Behemoth

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Die Reaktionäre fanden in der Kommunistischen Partei einen bequemen Prügelknaben nicht allein für den Kampf gegen Kommunisten und Marxisten, sondern gegen alle liberalen und demokratischen Gruppen. Für die Nationalsozialisten (und die italienischen Faschisten) waren Demokratie, Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus allesamt Äste ein und desselben Baumes. Jedes Gesetz, das angeblich gegen Kommunisten und Nationalsozialisten gerichtet war, wurde stets gegen die Sozialistische Partei und die gesamte Linke, aber selten gegen die Rechte angewendet.

Die Politik der Kommunistischen Partei selbst war auffallend ambivalent. Einerseits vermittelte sie den Arbeitern genügend kritische Einsichten, um die Funktionsweise des Wirtschaftssystems zu durchschauen und ließ ihnen damit wenig Glauben an die Sicherheit, die Liberalismus, Demokratie und Reformismus verhießen. Sie öffnete ihnen recht früh die Augen über den vorübergehenden und vollkommen fiktiven Charakter des nachinflationären Wirtschaftsaufschwungs. Der fünfte Weltkongreß der Komintern hatte am 9. Juni 1924 erklärt, der Kapitalismus sei in einem Stadium der akuten Krise. Obwohl diese Analyse verfrüht und die daraus folgende »linke« Taktik der KP vollkommen irrig war, beugte sie doch der Selbstzufriedenheit, die sich unter den Sozialisten breitmachte, vor. Diese sahen in dem mit Auslandsanleihen finanzierten Boom die Lösung aller Wirtschaftsprobleme und hielten jeden sozialdemokratischen Bürgermeister oder Stadtkämmerer für ein Finanzgenie ersten Ranges, wenn es ihm gelang, von den USA einen Kredit zu bekommen. Selbst auf dem absoluten Höhepunkt des Booms prophezeiten die kommunistischen Führer, daß der Welt eine schwere Wirtschaftskrise bevorstehe, und so war ihre Partei gegen die Gefahren des reformistischen Optimismus gefeit.

Andererseits wurden die verdienstvollen Seiten der kommunistischen Analyse durch den zutiefst rückständigen Charakter ihrer Politik und Taktik mehr als aufgewogen: der Verbreitung des Führerprinzips innerhalb der Partei und Zerstörung der innerparteilichen Demokratie als einer Folge der völligen Abhängigkeit von der Politik der sowjetischen KP, dem starken Übergewicht der »revolutionären« Gewerkschaftstaktik, der »national-bolschewistischen Linie«, der Lehre vom Sozialfaschismus, der Parole der Volksrevolution und schließlich dem häufigen Wechsel der Parteilinie.

Der einzige andere potentielle Verbündete, die katholische Zentrumspartei, erwies sich als vollkommen unzuverlässig. Unter Erzberger und eine gewisse Zeit unter Josef Wirth hatte das Zentrum die mitreißendste demokratische Führung gestellt, die die Republik je erlebte. Mit dem Wachstum der Reaktion gewann indes der rechte Flügel mehr und mehr das Übergewicht in der Partei, wobei Brüning der Vertreter der gemäßigten Konservativen und Papen der Sprecher des reaktionären Teils war. Von den übrigen Parteien verschwand die Demokratische Partei von der politischen Bühne, und zahlreiche Splittergruppen versuchten, ihren Platz als Sprachrohr des Mittelstandes einzunehmen. Hausbesitzer, Handwerker, kleine Bauern bildeten ihre eigenen Parteien; »Aufwertungsanhänger« organisierten eine eigene politische Bewegung. Sie alle konnten eine gewisse politische Repräsentation erlangen, weil das System der Verhältniswahl jeder Sektiererbewegung eine Stimme zugestand und das Zustandekommen solider Mehrheiten verhinderte.

5. Die Konterrevolution

Schon an dem selben Tag des Jahres 1918, da die Revolution ausbrach, begann sich die konterrevolutionäre Partei zu organisieren. Sie versuchte sich in vielerlei Formen und mit zahlreichen Mitteln, lernte aber bald, daß sie nur mit Hilfe, niemals aber gegen den Staatsapparat zur Macht kommen konnte. Der Kapp-Putsch von 1920 und der Hitler-Putsch von 1923 hatten dies erwiesen.

