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Der Wanderer zwischen den Welten

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Der Wanderer zwischen den Welten
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Der Wanderer zwischen beiden Welten

»Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet.«

Gneisenau

Dem Gedächtnis meines lieben Freundes
Ernst Wurche
Kriegsfreiwillig im 3. Niederschlesischen Inf. – Rgt. 50
Leutnant d. R. im 3. Unterelsässischen Inf. – Rgt. 138

Eine stürmische Vorfrühlingsnacht ging durch die kriegswunden Laubwälder Welsch-Lothringens, wo monatelanger Eisenhagel jeden Stamm gezeichnet und zerschroten hatte. Ich lag als Kriegsfreiwilliger wie hundert Nächte zuvor auf der granatenzerpflügten Waldblöße als Horchposten und sah mit windheißen Augen in das flackernde Helldunkel der Sturmnacht, durch die ruhlose Scheinwerfer über deutsche und französische Schützengräben wanderten. Der Braus des Nachtsturms schwoll anbrandend über mich hin. Fremde Stimmen füllten die zuckende Luft. Über Helmspitze und Gewehrlauf hin sang und pfiff es schneidend, schrill und klagend, und hoch über den feindlichen Heerhaufen, die sich lauernd im Dunkel gegenüberlagen, zogen mit messerscharfem Schrei wandernde Graugänse nach Norden.

Die verflackernde Lichtfülle schweifender Leuchtkugeln hellte wieder und wieder in jähem Überfall die klumpigen Umrisse kauernder Gestalten auf, die in Mantel und Zeltbahn gehüllt gleich mir, eine Kette von Spähern, sich vor unseren Drahtverhauen in Erdmulden und Kalkgruben schmiegten. Die Postenkette unsres schlesischen Regiments zog sich vom Bois des Chevaliers hinüber zum Bois de Vérines, und das wandernde Heer der wilden Gänse strich gespensterhaft über uns alle dahin. Ohne im Dunkel die ineinanderlaufenden Zeilen zu sehen, schrieb ich auf einen Fetzen Papier ein paar Verse:

 
Wildgänse rauschen durch die Nacht
Mit schrillem Schrei nach Norden –
Unstäte Fahrt! Habt acht, habt acht!
Die Welt ist voller Morden.
 
 
Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt,
Graureisige Geschwader!
Fahlhelle zuckt, und Schlachtruf gellt,
Weit wallt und wogt der Hader.
 
 
Rausch' zu, fahr' zu, du graues Heer!
Rauscht zu, fahrt zu nach Norden!
Fahrt ihr nach Süden übers Meer –
Was ist aus uns geworden!
 
 
Wir sind wie ihr ein graues Heer
Und fahr'n in Kaisers Namen,
Und fahr'n wir ohne Wiederkehr,
Rauscht uns im Herbst ein Amen!
 

Während ich das im Bois des Chevaliers schrieb, lag drüben im Vérines-Walde ein zwanzigjähriger Student der Theologie, Kriegsfreiwilliger gleich mir, auf Horchposten. Wir wußten damals noch nichts voneinander. Aber als er, Monate später, die Verse in meinen Kriegstagebuchblättern fand, entsann er sich deutlich jener Nacht und des wandernden Gänseheers, das über uns beide dahinzog. Beide sahen wir ihm mit den gleichen Gedanken nach. Und an uns beide trat in derselben Stunde aus dem Dunkel der hinter uns liegenden Gräben eine Gefechtsordonnanz mit dem Befehl, uns um Mitternacht marschfertig vor dem Regimentsgeschäftszimmer zu melden. Mit müden und doch seltsam wachen Sinnen sahen wir im Abstieg noch einmal die schwermütige Schönheit der kahlen, grauen Hänge und Mulden, deren Kalk im Mondlicht tot, fremd und schwer wird, und die lichtlose, graue Einsamkeit der zerschossenen und verlassenen Steinhütten …

Im Geschäftszimmer des Regiments erfuhren wir, daß wir bei Morgengrauen mit zwanzig andern Kriegsfreiwilligen nach Deutschland in Marsch gesetzt würden, um im Posener Warthelager eine Offiziersausbildung durchzumachen.

