Behemoth

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Vertreibung der Juden aus dem deutschen Gemeinwesen begann mit dem »Reichsbürgergesetz« vom 15. September 1935, das eine Unterscheidung zwischen »Staatsangehörigen« und »Reichsbürgern« traf. Staatsangehöriger war danach, »wer dem Schutzverband des Deutschen Reiches angehört«, Reichsbürger »nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen«. Das Reichsbürgerrecht wurde durch die Verleihung eines Reichsbürgerbriefes erworben; nur die Reichsbürger besaßen politische Rechte. Eine Durchführungsverordnung vom 14. November 1935 machte alle Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ohne Reichsbürgerbrief zu Reichsbürgern, sofern sie das Wahlrecht besaßen oder der Reichsminister des Innern ihnen die Reichsbürgerschaft zusprach. Dasselbe Reichsbürgergesetz versetzte alle noch im Staatsdienst verbliebenen jüdischen Beamten in den Ruhestand.

Dieser Schritt war der letzte in einer Serie von Gesetzesmaßnahmen, deren Ziel die Ausschaltung der Nicht-Arier aus dem Staatsdienst, den freien Berufen und aus allen kulturellen Bereichen war. Den Auftakt bildete ein am 7. April 1933 verkündetes »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, demzufolge nur diejenigen Juden ihre Stellung behalten durften, die entweder Kriegsveteranen waren, deren Eltern oder Söhne im Ersten Weltkrieg getötet wurden, oder die bereits im August 1914 im Staatsdienst gestanden hatten. Bis Ende 1938 sind die Juden indes völlig aus dem öffentlichen Dienst und den freien Berufen entfernt worden; nun konnte die Zerstörung ihrer Stellung in der Wirtschaft mit aller Macht beginnen. Der Anlaß zu diesem nächsten Schritt war die Ermordung vom Raths, des dritten Sekretärs an der deutschen Botschaft in Paris. Der Sturmangriff auf die Position der Juden in der deutschen Wirtschaft fiel bezeichnenderweise mit der Säuberung der Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe von »untauglichem« Personal zusammen, das heißt mit dem Bruch des Versprechens der Nationalsozialisten, den alten Mittelstand zu schützen. Es ist eigentlich sicher, daß der Mord an vom Rath nichts als ein Vorwand und die wirtschaftliche Verfolgung der Juden ein bloßes Ablenkungsmanöver war, das den Anschlag auf den gesamten Mittelstand verschleiern sollte.

5. »Arisierung« jüdischen Vermögens

Die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben wurde auf dreierlei Weise vollzogen: über Verträge, mit illegalen Mitteln und durch Gesetze. Die »legale« Ausschaltung geschah in Form von Zwangsverkäufen insbesondere kleiner jüdischer Betriebe, womit die Gelüste von NS-Funktionären und kleinen arischen Konkurrenten befriedigt wurden. Eine der angewandten Methoden bestand in der Übergabe der jüdischen Geschäftsanteile an den arischen Partner – häufig setzte der Gauleiter der NSDAP den arischen Teilhaber unter Druck, sich von seinem jüdischen Gesellschafter zu trennen.64 Juden wurde in zunehmendem Maße der Schutz des deutschen Arbeitsrechtes versagt.65 Diese Praktiken, die wirtschaftlich kaum von Bedeutung sind, verdienen lediglich im Rahmen einer Untersuchung der nationalsozialistischen Verfolgungsmethoden und der sogenannten Reinerhaltung der Wirtschaft Beachtung. Am 8. Mai 1935 war die Frankfurter Zeitung genötigt zuzugeben, daß die Arisierung, weit davon entfernt, dem deutschen Mittelstand zu nützen, in erster Linie den Interessen der Großunternehmen diente, die die Gelegenheit wahrnahmen, ihren Besitz durch Aufkauf jüdischen Eigentums »abzurunden und zu erweitern«. Die Kleinbetriebe besaßen weder das nötige Kapital noch die erforderliche Ausrüstung zu Übernahme jüdischer Unternehmen. So wurde die Arisierung ein mächtiger Antrieb zur Kapitalkonzentration und Monopolbildung, eine Entwicklung, die wir später noch näher erläutern werden.66

