont langsam und laut spricht, regt mich das immer noch auf. Was bin ich, eine Idiotin? Andererseits weiß ich inzwischen, dass es welche gibt, die ihr nur so folgen können. Andere nicht einmal dann. „Wovon spricht sie?“, murmelt Anne.

„Von Hannes. Du hast ihn gefunden.“

„Wirklich?“

Du liebe Güte. Die Todesursache sei klar, redet unsere Heimleiterin weiter, man habe eine Überdosis an Betäubungsmitteln im Blut festgestellt. Beim Wort Üüüüberdosis wird ihr Mund ganz spitz, so als ob sie sich überwinden müsse, so etwas überhaupt auszusprechen. Auch im Zimmer von Hannes habe man diverse Betäubungsmittel gefunden, es liege der Verdacht nahe, dass er sie im Laufe der Zeit aus der Apotheke oder, schlimmer noch, direkt von „unseren lieben Residenzbewohnerinnen und -bewohnern“ entwendet habe.

Ich sehe Weidmar-Klein an. Er schüttelt den Kopf. Das ist zu einfach. Und mir fällt ein, was ich dem Polizeibeamten zu sagen vergessen habe.

„Er hat einige Einstiche gehabt, aber alle waren frisch. Ich habe keine alten gesehen“, melde ich mit bester Bühnenstimme. Von tief unten muss man Luft holen, sprechen, nicht rufen, voll muss die Stimme aus ihrem Sitz kommen, nicht gepresst oder gar gequakt.

Die Residenzdirektorin fummelt an ihrer Perlenkette herum, lächelt eine Spur zu milde. „Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden: Unser Zivildiener war offenbar drogensüchtig. Oder er hat sich gleich zu Beginn einen tödlichen Cocktail gespritzt.“

„Und sich dafür ein paar Mal gestochen? Hannes war Rettungssanitäter. Er wollte Medizin studieren.“

„Das bedeutet keinerlei Misstrauen gegenüber Zivildienern schlechthin, aber dieser …“ Ich sollte ihr ein Stimmtraining anbieten, sie quietscht schon fast, so hoch ist das „aber dieser“.

„Ich … ich wünsche Ihnen allen noch einen guten Tag“, fährt sie in gemäßigterer Tonlage fort, „den … den Umständen entsprechend.“

Die nächste halbe Stunde kümmert sich unsere Residenzdirektorin in intensiven Vier-Augen-Gesprächen um die besonders aufgewühlten Heiminsassen. Immer wieder tätschelt ihre Hand Unterarme, manchmal sogar Wangen, sie beugt sich vor, sie flüstert, sie versucht sich in verhalten lächelnder Zuversicht. Ich nehme mir noch einen Kaffee und setze mich zu Weidmar-Klein. „Wie geht es Ihnen?“, frage ich.

„Er war kein Drogensüchtiger“, lautet die Antwort. „Wie soll es einem mit dreiundneunzig schon gehen? Mein Kreislauf ist wieder stabil, sagt der Arzt.“

„Sie sind zweiundneunzig, machen Sie sich nicht dauernd älter.“

„Ich bin im dreiundneunzigsten Jahr. Wenn ich sterbe, wird auf meinem Partezettel ‚im dreiundneunzigsten‘ stehen.“

Frau Gerngross steuert uns an. Schon im Näherkommen hat sie einen ihrer Sprechdurchfälle. „Gleich habe ich mir gedacht, dass mit dem etwas nicht stimmt“, schnattert sie drauflos, „allein diese langen Haare und dieser Unernst gegenüber der älteren Generation, Zivildiener, ich sage Ihnen das, die sind alle nichts Gutes, mein Gatte, Gott hab’ ihn selig, war beim Militär und der hat immer gesagt, jemand, der unsere Heimat nicht verteidigen will, gehört sofort ausgewiesen – oder hat er erschossen gesagt? Egal, jedenfalls hat mich auch Frau Betty vor ihm gewarnt, ich solle bloß nicht auf ihn hören, meine Ersparnisse sind im Zimmer sehr gut aufgehoben und … den würde ich nie auf was aufpassen lassen, und Buchhalter ist er auch keiner.“

Ich sehe Weidmar-Klein an, er nickt. Ich stütze mich auf seinen Rollator, stehe auf, ärgere mich über mein bockiges rechtes Knie, helfe ihm auf die Beine. Zum Glück ist er ein zierliches Männchen. Wir verziehen uns. Man muss nachdenken.