Auf der abschüssigen Dorfstraße zwischen der granatenzertrümmerten Kirche und dem Pfarrhaus mit seinen Kriegergräbern trat unser kleiner Trupp in der Frühe des folgenden Tages an. Zur gleichen Zeit wie wir sollte ein Kommando von Berufsschlächtern, die zur Verwendung in der Heimat aus der Truppe gezogen waren, den Ort verlassen. Während wir nun in Reih und Glied, des Marschbefehls gewärtig, vor dem Pfarrhaus standen, trat ein Major an uns heran und rief uns von weitem zu: »Seid Ihr die Metzger, Kerls?« und ein Chorus von beleidigten und vergnügten Stimmen antwortete: »Nein, Herr Major, wir sind die Offiziersaspiranten!« Während der Major mit einem verdrießlichen Gemurmel an unserm grauen Häuflein vorbei die Suche nach seinen Metzgern fortsetzte, sah ich zufällig in ein paar auffallend schöne lichtgraue Menschenaugen. Sie gehörten meinem Nebenmann und standen randvoll fröhlichen Lachens. Wir sahen uns an und begegneten uns in der Freude an einem jener kleinen harmlos-spaßhaften Erlebnisse, an denen unser Kriegsfreiwilligendasein reich war. Was für reine Augen hat der junge Mensch! dachte ich und merkte beim Aufruf durch den Regimentsschreiber auf seinen Namen. »Ernst Wurche.« »Hier!« Nun, dachte ich, es ist hübsch, daß du und ich den gleichen Weg haben …

Ein paar Stunden später stieg unser kleiner Trupp die mit Strömen von Heldenblut getränkten Höhen der Côtes Lorraines von Hâtonchatel nach Vigneulles hinab. Der steile Abstieg und die von Tau und Sonne sprühend frische Luft rückte einem, ohne daß man's recht wußte, den Kopf in den Nacken, und bald flatterte ein Lied wie eine helle frohe Fahne über dem grauen Häuflein. »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein! Wer lange sitzt, muß rosten. Den allersonnigsten Sonnenschein läßt uns der Himmel kosten.« Wie lange hatte man das nicht gesungen! Wer hatte es angestimmt? Der junge Student mir zur Seite hatte eine Stimme, so hell und rein wie seine Augen. Wer so singt, mit dem wird gut plaudern sein, dachte ich, während er unbekümmert froh die frischerwachte Wanderlust im Liede ausschwingen ließ …

Steiler und steiler drängte die Straße in die weite lothringische Ebene hinab. In scharfer Wendung zwang sie auf halber Höhe plötzlich den Blick rückwärts und hinauf zu der in Morgenröte und Frühnebeln badenden Kirche von Hâtonchatel, aus deren gotischem Zierat die junge Sonne gleichsam in hellen Bächen hervorsickerte, empor zu den zerschossenen Häusern, die sie umdrängten, und zu dem Bergfriedhof davor, über dessen graue Mauern das Leben in Büscheln frischen Grüns mit hundert schlanken Zweigen voll silbrig schimmernden Teufelszwirns und schwellender Haselkätzchen hinausdrängte. Je tiefer wir stiegen, desto thronender hob sich über das Tal und die taufeuchten Rebenhänge, in immer hellerer Sonne schwelgend, die Kirchenruine von Hâtonchatel, eine Gottesburg, vor der sich das reiche Land hinauf und hinab breitete wie ein Gebetsteppich für Scharen von Pilgern.

Vielleicht hätte ich dies alles nicht so gesehen ohne den zwanzigjährigen Kameraden neben mir. Er sang nicht mehr, sondern war ganz in Schauen und Schreiten versunken. Trotz und Demut, die Anmut des Jünglings, lagen wie ein Glanz über der Haltung des straffen Körpers, dem schlanken Kraftwuchs der Glieder, dem stolzen Nacken und der eigenwilligen Schönheit von Mund und Kinn. Sein Gehen war federnde, in sich beruhende und lässig bewegte Kraft, jenes Gehen, das »Schreiten« heißt, ein geruhiges, stolzes und in Stunden der Gefahr hochmütiges Schreiten. Der Gang dieses Menschen konnte Spiel sein oder Kampf oder Gottesdienst, je nach der Stunde. Er war Andacht und Freude. Wie der schlanke, schöne Mensch in dem abgetragenen grauen Rock wie ein Pilger den Berg hinabzog, die lichten grauen Augen ganz voll Glanz und zielsicherer Sehnsucht, war er wie Zarathustra, der von den Höhen kommt, oder der Goethesche Wandrer. Die Sonne spielte durch den feinen Kalkstaub, den seine und unsere Füße aufrührten, und der helle Stein der Bergstraße schien unter seinen Sohlen zu klingen …