Das Wachstum der Monopole auf dem Wege der »Entjudung« war besonders ausgeprägt im Bereich der Banken. Zwischen 1932 und 1939 ging die Zahl der Privatbanken von 1350 auf 520 zurück.67 Die Arisierung kam nicht nur den Interessen der großen Geldinstitute entgegen, sondern bot auch der Industrie das Mittel, eigene Banken zu erwerben und ihre Aktivitäten auf das Bankwesen auszudehnen.68 So wurde zum Beispiel das mächtige Bankunternehmen S. Hirschland in Essen, das eine solch hervorragende Rolle bei der industriellen Entwicklung des Ruhrgebiets gespielt und Thyssen finanzielle Unterstützung und Hilfe gewährt hatte, von einer durch Thyssen und Flick kontrollierten Unternehmensgruppe arisiert. (Gerade dieser Prozeß trug vermutlich zu Thyssens Ruin bei, weil dadurch sein mächtigster Rivale Teilhaber einer Bank wurde, die zuvor ausschließlich Thyssens Interessen gedient hatte.)

Aus Platzmangel können wir hier nicht die ganze Geschichte der Arisierung jüdischer Unternehmen erzählen. Überall dort, wo die großen jüdischen Firmen nicht von den arischen Konkurrenzunternehmen geschluckt werden konnten, wurden sie von Banken übernommen, wie im Falle des Kaufhauses Schocken, eines Familienunternehmens, das heute eine Aktiengesellschaft in Bankbesitz ist, oder der Zugmaschinen- und Lastwagenwerke Orenstein und Koppel. Die Arisierung stärkte das »raffende« auf Kosten des »schaffenden« Kapitals. Sie schadete auch dem Einzelhandel insgesamt. So wurde zum Beispiel eine ganze Reihe von jüdischen Fabriken, darunter die drei größten Schuhfabriken, die alle eigene Einzelhandelsverkaufsstellen hatten, zusammengelegt und damit der Einfluß der Monopolisten auf die Einzelhändler und den gesamten Produktionszweig vergrößert. Der gewaltige Zuwachs an Macht und Gewinnen, den die Arisierung den Großbanken und der Großindustrie einbrachte, nahm noch größere Ausmaße an, als Österreich, das Sudetenland, das Protektorat und Frankreich in Besitz genommen wurden.

Das deutsche Quellenmaterial, auf dem die Aussagen dieses Buches beruhen, liefert keine dokumentarischen Beweise illegaler Beschlagnahmungen jüdischen Vermögens, doch liefern Zeugenaussagen von Flüchtlingen genug Beweise, daß derlei Methoden weit verbreitet waren. Hingegen finden sich in den Dokumenten zahlreiche Beispiele für gesetzliche Enteignungen. In Deutschland gibt es eine Reihe von Berufen, für deren Ausübung eine Lizenz erforderlich ist. Eine Anzahl von Juristen und Verwaltungsgerichten vertrat den Standpunkt, daß der Jude als solcher nicht unzuverlässig sei, und daß die Verwaltungsbehörde daher einem Juden die Erteilung einer Lizenz nicht allein wegen seiner »rassischen Fremdartigkeit« verweigern könne.69 Folglich wurde die Gewerbeordnung, die die Mehrzahl der Vorschriften zu diesem Punkt enthielt, mit Gesetz vom 6. Juli 1938 geändert, um den Juden die Zulassung zu einer ganzen Reihe von Gewerben zu untersagen (»das Bewachungsgewerbe, der gewerbsmäßigen Auskunftserteilung über Vermögensverhältnisse oder persönliche Angelegenheiten, des Handels mit Grundstücken, der Geschäfte gewerbsmäßiger Vermittlungsagenten für Immobiliarverträge und Darlehen, sowie des Gewerbes der Haus- und Grundstücksverwalter, der gewerbsmäßigen Heiratsvermittlung ..., des Fremdenführergewerbes«). Aus diesem Gesetz leiten deutsche Juristen heute ab, daß der Grundsatz der Gewerbefreiheit für Juden nicht mehr gilt.