„He, Frau Prager“, ruft es, als wir bei der Tür sind. Fräulein Marie ist blind. Sie erkennt uns an einer Mischung aus Geruch und Gang, behauptet sie. Wenn sie nicht gerade depressiv ist, kann man sich gut mit ihr unterhalten. Sie hat Sinn für Humor. Und davon kann man hier nie genug haben.

„Glauben Sie wirklich, dass unser Hannes ermordet worden ist?“, will sie wissen.

Eine halbe Stunde später sitzen wir zu viert in der Besucherecke im ersten Stock. Von hier aus hat man alle im Blick, die näher kommen. Abgesehen von Fräulein Marie. Aber die riecht und hört sie. Ich habe meinen Malkurs geschwänzt und Weidmar-Klein hat auf seinen Arzttermin vergessen. Es gibt Wichtigeres. Wir glauben nicht an einfache Lösungen. Weil erstens lehrt uns die Erfahrung, dass gerade angeblich Einfaches kompliziert ist. Und zweitens haben wir das Gefühl, Hannes noch etwas schuldig zu sein. Ich kenne eine recht brauchbare Journalistin. Mira Valensky. An sich sollte sie an meiner Biografie arbeiten. Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Ein guter Titel, finde ich. Aber sie verbringt mehr Zeit damit, obskure Machenschaften aufzudecken. Als ob das wirklich Böse besiegt werden könnte. Ich sollte sie anrufen, weil eines weiß ich: Einfache Lösungen sind ihr suspekt. Hannes war kein Junkie. Es passt nicht. Und längere Haare hatte mein Enkelsohn auch, sogar, als er schon Professor an der Columbia University war.

„Man muss sich sein Zimmer ansehen“, schlägt Fräulein Marie vor.

„Ausgerechnet Sie“, erwidert Dr. Hubmann wenig charmant. Auch er glaubt der offiziellen Version nicht. Vielleicht bloß, weil er an gar nichts glaubt, aber wir können jede Unterstützung brauchen. Er ist noch recht fit, abgeschoben vom eigenen Sohn, der seine Villa und seine Anwaltskanzlei wollte.

„Man könnte den Schlüssel klauen“, überlege ich.

„Meine Liebe, das brauchen wir nicht“, erwidert Weidmar-Klein. „Wozu habe ich über fünfzig Jahre im Hotel gearbeitet? Ich kann Türen öffnen. Wenn ich Ihnen erzähle, wie wir diese betrunkene Tänzerin im Jahr 1935 …“

„Da waren Sie acht“, werfe ich ein.

„Ich weiß nicht, warum Sie es immer so mit Zahlen haben. Warum sind Sie nicht Buchhalterin geworden?“

„Weil ich keine spielen wollte.“ Buchhalterin … da fällt mir etwas ein. „Frau Gerngross hat davon gelabert, dass Hannes kein Buchhalter war.“

„Neuigkeit. Er war auch kein Löwenbändiger.“

„Briefträger“, steuert Dr. Hubmann bei.

Fräulein Marie seufzt. „Also, Herr Weidmar-Klein. Wie war das mit dem Türenöffnen?“

„Ich brauche bloß eine schmale stabile Karte. Zum Glück gibt es jetzt diese Sozialversicherungskarten. Keine Ahnung, was die da alles darauf speichern können, aber zum Türenöffnen funktionieren sie.“

„Ich rieche mehr, als Sie alle zusammen sehen“, sagt Fräulein Marie, „ich will dabei sein.“

„Unsinnige Idee“, knurrt Dr. Hubmann, „aber die Polizei ist eine faule Bande. Da könnte ich Geschichten erzählen, von Prozessen …“

„Aus der Kaiserzeit?“, ätze ich.