Sein Gang war Wille und Freude. Er ging aus Vergangenheit in Zukunft, aus den Lehrjahren ging er in seine Meisterjahre hinüber. Hinter ihm versanken die Berge, auf denen er mit Picke und Spaten geschanzt hatte, die Wälder, deren zentnerschwere Stämme er stundenweit auf willigen Schultern getragen, die Dörfer, deren Straßen er mit Schaufel und Kotrechen saubergehalten hatte, die Gräben, in denen er zu allen Stunden des Tages und der Nacht seinen Wachdienst getan und die Erdlöcher und Unterstände, in denen er soviel Monate hindurch mit Handwerkern, Fabrikern und polnischen Landarbeitern gute Kameradschaft gehalten hatte. Er hatte sechs Monate hindurch den grauen Rock ohne Knopf und Tressen getragen, und von den härtesten und niedrigsten Diensten war ihm nichts geschenkt worden. Nun schritt er von den Bergen herab, um Führer zu werden. Aber er warf die Vergangenheit nicht von sich wie einen abgetragenen Rock, sondern nahm sie mit sich wie einen heimlichen Schatz. Er hatte sechs schwere Monate hindurch um die Seele seines Volkes gedient, von der so viele reden, ohne sie zu kennen. Nur wer beherzt und bescheiden die ganze Not und Armseligkeit der Vielen, ihre Freuden und Gefahren mitträgt, Hunger und Durst, Frost und Schlaflosigkeit, Schmutz und Ungeziefer, Gefahr und Krankheit leidet, nur dem erschließt das Volk seine heimlichen Kammern, seine Rumpelkammern und seine Schatzkammern. Wer mit hellen und gütigen Augen durch diese Kammern hindurchgegangen ist, der ist wohl berufen, unter die Führer des Volkes zu treten. Als ein Wissender an Kopf und Herzen stieg der junge Kriegsfreiwillige von den lothringischen Bergen herab, um Führer und Helfer in seinem Volke zu werden. Davon klang sein Schritt. Und wenn die Menschen mit allem lügen und heucheln könnten, Blick und Stimme und Gang der Starken und Reinen können sie nicht erheucheln und nachtäuschen. Noch hatte ich mit dem jungen Studenten kein Wort gesprochen, aber Blick und Stimme und Gang des Jünglings waren mir freund geworden.

Im Eisenbahnwagen kamen wir ins Gespräch. Er saß mir gegenüber und kramte aus seinem Tornister einen kleinen Stapel zerlesener Bücher: ein Bändchen Goethe, den Zarathustra und eine Feldausgabe des Neuen Testaments. »Hat sich das alles miteinander vertragen?« fragte ich. Er sah hell und ein wenig kampfbereit auf. Dann lachte er. »Im Schützengraben sind allerlei fremde Geister zur Kameradschaft gezwungen worden. Es ist mit Büchern nicht anders als mit Menschen. Sie mögen so verschieden sein, wie sie wollen – nur stark und ehrlich müssen sie sein und sich behaupten können, das gibt die beste Kameradschaft.« Ich blätterte, ohne zu antworten, in seiner Sammlung Goethescher Gedichte. Ein anderer Kamerad sah herüber und sagte: »Das Buch habe ich mir beim Auszug auch in den Tornister gesteckt, aber wann hat man hier draußen Zeit zum Lesen gehabt?« »Wenn man wenig Zeit zu lesen hat,« meinte der junge Student, »so soll man auswendig lernen. Ich habe in diesem Winter siebzig Goethesche Gedichte gelernt. Die konnte ich dann vorholen, so oft ich wollte.« Er sprach frei und leicht und ohne jeden Anflug von Selbstbespiegelung oder Schulmeisterlichkeit, aber seine unbefangene und selbstsichere Art, ohne Scheu auch von wesentlichen und innerlichen Dingen zu reden, zwang zum Aufhorchen. Seine Worte waren so klar wie seine Augen, und aus jedem seiner frisch und ehrlich gefügten Sätze konnte man sehen, weß Geistes Kind man vor sich hatte.