Die Gesetzes- und Verwaltungsmaßnahmen zielen allenthalben darauf ab, die Verschleierung eines jüdischen Geschäftes unmöglich zu machen. Jeder Kaufmann kann eine gerichtliche Verfügung gegen jede jüdische Firma erwirken, die auch nur den Eindruck erweckt, arisch zu sein70, und jeder Arier hat das Recht, einen Kunden davor zu warnen, bei einem jüdischen Konkurrenten zu kaufen, wenn diese Warnung im Interesse der Öffentlichkeit liege.71 Langsam und zögernd haben die Gerichte Ariern auch das Recht zuerkannt, von langfristigen Verträgen mit Juden zurückzutreten.72

Die völlige gesetzmäßige Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben wurde mit der Verordnung vom 26. April 1938 in Angriff genommen, die die Juden zwang, ihr »gesamtes in- und ausländisches Vermögen … anzumelden und zu bewerten«, und die (mit der Durchführungsbestimmung vom gleichen Tag) ihnen verbot, irgend ein industrielles, land- oder forstwirtschaftliches Unternehmen durch Kauf oder Pacht zu erwerben. Zugleich wurde ihnen untersagt, einen Betrieb ohne Genehmigung neu zu eröffnen. Die Tatsache, daß die Bestandsaufnahme des jüdischen Vermögens bereits im April 1938 angeordnet wurde, läßt es einmal mehr als äußerst unwahrscheinlich erscheinen, daß die Enteignungsgesetze vom November desselben Jahres einfach eine Vergeltungsmaßnahme gegen die Ermordung vom Raths oder eine Reaktion auf den »spontanen Zorn der aufgebrachten Volksmassen« darstellten. Vielmehr waren sie Teil eines langgehegten Planes. Die Unzufriedenheit unter den kleinen Geschäftsleuten über ihre Hinausdrängung aus dem Wirtschaftsleben mußte abgelenkt werden.

Eine Verordnung vom 12. November 1938, die etwa eine Woche nach dem Tode vom Raths erlassen wurde, untersagte Juden die Weiterführung von Einzelhandelsverkaufsstellen, Handwerksbetrieben und Versandgeschäften, sowie den Verkauf ihrer Waren auf Messen und Märkten. Sie schloß Juden von der Betriebsführung aus (ab 1. Januar 1939) und ermächtigte arische Unternehmer zur Entlassung von jüdischen leitenden Angestellten; des weiteren wies sie die Genossenschaften zum Ausschluß aller ihrer jüdischen Mitglieder an. Die Durchführungsbestimmung vom 23. November 1938 setzte alles daran sicherzustellen, daß die jüdischen Eigentümer nicht aus der Zwangsliquidation jüdischer Unternehmen Gewinn zogen. Die Waren konnten nicht mehr an die Verbraucher verkauft, sondern mußten der zuständigen Industrie- oder Handelsgruppe zur Sicherstellung übergeben werden. Diese waren von amtlich bestellten Personen zu bewerten, und häufig wurden die Liquidatoren des Unternehmens ernannt.

 

Diese nur Einzelhandels- und Handwerksbetriebe betreffende Verordnung wurde durch eine weitere vom 3. Dezember 1938 ergänzt, welche sich auf alle jüdischen Gewerbebetriebe, denen die Zwangsabwicklung oder -Veräußerung auferlegt worden war, erstreckte. Danach konnten für solche Betriebe Treuhänder eingesetzt werden, so daß die Eigentümer jegliches Verfügungsrecht über ihren Betrieb oder Vermögenswerte verloren. Außerdem ermächtigte die Verordnung die Regierung dazu, einem Juden aufzugeben, »seinen land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb, … sein sonstiges Grundeigentum … ganz oder teilweise binnen einer bestimmten Frist zu veräußern«. Darüber hinaus war es Juden verboten, Grundstücke durch Rechtsgeschäfte oder Zwangsversteigerung zu erwerben. Die Verfügung der Juden über ihren Besitz bedurfte der Genehmigung; die Verpfändung war untersagt. Die letztgenannte Vorschrift wurde so weit ausgelegt, daß die Juden am Ende keinerlei Sicherheit für ihre Anrechte hatten. So konnte zum Beispiel ein testamentarisch eingesetzter jüdischer Erbe seinen Anspruch auf ein Grundstück nicht dadurch absichern, daß er es mit einer Hypothek belastete.73