„Sie meinen, als Sie Theater gespielt haben? Aber das tun Sie ja noch immer, gewissermaßen.“

Ich strafe Dr. Hubmann mit einem nahezu tödlichen Blick. Wir haben geklärt, dass das Zimmer von Hannes nicht versiegelt ist. Offenbar kümmern sich die Behörden nicht besonders um einen Zivildiener, der an einer Überdosis gestorben ist. Hannes hat im obersten Stockwerk gewohnt. Sein Zimmer in der Nacht zu durchsuchen entspräche zwar den gängigen Fernsehdrehbüchern, ist aber unsinnig. Dann ist es leise im Haus und die Nachtassistenz, von uns Blockwart genannt, hört jedes Geräusch, sieht jeden Lichtschein. Ich weiß schon, dass sich einige beruhigt fühlen, wenn jemand auch in der Nacht unterwegs ist. Aber wenn du lautlos verröchelst, hilft dir das gar nicht. Ich will nicht kontrolliert werden, wenn ich in der Nacht ins Zimmer meines Lovers husche. Na gut. Momentan gibt es keinen passenden. Aber es könnte ja einer kommen. Auch George Clooney wird älter.

Wir werden uns gegen Ende der Abendessenszeit hinaufbegeben. Gemessen, wie es sich für unser Alter gebührt. Da sind die meisten in Bewegung, da fällt nichts auf.

Ich fürchte, mein Blutdruck ist schon jetzt um einiges zu hoch, obwohl ich meine Mittel nehme. In so einer Umgebung wird ja alles kontrolliert. Oder zumindest versuchen sie es. In unserem Interesse, natürlich. Auch wenn der frühe Tod durch Ignoranz bei mir kein Thema mehr ist. Ab und zu rauscht es eben ein wenig im Kopf, aber das wäre auch bei Jüngeren so, die das Zimmer eines Toten durchsuchen wollen.

Zuvor, am Nachmittag, müssen wir freilich noch den Angriff der heiligen Betty über uns ergehen lassen. Sie kommt von irgendeiner Kirche, vermute ich, vielleicht ist sie aber auch in eigener Mission unterwegs. Sie sieht es als ihre Pflicht an, uns zu besuchen und aufzurichten. Vielleicht ist das ganz nett für solche, die alleinstehen und nicht besonders wählerisch sind. Es gibt bei uns gar nicht so wenige, auf die beides zutrifft. Aber schon Bettys säuselnder Tonfall macht mir Gänsehaut. Leider kommt der Ton meiner Tochter dem ihren manchmal ziemlich nahe. Ich denke an die Nacht, in der ich nach einem fröhlichen Abend mit Weidmar-Klein gestürzt und auf der Krankenstation gelandet bin. So ein weinerlicher Singsang, der mich an schallgedämpfte Klageweiber erinnert, es sei nicht erlaubt, Alkohol in die Residenz zu schmuggeln, jetzt werde ich ja hoffentlich begreifen, warum, und so weiter und so weiter. Dabei bin ich deutlich mehr am Leben als sie. Wer sagt, dass man seine Kinder lieben muss, wenn sie älter werden? Meinen Enkel, den liebe ich.

Fräulein Marie wird von der heiligen Betty besonders gerne heimgesucht. Als Blinde kann sie nicht so leicht davonrennen und außerdem: Sie hat tatsächlich keinen einzigen Verwandten. Trotzdem hat Dr. Hubmann festgestellt, dass die heilige Betty, „nennen Sie mich einfach Frau Betty“, säuselt sie, am längsten bei denen von uns bleibt, die etwas zu vererben haben. Ob sie tatsächlich schon einmal etwas geerbt hat, weiß ich nicht, jedenfalls gibt es auch unter den Alten gutgläubige Idioten. Dr. Hubmann hat sie erst ausgelassen, nachdem er ihr klipp und klar gesagt hat, dass sich sein Sohn bereits das ganze Vermögen unter den Nagel gerissen hat. Und bei mir gibt es nicht wirklich was zu erben. Finde eine österreichische Schauspielerin, die gerne lebt und reich geworden ist.