 

Die Gespräche im Eisenbahnwagen kreuzten um die Aufgaben der nahen Zukunft. Wir fuhren einer Lehrzeit entgegen. Dem einen schien's viel, dem andern wenig, was in der kurzen Zeit zu lernen war. »Ein Zugführer braucht ja kein Stratege zu sein,« meinte einer. »Leutnantsdienst tun heißt: seinen Leuten vorsterben. Wer ein ganzer Kerl ist, braucht nur ein wenig Handwerk zuzulernen.« Der so sprach, meinte es ehrlich, und er hat nicht allzulang danach in Russisch-Polen sein Wort wahr gemacht, aber seine ungelenke und hitzige Art, unvermittelt und oft am falschen Platz große Worte zu machen, ließ ihn bei aller Redlichkeit oft zur Zielscheibe harmlosen Spottes werden. Auch hier fiel sein Wort wie ein Stein in leichtes Geplauder. Einige lächelten. Aber Ernst Wurche hob den Stein leicht auf, und er wurde in seiner Hand zum Kristall. »Leutnantsdienst tun heißt seinen Leuten vor-leben,« sagte er, »das Vor-sterben ist dann wohl einmal ein Teil davon. Vorzusterben verstehen viele, und das ›Non dolet‹, mit dem die römische Frau ihrem zaghaften Gatten zeigte, wie gut und leicht sich sterben läßt, steht dem Mann und Offizier noch besser, aber das Schönere bleibt das Vor-leben. Es ist auch schwerer. Das Zusammen-leben im Graben war uns vielleicht die beste Schule, und es wird wohl niemand ein rechter Führer, der es nicht hier schon war.«

Es erhob sich alsbald ein lebhafter Streit, ob es leicht oder schwer sei, Einfluß auf das Denken und Fühlen des gemeinen Mannes zu gewinnen. Mancher hatte mit Belehrungs- und Erziehungsversuchen kläglich Schiffbruch gelitten und war immer wie ein fremder Vogel im Schwarm gewesen. Vieles, das hin- und hergeredet wurde, ist mir entfallen, und es verblaßte auch mit Recht neben einem kleinen Erlebnis, das der junge Student erzählte. »Die großen Kerls«, meinte er lächelnd, »sind wie die Kinder. Mit Schelten und Verbieten ist wenig getan. Sie müssen einen gern haben. Ein Spiel, bei dem man nicht mittut, muß ihnen kein rechtes Spiel sein. Wenn wir zu acht im Unterstand lagen, suchte auch oft einer dem anderen mit unsaubern Witzen den Vogel abzuschießen. Und ein Weilchen unterhielten sie sich damit ganz prächtig. Aber dann war einer, ein Breslauer Sozialdemokrat, der gute Freundschaft mit mir hielt; der merkte immer zuerst, wenn ich nicht mittat. ›Ernstel, schläfst du auch?‹ fragte er dann jedesmal, und wir wußten alle beide, daß sein Spott auf unsichern Beinen stand. Ich knurrte auch nur, ›Laßt mich zufrieden‹, oder so. Sie wußten recht gut, wenn ich nichts von ihnen wissen wollte, und das paßte ihnen nicht. Es dauerte dann meistens auch gar nicht lange, bis einer eine Schnurre erzählte, über die ich mitlachte. Und dann hatten wir die lustigsten Stunden.«