Den Juden wurde weiterer Schutz entzogen, als sie sich von der Nutznießung einer »Verordnung zur Regelung der Fälligkeit alter Hypotheken« (22. Dezember 1938) ausgeschlossen sahen, obwohl der Wortlaut der Verordnung sie nicht benachteiligte.74 Die zur Abwicklung oder Veräußerung jüdischer Betriebe eingesetzten Treuhänder traten voll und ganz an die Stelle des Eigentümers, so daß diesem nicht einmal mehr gestattet war, die Löschung einer Firma aus dem Handelsregister selbst vorzunehmen. (Der Firmenname genoß häufig großes Ansehen und war mithin ein beachtlicher Vermögenswert.)75 Aufgrund derselben Verordnung wurden die Juden gezwungen, ihre gesamten Aktien und festverzinslichen Wertpapiere in ein Depot einer anerkannten Bank einzulegen. Verfügungen über die eingelegten Wertpapiere bedurften der besonderen Genehmigung des Reichswirtschaftsministers. Gold, Platin, Silber, Edelsteine und ähnliche Wertgegenstände mußten bei besonderen, vom Reich eingerichteten öffentlichen Ankaufsstellen abgegeben werden (Durchführungsbestimmung vom 21. Februar 1939). Ihr Schätzwert wurde staatlich festgelegt.

Die Ermordung vom Raths wurde zum Anlaß genommen, der Gesamtheit der Juden deutscher Staatsangehörigkeit, deren Vermögen 5000 Reichsmark überstieg, die Zahlung einer Kontribution von 1 000 000 000 Reichsmark an das Deutsche Reich aufzuerlegen. Die Abgabe war in Form einer 20prozentigen Steuer auf das gesamte Vermögen der betroffenen Juden zu erheben und in vier gleichen Raten bis zum 15. August 1939 zu zahlen (Verordnung vom 12. November 1938 und Durchführungsbestimmung vom 21. November 1938). Als weitere »Sühneleistung« zwang eine Sonderverordnung vom 12. November 1938 die Juden, die Kosten für alle Schäden, die infolge der von der NSDAP inszenierten Krawalle vom 8., 9. und 10. November 1938 an jüdischen Geschäften und Wohnungen entstanden waren, selbst zu tragen. Die Steuer und die übrigen Gesetze standen natürlich im Zusammenhang miteinander. Die Zwangsabwicklung jüdischer Gewerbebetriebe, der Zwangsverkauf von Grundstücken sowie die Deponierung von Aktien und festverzinslichen Wertpapieren wurden durch die Notwendigkeit, die Vergeltungsabgabe zu entrichten, beschleunigt; der Wert des jüdischen Besitzes fiel, und zahlreicher Besitz wurde vernichtet.

Nicht einmal die antijüdische Wirtschaftsgesetzgebung kann hier im einzelnen dargestellt werden. Steuererleichterungen zugunsten von Wohltätigkeitsverbänden gelten nicht für Juden, und Gesetze zur Linderung der Schuldenlast werden auf sie nicht angewandt. Familien mit Kindern wird keine Kinderermäßigung gewährt, wenn die Kinder Juden sind (Bürgersteuergesetz vom 31. Oktober 1938). Jüdische Mieter genießen keinen Mieterschutz, wenn ihre Vermieter ihnen kündigen (30. April 1939). So gehen Rassentrennung, politische Versklavung, wirtschaftliche Vernichtung und die kulturelle Isolation Hand in Hand.

6. Die Ideologie des Antisemitismus

Die Versklavung wurde nicht mit einem Schlag vollzogen. Es gibt mehrere Gründe dafür, warum man bis 1938 gegenüber der wirtschaftlichen Position der Juden sogenannte offizielle Milde walten ließ. Sehr wichtig war zweifellos der Druck des Auslandes. Aus der Rede, die der Reichsminister des Innern, Dr. Frick76, am 15. Februar 1934 vor dem Diplomatischen Corps und der Auslandspresse zur Rechtfertigung der antijüdischen Gesetzgebung hielt, geht klar hervor, wieviel Deutschland auf die öffentliche Meinung Wert legte. Das Beharren auf der Legalität statt der vorbehaltlosen Enteignung erklärt sich auch aus rein wirtschaftlichen Gründen. Eine überstürzte Liquidation des jüdischen Besitzes hätte das deutsche Wirtschaftsleben empfindlich gestört.

Politische und psychologische Faktoren scheinen bei der antijüdischen Wirtschaftsgesetzgebung eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen die Juden gehörten zu den wichtigsten Methoden der Beuteverteilung; sie erfüllten dieselbe Funktion wie die Enteignung des Kirchenbesitzes unter Heinrich VIII. und während der Französischen Revolution. Sie führten zu einer Umverteilung des Vermögens zugunsten jener Bevölkerungsschichten, deren Unterstützung für das Regime lebenswichtig ist: den mächtigen Finanz- und Industriekapitalisten.