Erstaunlicherweise klopft die heilige Betty an diesem Nachmittag trotzdem an meine Tür. Ich habe mich zurückgezogen, um endlich meinen Håkan-Nesser-Krimi fertig zu lesen. Trotzdem, so spannend er ist, ich muss eingenickt sein.

Ich versuche sie abzuwimmeln. Es gehe mir gut, ich würde regelmäßig besucht, ich bräuchte nichts außer meiner Ruhe.

„Und wie haben Sie die schreckliche Entdeckung verkraftet?“, säuselt sie unbeeindruckt weiter.

„In meinem Alter nimmt einen der Tod nicht mehr so mit“, sage ich so trocken wie möglich.

„Sie glauben nicht, dass der arme Hannes den Drogentod gestorben ist, habe ich gehört?“

Ich überlege: Könnte sie eine potenzielle Verbündete sein? Selbst wenn: Sie geht mir auf die Nerven, ich will mit ihr nichts zu tun haben.

„Was weiß man schon.“

„Ich fürchte …“, sie macht eine Kunstpause, „er war doch drogensüchtig. Ich wollte nicht, dass er Schwierigkeiten bekommt, aber ich habe gesehen, wie er aus der Apotheke Beruhigungsmittel mitgehen lassen hat.“

„Das wird doch überwacht.“

„Nicht, wenn man ein bisschen mehr nimmt, als die lieben Schützlinge brauchen.“

Da war etwas, das Frau Gerngross über die heilige Betty und über Hannes gesagt hat. Aber wer hört ihr schon zu? Ich muss diese Landplage schnell loswerden, ich muss mich auf die Zimmerdurchsuchung vorbereiten. Ich habe einen Fotoapparat. Ich weiß nicht, wie wir die Sache anlegen, und sie kommt mir auch etwas kindisch vor, so wie eine Szene aus den Mädchenbüchern, die meine Tochter gerne gelesen hat, vor sechzig Jahren oder so. Hanni und Nanni für Alte. Andererseits: Wann gibt es hier schon einmal etwas zu erleben? Und: Wovor sollte sich eine von uns noch fürchten?

 

Es läuft wie am Schnürchen. Gegen Ende des Abendessens – Dr. Hubmann nennt den Grenadiermarsch „Abfall der vergangenen Woche“, aber er hätte ja auch etwas anderes wählen können, ich hab wie meistens den Fisch genommen, schließlich habe ich noch etwas vor – stehen wir der Reihe nach auf. Fräulein Marie schafft es allein in den Gang, sie wartet beim Getränkeautomaten. Ohne zu reden greife ich nach ihrem Arm und wir sind im Lift. Fünfter Stock. Ich sehe mich um. Hier sind nur Büroräume, Bereitschaftszimmer und einige Zimmer für das Personal, das im Haus wohnt. Alles wie ausgestorben. Weidmar-Klein sollte bereits in der Toilette warten, Dr. Hubmann wird die Treppe nehmen und in einigen Minuten bei uns sein. Ich klopfe leise ans Herrenklo. Windel oder nicht, der ehemalige Hoteldirektor schießt geradezu mit seinem Rollator aus der Tür. Er tappt so schnell vorwärts, dass wir ihm kaum folgen können. Ich höre den Lift. Fräulein Marie und ich stellen uns ans Fenster, wenn uns jemand fragt, was wir hier zu suchen haben, dann machen wir auf verwirrt. Es ist Dr. Hubmann. Der wollte doch zu Fuß kommen. Im dritten Stock habe er entschieden, dass es klüger sei, den Aufzug zu nehmen. Damit ihn sonst niemand benutzen kann. Sicher doch. Ausnahmsweise verkneife ich mir eine spöttische Bemerkung. Weidmar-Klein zückt seine E-Card und bevor ich noch zuschauen kann, ist die Tür offen. Er muss mir das beibringen, man weiß ja nie. Wir schlüpfen ins Zimmer. Es ist halb so groß wie meines, also winzig. Ein Bücherregal, ein zweitüriger Kasten, darauf Lautsprecher, der gleiche kleine Holztisch mit zwei Sesseln wie bei mir, Standard. Anders als die meisten hab ich nicht vor, meine private Einrichtung ins Heim zu schleppen. Ich bleibe nicht lange. Laptop auf dem Tisch, schmales Bett, Bettdecke mit lila Giraffen. Es ist diese blöde Decke, die meine Augen feucht werden lässt. Ich kann nichts dagegen tun. Man wird sentimental im Alter, das ist offenbar ähnlich unvermeidlich wie andere Abnützungserscheinungen. Aber man muss es nicht zugeben.