Er erzählte das ganz schlicht und mit so herzgewinnender Nachfreude, daß man unwillkürlich die Kraft spürte, die sein Wesen auf grobe und feine Herzen übte. Ich verstand ganz seine »großen Kerls«, die ihn »gern hatten« und denen das Lachen ohne ihn schal war. Viel später, in den Wäldern von Augustow, hat er mir dann zuweilen Briefe seiner alten Kameraden zu lesen gegeben, denen er selbst fleißig schrieb. Darunter war auch einer seines Breslauer Sozialdemokraten. Der fing mit »Lieber Herr Leutnant« an, und ziemlich unvermittelt stand zwischen allerlei Nachrichten: »Seit Sie fort sind, sind unsre Gespräche nicht besser geworden. Über viele Witze würden Sie nicht lachen, und wir dann auch nicht.« Es mag, auch in Deutschland, nicht viele Offiziere geben, denen solche Briefe geschrieben werden …

In dem Eisenbahnwagen, der uns quer durch Deutschland von Metz nach Posen führte, saß ich dem rasch liebgewonnenen Kameraden viele Stunden gegenüber. Es wurde viel gelacht und geplaudert. Aus allen seinen Worten sprach ein reiner, klarer, gesammelter Wille. So wie er die Anmut des Knaben mit der Würde des Mannes paarte, war er ganz Jüngling, und er erinnerte mich in seinem bescheidenen, selbstsicheren Lebensfrohsinn fast schmerzhaft deutlich an meinen jüngsten Bruder, der in den ersten Septembertagen in Frankreich gefallen war. »Sind Sie nicht Wandervogel, Wurche?« fragte ich ihn aus meinen Gedanken und Vergleichen heraus, und sieh', da hatte ich an die Dinge des Lebens gerührt, die ihm die liebsten waren! Aller Glanz und alles Heil deutscher Zukunft schien ihm aus dem Geist des Wandervogels zu kommen, und wenn ich an ihn denke, der diesen Geist rein und hell verkörperte, so gebe ich ihm recht …

Die paar Wochen Lehrzeit im Warthelager haben dem Wesen des Jünglings nichts gegeben und nichts genommen. Er wurde rasch nacheinander Unteroffizier, Feldwebel und Leutnant. Mit seinen Aufgaben fand er sich glatt und sicher ab, und an den Verdrießlichkeiten und Kleinlichkeiten, wie sie der Friedensdrill mit sich bringt, ging er mit lässigem Hochmut vorüber. Einmal entschlüpfte auch mir, ich weiß nicht mehr über wen und worüber, ein verdrossenes Wort. Da schob er seinen Arm in meinen, sah mich mit seiner herzlich zwingenden Heiterkeit an und zitierte aus seinem Goethe:

 
»Wandrer, gegen solche Not
Wolltest du dich sträuben?
Wirbelwind und trocknen Kot
Laß ihn drehn und stäuben!«
 

Damit war die Sache abgetan. Wir wanderten in den Sonntagmorgen hinaus zum Warthe-Ufer und sprachen von Flüssen, Bergen, Wäldern und Wolken …

Es wurde Mai. Da zogen wir zum zweitenmal hinaus. Wohin? Das wußte von den paar hundert jungen Offizieren noch keiner, als uns schon die grellweißen Lichtkegel unsrer Autos zum Schlesischen Bahnhof in Berlin vorausrasten. Die Zukunft war voller Geheimnisse und Abenteuer, und aus dem Dunkel im Osten, in das sich die Lichter unsres Zuges hineinfraßen, wuchs der Schatten Hindenburgs …

Der Zug fuhr ohne Halt durch die Mainacht, als wollte er Weg und Ziel nicht verraten. Nur hin und wieder flog ein grell von Bahnhofslichtern überstrahltes Schild mit einem Stationsnamen an uns vorüber. Es ging nach Osten. Der Schatten Hindenburgs wuchs und wuchs. Kühl und blausonnig ging der Maimorgen über den ostpreußischen Seen auf. Ging es nach Kurland, ging es nach Polen? Ernst Wurche zeigte hartnäckig, so oft wir hin- und herrieten, auf die Teile der großen Generalstabskarte, die mit dem tiefsten Blau und dem lichtesten Grün gezeichnet waren. Der helle, liebe Mai gaukelte dem Wandervogel die Lockbilder weiter, sonniger Seen, schattiger Wälder und taunasser Wiesen vor.