Die Enteignung jüdischen Besitzes ist zugleich eine Methode, die antikapitalistischen Sehnsüchte des deutschen Volkes zu stillen. Da der Nationalsozialismus das Privateigentum generell nicht angetastet hat, ist es für das Regime von entscheidender Wichtigkeit zu zeigen, daß es die Macht besitzt, es zu nehmen. In den Augen der antikapitalistischen Massen läßt es die Enteignung eines Teils der Bevölkerung als möglich erscheinen, daß das Regime eines Tages zur vorbehaltlosen und totalen Verstaatlichung schreiten könnte – eine von vielen ausländischen Beobachtern, die dazu neigen, das NS-Regime als antikapitalistisch zu bezeichnen, geteilte Erwartung.

Anstatt das jüdische Wirtschaftsleben mit einem Schlag zu vernichten, ging die NS-Administration schrittweise vor. Das hatte politische Gründe. Die Verwaltung hatte eine Reihe von antijüdischen Maßnahmen fertig in der Schublade und setzte sie eine nach der andern in Kraft, wann immer es nötig war, die Volksmassen anzuspornen oder ihre Aufmerksamkeit von anderen sozioökonomischen und internationalen Vorgängen abzulenken. Der spontane Antisemitismus des Volkes selbst ist in Deutschland nach wie vor schwach. Diese Behauptung läßt sich nicht direkt beweisen, aber es ist bezeichnend, daß es trotz der unaufhörlichen Propaganda, der das deutsche Volk seit vielen Jahren ausgesetzt ist, keine einzige nachweisbare spontane antijüdische Aktion von Personen, die nicht der NSDAP angehören, gegeben hat. Nach meiner persönlichen Überzeugung ist das deutsche Volk, so paradox das auch scheinen mag, noch das am wenigsten antisemitische.

Zum Verständnis der Wurzeln des antisemitischen Terrorismus bedarf es einer Unterscheidung der verschiedenen Arten von Antisemitismus und einer kurzen Erörterung der herrschenden antisemitischen Theorien.

Antisemitismus kann totalitär und nicht-totalitär sein. Für den totalitären Antisemiten ist der Jude schon längst kein Mensch mehr. Er ist zur Inkarnation des Bösen in Deutschland, ja in der ganzen Welt geworden. Mit anderen Worten, der totalitäre Antisemitismus trägt magischen Charakter und entzieht sich somit jeder Diskussion.

Im nicht-totalitären Antisemitismus sind Reste von Rationalität erhalten geblieben; deshalb ist er analysierbar. Er existiert in vier Formen, als religiöser, ökonomischer, politischer und sozialer Antisemitismus.

Der religiöse Antisemitismus bezieht seine Kraft aus der gegen die Juden erhobenen Anschuldigung, sie seien für die Kreuzigung Christi verantwortlich. Diese Auffassung, die in bestimmten katholischen Ländern (z. B. dem katholischen Kanada und Südamerika) immer noch stark verbreitet ist, hatte in Deutschland nur sehr wenig Einfluß. Sie war bei der breiten Masse der verarmten Katholiken, besonders in Oberschlesien, zu finden, aber selbst dort mischte sich der religiöse Antisemitismus mit dem polnischen Nationalismus. Er war weitgehend Ausdruck der Opposition gegen die Germanisierung dieses Gebietes in der Kaiserzeit, ein Vorgang, bei dem deutsche Juden eine wichtige, vielleicht sogar die wichtigste Rolle spielten. Der polnische Nationalismus richtete sich gegen die preußische Bürokratie, die die politische Macht repräsentierte, und gegen die deutschen Juden, die die Repräsentanten der kulturellen Germanisierung waren. Da zudem der polnische Nationalismus weitgehend von den unteren Rängen der katholischen Geistlichkeit betrieben wurde, war seine Verschmelzung mit dem religiösen Antisemitismus unausbleiblich. Die katholische Kirche als ganze ist nicht antisemitisch. Ganz im Gegenteil erkennt sie, daß der Antisemitismus mit dem religiösen semitischen Ursprung des Christentums unvereinbar ist.77 Der Antisemitismus innerhalb der Kirche ist weit mehr eine Sache politischer Zweckmäßigkeit als Grundelement des Glaubens oder der Politik.