Fräulein Marie stellen wir in der Mitte des Raums ab, damit sie nirgends anrennt. Ich blinzle und mustere angestrengt das Bücherregal. Viele medizinische Fachbücher, Anna Karenina, Es muss nicht immer Kaviar sein, Haus ohne Hüter, Willkommen in Wellville, einiges von Agatha Christie, wirkt, als wären die Romane schon vor ihm da gewesen, auch das Textbuch zu Pension Schöller ist darunter. Vielleicht wollte er sich vorbereiten, bevor er hier seinen Dienst angetreten hat. Man könnte das Stück aktualisieren, in einem Altersheim spielen lassen und …

„Kennen Sie sich mit dem Laptop aus?“, fragt Weidmar-Klein und starrt auf das Ding auf dem Tisch, als würde es jeden Moment explodieren.

„Ganz gut“, antworte ich.

„Es könnten Informationen darauf sein. Verschlüsselt.“

„Dann hätte ihn die Polizei mitgenommen.“

„Aber wenn die Informationen gut verschlüsselt sind …“

Ich kann gerade mal so ins Internet und über Skype mit meinem Enkel kommunizieren, zu mehr reicht es nicht. „Fran. Der Sohn der Freundin meiner Biografin Mira Valensky. Er hat eine Computerfirma.“

„Klingt kompliziert. Wir nehmen das Ding jedenfalls mit“, sagt Weidmar-Klein. „Sie haben keine Ahnung, was aus Hotelzimmern alles gestohlen …“

„Psst!“, zischt Fräulein Marie und lauscht.

„Was?“, flüstere ich.

„Nichts. Ich höre nichts. Aber ich kann auch nichts hören, wenn ihr so laut redet.“

„Wir flüstern“, brummt Weidmar-Klein. „Der Doktor wird sich wohl auskennen mit so einem Ding.“

„Ich hatte zwei Sekretärinnen“, erwidert Dr. Hubmann etwas von oben herab.

Da sehen wir wieder einmal, wie weit die Technikkompetenz von Männern reicht. Ich drücke eine Kurzwahltaste am Telefon.

„Mira, ich brauche Fran. Sofort. Wir haben da einen Laptop …“

„Warum flüsterst du? Worauf hast du dich wieder eingelassen?“

„Eingelassen … wie das klingt. Wir müssen etwas nachsehen. Könnte verschlüsselt sein.“

„Wann machen wir weiter mit der Biografie?“

„Ich arbeite gerade daran.“

Kurzes Schweigen in der Leitung. „Ohne mich?“

„Was willst du schreiben, wenn ich nichts erlebe?“

„Was tust du?“

„Etwas, was du schon oft genug getan hast. Wir durchsuchen ein Zimmer. Und auf dem Computer könnten wichtige Hinweise sein.“

„Nehmt ihn mit. Das würde auch Fran sagen. Soll ich kommen?“

„Ich brauch kein Kindermädchen.“

„Du willst nur nicht, dass die Biografie fertig wird. Weil du Angst hast, dass du dann …“

„Ausgelebt hast? Dass du dich da nicht täuschst.“

Dr. Hubmann stößt mich an und hält den Zeigefinger vor seine Lippen.