Auf dem Bahnhof eines ostpreußischen Städtchens wurden uns von lachenden Mädchen Erfrischungen und Blumen ins Abteil gereicht. Als der Zug sich unter Winken, Zurufen und Gelächter in Bewegung setzte, warf uns ein älterer Herr mit einem fast zornigen Gesicht ein Extrablatt zu. Wir fingen es auf und lasen. Italien hatte an Österreich den Krieg erklärt …

Seit Tagen schon hatte man nichts anderes mehr erwartet. Es waren nicht wenige unter uns, die noch in Berlin darauf gewettet hatten, daß wir selbst an die italienische Front geworfen würden. Nun stand der italienische Verrat schwarz auf weiß wie eine häßliche Fratze vor uns. Ein Weilchen war es still. Dann fielen harte, starke und laute Worte. Einer der Jüngsten von uns, der noch nicht allzulang der Sekunda entlaufen war, steckte das Blatt auf die Spitze seines Degens und winkte damit zum Fenster hinaus. Ein paar helle Mädchenarme winkten fröhlich und übermütig zurück. Der alte Ostpreuße in seinem schwarzen Rock stand unbeweglich und sah uns fast drohend nach. Der Bahnhof floh zurück. Die Menschen auf dem Bahnsteig schrumpften zusammen. Ein paar helle, bunte Flecke, mitten darin ein schwarzer Strich … Dann verschwand auch das. Nur das Blatt mit den großen, zornigen, schwarzen Lettern lag noch auf dem roten Plüsch unseres Abteils. Eine Hand nach der andern hob es auf. Zuletzt warf es eine Faust zerknüllt in die Ecke.

Das Gespräch ging längst wieder andere Wege. Ein junger Berliner Hochschullehrer, der als Kriegsfreiwilliger mit den jungen Regimentern in Flandern gefochten hatte, erzählte aus der Hölle von Ypern.

Mein Blick fiel zufällig auf Ernst Wurche. Er saß still in seiner Ecke, aber seine hellen, frohen Augen spielten mit der Maisonne um die Wette über die aufgeschlagenen Seiten eines Büchleins, das ihm auf den Knien lag. Es war sein Neues Testament. »Ernstel, schläfst du?« neckte ich ihn, da er's so ganz verschmähte, an unsern Gesprächen teilzunehmen. Er sah voll und herzlich auf. Dann rückte er mir mit einer raschen, fröhlichen Bewegung das schwarze Bändchen hin und tippte mit dem Finger auf eine Zeilenreihe.

»Der mit der Hand mit mir in die Schüssel tauchte, der wird mich verraten,« las ich. Ich glaubte ihn zu verstehen. »Italien?« fragte ich. Er nickte und tippte auf eine andere Stelle.

»Da ging hin einer mit Namen Judas Ischarioth und sprach: Was wollt Ihr mir geben? Ich will ihn Euch verraten …« Ich nickte ihm zu, da warf er rasch ein paar Blätter herum. »Und das wird das Ende sein!« Sein Zeigefinger lag auf dem kläglichen Wort des Verräters: »Ich habe übel getan, daß ich unschuldig Blut verraten habe.« Und weiter: »Sie sprachen: Was geht uns das an! Da siehe du zu!«

Keine Spur eines finsteren Eiferers lag in seinem offenen Blick und seiner frohen Gebärde. Seine Seele war weit und voll Sonne, und er las die Bibelstellen nicht anders als in dem hellen, starken Geiste, mit dem wir Kriegsfreiwilligen den Mondregenbogen an Gottes Himmel schauten, als wir nach Frankreich hinausfuhren. Sein Christentum war ganz Kraft und Leben. Die religiöse Erweckung aus Feigheit war ihm erbärmlich. Er hatte eine stille, herzliche Verachtung für das draußen und daheim wuchernde Angst-Christentum und die Gebetspanik der Feigen. Von ihnen sagte er einmal: »Sie suchen immer in Gottes Willen hineinzupfuschen. Gottes Wille ist ihnen nicht so heilig wie ihr bißchen Leben. Man sollte immer nur um Kraft beten. Der Mensch soll nach Gottes Hand greifen, nicht nach Pfennigen in seiner Hand.« Sein Gott war mit einem Schwerte gegürtet, und auch sein Christus trug wohl ein helles Schwert, wenn er mit ihm in den Kampf schritt. Zur Stunde sah er seine blanke Schneide gegen die verräterischen Bundesgenossen fliegen. Davon brannten ihm die Augen.