In seinen anderen Formen beschränkte sich der Antisemitismus auf die neuen und alten Mittelschichten, die freien Berufe, die Universitätslehrer, Bauern, Angestellten, Handwerker, Ladenbesitzer und Beamten. Ihr Antisemitismus besaß zweifellos eine ökonomische Grundlage: er war sowohl konkurrenzorientiert als antikapitalistisch. Daß die Stellung der jüdischen Rechtsanwälte, Ärzte, Bankiers, Einzelhändler, Universitätslehrer und Beamten als Konkurrenten Antisemitismus auslöste, bedarf einer Erklärung. Die Juden, die in erster Linie Mittlerpositionen einnahmen, waren für den alten und neuen Mittelstand sozusagen der konkrete Ausdruck des Kapitalismus. Der kleine Bauer ging zum jüdischen Bankier, zum jüdischen Getreide- oder Viehhändler, oder zu einem jüdischen Pfandleiher. Der Einzelhändler, der sich über die Existenz jüdischer Kaufhäuser ärgerte, mußte immer noch bei einem jüdischen Großhändler einkaufen und war auf Kredite eines jüdischen Pfandhauses oder eines jüdischen Bankiers angewiesen. Seine Gläubiger waren Juden. Der Durchschnittsdeutsche sah nicht und konnte nicht sehen, daß die jüdischen Vermittler in Wirklichkeit nichts als Vermittler waren – Vertreter einer unpersönlichen und anonymen Macht, die ihnen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten diktierte. Die Einsicht, daß die Vermittler für einen nicht-jüdischen Finanz- und Industriekapitalismus tätig waren, hätte die Bauern, Einzelhändler und Handwerker in das sozialistische Lager getrieben, ein Schritt, den sie nicht tun konnten, ohne ihre Tradition aufzugeben. Zudem ließ das sozialistische Programm die Interessen dieser Gruppen unbeachtet. Der bei einem jüdischen Einzel- oder Großhändler, einem jüdischen Bankier oder Kaufhausbesitzer angestellte antisemitische Stehkragenproletarier hätte sich mit den Handarbeitern zusammenschließen können, um den Kapitalismus zu bekämpfen, zu verbessern oder zu beseitigen. Aber er weigerte sich, proletarisiert zu werden. Er wies den Führungsanspruch des Industrieproletariats zurück und versuchte, sich sein eigenes Standesbewußtsein zu zimmern. Die Betriebs- und Arbeitsgesetzgebung unterstützte ihn in diesem Bemühen. All seine antikapitalistischen Sehnsüchte konzentrierten sich so im Haß und Ressentiment gegen den jüdischen Arbeitgeber, wie gut seine Arbeitsbedingungen auch immer sein mochten.

Diesen Gruppen schuf der Antisemitismus »ein Ventil für die aus ihrer angeschlagenen Selbstachtung hervorwachsenden Ressentiments«78 und ermöglichte gleichzeitig eine politische Zusammenarbeit der alten und neuen Mittelschichten mit dem Landadel. Zudem war der Judenhaß Ausdruck der Angst jener Gruppen, deren traditionelle Kulturvorstellungen von der intellektuellen Avantgarde bedroht wurden, zu der eine beträchtliche Anzahl Juden gehörte. Das moderne Theater, die atonale Musik, der Expressionismus in Malerei und Literatur, die funktionelle Architektur – all das schien den Konservativen, deren kulturelle Anschauung im Grunde bäuerlich geprägt war, eine Bedrohung darzustellen, und so kamen sie dazu, die Stadt, ihre Kultur, ihre Wirtschaft und ihre Politik mit den Juden gleichzusetzen.

Der Antisemitismus bot auch eine Möglichkeit, die Schuld am letzten Krieg auf »fremde Feinde abzuwälzen, so daß man sich nicht länger selbst zu bezichtigen brauchte«.79 Die Juden sind schuld, und das heilige Ich der Deutschen bleibt von jedem Makel frei.