„Ich melde mich später“, murmle ich und stecke das Telefon in die Jackentasche. Da drin ist noch eine Tasche. Eine faltbare. So ein Bio-Öko-Teil, damit man keine Plastiksäcke braucht, wenn man spontan etwas kauft. Der Laptop geht rein. Es lebe der Umweltschutz.

Wir schnüffeln zugegebenermaßen ziemlich ziellos herum, stellen fest, dass Hannes nicht besonders viele Sachen hatte, die paar Hosen und Hemden und Jacken hängen durcheinander, aber vielleicht hat sich die Spurensicherung nicht bemüht, alles wieder in Ordnung zu bringen. Die gefundenen Beruhigungsmittel sind natürlich als Beweismittel bei der Polizei. Wo hat man sie gefunden? Im Badezimmer? Wobei. Das Wort ist eine Übertreibung, ich würde den Nebenraum eher Duschklo nennen. Ein Abstellraum ist ein Tanzsaal dagegen.

„Wo waren die Drogen?“, frage ich.

„Wahrscheinlich im Klo, oder im Spülkasten, das machen Dealer so“, antwortet Dr. Hubmann.

„Ja, und der Polizei ist das noch nie aufgefallen“, höhne ich.

„Warum? Sie haben sie ja gefunden.“

„Seid doch endlich ruhig“, flüstert Fräulein Marie, „ich muss mich konzentrieren. Da ist ein Geruch, den ich kenne.“

„Der von Hannes“, murmelt Weidmar-Klein.

„Eben nicht.“

„Dann der von der Spurensicherung.“

„Nein, es ist einer, den ich kenne.“

Wir bleiben stehen und halten den Mund. Fräulein Marie hat die Nase wie ein Spürhund in die Luft gereckt. Sie sieht ziemlich seltsam aus. Dann dreht sie sich langsam um sich selbst. „Ich weiß nicht“, klagt sie, „ich komme nicht darauf.“

Als ich jung war, gab es ein Spiel, bei dem wir blind Gerüche erkennen mussten. Das war ganz schön schwierig, sogar Zimt und Pfeffer habe ich verwechselt. Eine Skihütte, wir haben es auf einer Skihütte gespielt, damals habe ich meinen Mann kennengelernt. Er hat wunderbar gerochen. Nach Leder und Rotwein und ein klein wenig nach etwas Süßlichem und ein bisschen mehr nach etwas Herbem. Ich weiß nicht, ob ich den Geruch noch erkennen würde, nicht einmal die exakte Erinnerung ist geblieben, nur das Gefühl, wie es war, ihn zu riechen.

Fräulein Marie schnüffelt und schüttelt den Kopf und schnüffelt und ich versuche nachzudenken. Im Zimmer von Hannes wurden verschiedene Betäubungsmittel gefunden, die offenbar aus der Heimapotheke stammen. Was wissen wir schon über ihn? Außer, dass er gut mit uns alten Krachern konnte, sogar mit so griesgrämigen wie Dr. Hubmann. Die Sache mit dem Medizinstudium, er hat die Aufnahmsprüfung nicht geschafft, das hat er einmal erzählt. Aber macht man sich deswegen mit Drogen nieder? Dass ich ihn nie nach seiner Familie gefragt habe. Er hat sich für uns interessiert – aber wir uns auch für ihn? Aus Wien war er wohl nicht, eher aus Salzburg, oder vielleicht aus Oberösterreich. Diese regionalen Färbungen oder gar Mundarten, die gibt’s bei den Jungen kaum mehr. Zu viel deutsches Einheitsfernsehen. Wobei: Fernseher hatte er gar keinen. Aber das geht auch über den Computer.