Der junge Offizier ließ an seinen Glauben so wenig rühren wie an sein Portepee. Sein Glaube und seine Ehre, das gehörte zusammen. Ich hörte später einmal, wie ein etwas älterer Kamerad mit einer läppischen Bemerkung über sein theologisches Studium witzelte. Den sah er hell an, und dann sagte er ganz ruhig und liebenswürdig: »Theologie ist eine Sache für feine Köpfe, nicht für Klötze.« Er verlor nie die Ruhe, auch nicht, wenn er grob wurde, und er konnte vollendet grob werden.

Allmählich ließ sich das Ziel unserer Reise erkennen. Eine Nacht verbrachten wir in Suwalki, und am nächsten Morgen fauchte der Zug, der nur noch wenige Wagen zählte, durch die endlosen Nadelwälder von Augustowo zur Front. Ein Teil der Bahnstrecke wurde von den Russen unter Artilleriefeuer gehalten. Auf offener Strecke blieben wir ein paar Stunden liegen, während der Gegner weiter vorn die Geleise mit Granaten abstreute. Einige Wipfel brachen wie unter jähen Blitzschlägen zusammen. Ein Teil des Waldes brannte, ein grelles, heißes Rot fraß sich durch den schweren Qualm von brennendem Holz und Harz.

Nach einer Weile schwieg die feindliche Artillerie, und unser Zug setzte sich wieder in Bewegung. Schneller und schneller glitten Fichten und Sand, Sand und Fichten vorüber. Mit einmal erschütterte der ganze Zug von dem schmetternden Krachen einer krepierenden Granate, deren Sausen das Rattern der Bahn übertäubt hatte. Ein Knirschen von Holz und Eisen. Ein paar Stöße, die wie Faustschläge durch die roten Polster kamen. Eine Scheibe sprang mit peitschenartigem Knall aus dem Rahmen. Der Wagen neigte sich hart rechtsüber, schwankte, stand. Die Granate war unter dem fahrenden Zug in den Bahndamm geschlagen und hatte wie eine Teufelsfaust die Erde unter den heißen Schienen fortgerissen. Der Zug war aus den Gleisen gesprungen und stand mit gefährlicher Neigung über der steilabfallenden Böschung. Ein Maschinengewehr hämmerte aus der Ferne, wo man wohl durchs Scherenfernrohr den Treffer beobachtet hatte, herüber. Tak–ta–tak–tak–tak–ta–tak …

 

Ernst Wurche hatte gerade am Fenster gestanden und sich rasiert. Mitten in den Strich war das Krachen und Brechen gekommen. Er hob das Messer leicht ab und hielt sich mit der Linken am Gepäcknetz fest. Aus den Nebenabteilen sahen wir die Kameraden, zum Teil hemdärmelig, aus den schwankenden Wagen springen. Mir selbst waren ein Koffer und Wäschesack auf den Kopf gefallen und hatten mich vornüber geworfen. Ich rappelte mich wieder auf. Der Zug stand. Ich sah nach Wurche und mußte lachen. Er führte mit dem Messer sauber den unterbrochenen Strich zu Ende, wischte sich den Seifenschaum aus dem Gesicht und sagte seelenruhig: »Na, da können wir wohl auch aussteigen!« Er ließ sich seine fröhliche Ruhe von niemand aus den Fingern schlagen, und es lag nicht in seiner Art, bei einer Panik mit der Seife im Gesicht aus dem Rasierladen zu laufen, wenn noch Zeit war, sie abzuwischen. Gelassenheit war eins seiner Lieblingsworte, in ihr sah er das Wesen menschlicher und männlicher Würde, heitere und lässige Sicherheit lag immer wie ein Glanz über seinem Wesen, und es war in ihr soviel menschliche Anmut wie männliche Würde.