Freilich ist der Antisemitismus im heutigen Deutschland mehr als ein bloßes Mittel, dessen man sich bedient, solange es nötig ist, und das man fallen läßt, sobald es seinen Zweck erfüllt hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Nationalsozialismus die deutsche Geschichte, ja sogar die Weltgeschichte im Sinne der Bekämpfung, Bloßstellung und Ausrottung des jüdischen Einflusses umschreibt. Das »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands« hat die Umschreibung der Geschichte nach allen ihren Seiten gefordert. Wilhelm Grau80 hat das Programm entworfen und bereits damit begonnen, die neuen Postulate in seiner Studie über Wilhelm von Humboldt81, den Gründer der Berliner Universität, den er für einen Erzfreund der Juden hält, anzuwenden. Walter Frank, der Leiter dieses Institutes, beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Judenfrage. Er ist Autor der bekanntesten Adolf-Stöcker-Biographie, hat die Dritte Republik Frankreichs als jüdischen Charakters angegriffen,82 und sein neuestes Buch83 befaßt sich ausschließlich mit jüdischen Gestalten der Weimarer Republik wie Walter Rathenau und Maximilian Harden (Harden war ein jüdischer Journalist und Verfechter der kaiserlichen Expansionspolitik, der – das kann man ohne weiteres zugeben – nicht gerade eine Zierde seines Berufes war).

 

Der NS-»Rechtswahrerbund« hat bereits neun Pamphlete veröffentlicht, die den Einfluß der Juden auf die Rechtstheorie und -praxis behandeln und die Juden für den Rationalismus in der Rechtstheorie verantwortlich erklären.84 Es gibt unzählige Beiträge, die den verderblichen Einfluß der Juden auf die germanischen Institutionen aufzeigen wollen und kaum ein Buch, ein Pamphlet oder eine ideologische Verlautbarung, die nicht die jüdische Verschwörung, jüdische Unmoral, den jüdischen zersetzenden Geist, jüdischen Kapitalismus, jüdischen Rationalismus, jüdischen Pazifismus und jüdischen Militarismus geißelten. Es gibt nahezu kein Laster, das nicht den Juden zugeschrieben würde. Es überrascht kaum, daß der Nationalsozialismus dies tut. Aber die nahezu vollkommene moralische Korruption der deutschen Intelligenz, namentlich der akademischen Welt, ist eine bedrückende Tatsache.

Wie ernst der Nationalsozialismus die »wissenschaftliche Erforschung« der Judenfrage nimmt, zeigt sich am Beispiel der Eröffnung des »Instituts zur Erforschung der Judenfrage« am 26. März 1941 in Frankfurt a. M. (Frankfurter Zeitung vom 27. März 1941), der »ersten Außenstelle der Hohen Schule der NSDAP«. Gäste aus der Slowakei, aus Ungarn, Rumänien (Cuza), Italien, Bulgarien, Norwegen (Quisling) und Holland (Mussert) sowie Vertreter der NSDAP, der Wehrmacht und des Beamtentums nahmen an der Zeremonie teil. Alfred Rosenberg kam wieder einmal auf sein Lieblingsthema »NSDAP und Wissenschaft« zu sprechen. Die Hohe Schule der Partei werde der Wissenschaft – insbesondere den Naturwissenschaften – neuen Raum schaffen, müsse jedoch in erster Linie »den biologischen Gesetzen … der Völker und Rassen« nachgehen und den vergiftenden Einfluß der Juden aufdecken. Der Leiter des neuen Instituts, Wilhelm Grau, erläuterte dessen Aufgaben mit den gleichen Argumenten, die er schon früher vorgebracht hatte – damit wird der Jude zur beherrschenden Gestalt der deutschen, ja der europäischen Geschichte. Das Institut verfügt über die größten jüdischen Bibliotheken Europas, die die Eroberer beschlagnahmten: die Rothschild-Bibliothek in Frankfurt a. M., die Bibliothek des Theologischen Seminars der Thomacky-Synagoge in Warschau, die Bibliothek des Jiddistischen Wissenschaftlichen Instituts und die der Alliance Israélite Universelle in Paris. Aus Publikationen und Vorträgen geht klar hervor, daß das Institut den Antisemitismus als die grundlegende Ideologie des deutschen Imperialismus betrachtet. Einem Fachmann, Dr. Groß, zufolge soll das Wort ›Antisemitismus‹ vermieden werden, weil die Juden keine Semiten, sondern eine Mischrasse seien und weder in Europa noch in arabischen Ländern außerhalb Europas angesiedelt werden könnten (Frankfurter Zeitung vom 28. März 1941). Wie dienstbar diese »wissenschaftliche Organisation« dem deutschen Imperialismus ist, tritt deutlich zutage. Der deutsche Rassismus hat den Erkenntnissen seiner eigenen Anthropologen nie ernsthaft Beachtung geschenkt. Wenn es nötig ist, den Nahen Osten zu gewinnen, sind die Juden eben keine Semiten, und die Bezeichnung »Semiten« wird dann wieder einer befreundeten Nation von Arabern vorbehalten.

Drei Faktoren scheinen im gegenwärtigen allumfassenden Antisemitismus eine wesentliche Rolle zu spielen:85

Erstens sind Rassismus und Antisemitismus ein Ersatz für den Klassenkampf. Die offiziell etablierte, den Klassenkampf verdrängende Volksgemeinschaft benötigt ein integrierendes Element. Carl Schmitt hat behauptet, daß Politik ein Kampf gegen einen Feind, der vernichtet werden muß, ist.86 Die Theorie stimmt, wenn es sich um eine aggressive Gesellschaft handelt. Der neue Feind ist der Jude. Allen Haß, alle Ressentiments, alles Elend auf einen Feind ladend, der leicht vernichtet werden und keinen Widerstand leisten kann, läßt sich die arische Gesellschaft zu einem Ganzen integrieren. Dieser innenpolitische Wert des Antisemitismus läßt deshalb eine völlige Vernichtung der Juden niemals zu. Der Feind kann und darf nicht verschwinden; er muß ständig als Sündenbock für alle aus dem soziopolitischen System hervorgehenden Übel bereitstehen.

Zweitens bietet der Antisemitismus eine Rechtfertigung für die Expansion nach Osten. Sowohl in Hitlers Autobiographie87 als auch im Programm der NSDAP wird eine Befreiung aller Rassenbrüder vom Joch der Fremdherrschaft gefordert; das bedeutet Expansion nach Osten. Obwohl das Parteiprogramm auch die Wiederherstellung des deutschen Kolonialbesitzes verlangt, tritt Hitler selbst (in »Mein Kampf«) für die von Friedrich List empfohlene Außenpolitik ein, das heißt für die Zusammenarbeit mit England, für die Konsolidierung des europäischen Herrschaftsbereiches, insbesondere durch den Erwerb von Ostgebieten und für den Verzicht auf koloniale Expansion. Aber gerade im Osten und Südosten Europas bilden die Juden große geschlossene Minderheiten.88 Gäbe es keine Rassentheorie, würde die Eingliederung dieser Gebiete bedeuten, daß die Juden, die der deutschen Kultur viel näher stehen als Polen, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Rumänen und Bulgaren, den nicht-jüdischen Bewohnern gleichgestellt oder gar höhergestellt wären als diese. Die Theorie von der Überlegenheit der deutschen und der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse erlaubt die völlige Versklavung der im Osten lebenden Juden und damit das Ausspielen einer Minderheit gegen die andere. Sie errichtet in der Tat eine Rassenhierarchie, indem sie den Juden keine, den Polen einige wenige, den Ukrainern (da sie auch noch in Sowjetrußland leben und umschmeichelt werden müssen) ein paar mehr und den Deutschen alle Rechte zugesteht.

Die Verwaltung des Generalgouvernements (des deutsch-besetzten Polens) trifft raffinierte Unterschiede zwischen den einzelnen Minderheiten.89 Die »Volksdeutschen«, das heißt jene, die »durch Abstammung, Sprache, Haltung, Erziehung oder sonstige Umstände Deutsche sind«, stehen an der Spitze, wenngleich sie nicht die deutsche »Reichsbürgerschaft« erwerben können. Sie erhalten eine Kennkarte (Verordnung vom 26. Januar 1940), die sie als »deutsche Volkszugehörige« ausweist. Sie werden in der deutschen Verwaltung beschäftigt und sind den deutschen »Reichsbürgern« rechtlich weitgehend gleichgestellt. Ihre Kinder können nur in deutschen Schulen unterrichtet werden. Außer ihnen erhalten nur deutsche Reichsbürger die Genehmigung zur »Jagdausübung«. Sie kommen in den Genuß der Tarifordnungen für deutsche Arbeiter und Angestellte und empfangen Sozialversicherungsleistungen, obgleich sie keinen Rechtsanspruch darauf haben. Schließlich haben sie eine volksdeutsche Gemeinschaft gebildet, eine durch Verordnung vom 19. April 1940 mit öffentlicher Rechtsfähigkeit ausgestattete Organisation.