Im Zentrum der Konterrevolution stand die Justiz. Anders als Verwaltungsakte, die sich aus Erwägungen der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit ergeben, beruhen richterliche Entscheidungen auf dem Gesetz, das heißt auf Recht und Unrecht. Stets stehen sie im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Gerade wegen des Glorienscheins, der die Begriffe ›Recht‹ und ›Gerechtigkeit‹ umgibt, ist das Gesetz wohl die verderblichste aller Waffen im politischen Kampf. »Das Recht«, sagte Hocking, »ist in psychologischer Hinsicht ein Wert, dessen Mißachtung mit tieferem Abscheu begegnet wird als das Unrecht selbst es rechtfertigen würde, ein Abscheu, der sich bis zur Leidenschaft steigern kann, für die die Menschen Leben und Eigentum wie für keinen anderen Zweck riskieren«.33 Wenn sie ›politisch‹ wird, erzeugt die ›Gerechtigkeit‹ Haß und Verzweiflung bei denen, die sie treffen will. Auf der anderen Seite entwickeln jene, die von ihr begünstigt werden, eine tiefe Verachtung für den Wert der Gerechtigkeit selbst, denn sie wissen, daß sie für die Mächtigen käuflich ist. Als Mittel, eine politische Gruppe auf Kosten einer anderen zu stärken, den Gegner auszuschalten und den politischen Verbündeten zu stützen, bedroht das Gesetz sodann die fundamentalen Überzeugungen, auf denen die Tradition unserer Zivilisation ruht.

In jedem Gesetzessystem finden sich vielfältige technische Möglichkeiten, das Recht zu politischen Zwecken zu pervertieren. Im republikanischen Deutschland waren sie genau so zahlreich wie die Paragraphen des Strafgesetzbuches.34 Vielleicht lag das hauptsächlich am Charakter des Strafprozesses selbst, denn im Unterschied zum amerikanischen System ist die dominierende Gestalt im deutschen Verfahren nicht der Anwalt, sondern der vorsitzende Richter. Die Macht des Richters wurde zudem Jahr für Jahr gestärkt. In politischen Fällen wurden jene Gesetzesbestimmungen bevorzugt, die strafwürdige Beleidigungen und Spionage bestrafen – das sogenannte Gesetz zum Schutze der Republik und vor allem die Hochverratsparagraphen (80 und 81) des Strafgesetzbuches. Eine vergleichende Analyse dreier causes célèbres wird hinreichend klarstellen, daß die Weimarer Strafgerichtshöfe ein untrennbarer Bestandteil des anti-demokratischen Lagers waren.

Nach dem Zusammenbruch der bayerischen Räterepublik im Jahre 1919 fällten die Gerichte die folgenden Urteile:

407 Personen: Festung

1737 Personen: Gefängnis

65 Personen: Zuchthaus

Jeder Anhänger der Räterepublik, der auch nur im entferntesten mit dem erfolglosen Coup zu tun hatte, wurde abgeurteilt.

Der Gegensatz zur strafgerichtlichen Behandlung des rechtsgerichteten Kapp-Putsches von 1920 hätte nicht vollkommener sein können. 15 Monate nach dem Putsch, am 21. Mai 1921, teilte das Reichsjustizministerium amtlich mit, daß insgesamt in 705 Fällen wegen Hochverrats ermittelt worden war. Davon fielen

412 nach Ansicht der Gerichte unter das Amnestiegesetz vom 4. August 1920, obwohl die Anführer des Putsches von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausdrücklich ausgenommen waren; außerdem waren

108 durch Tod und andere Gründe hinfällig geworden, wurde in

174 Fällen das Verfahren eingestellt, während

11 noch nicht abgeschlossen waren.

Nicht eine einzige Person war bestraft worden. Dabei ist das Bild, das die Statistik zeigt, noch gar nicht vollständig. Von den elf Verfahren, die am 21. Mai 1921 noch schwebten, endete nur eines mit einem Urteil: der frühere Polizeipräsident von Jagow aus Berlin bekam fünf Jahre Ehrenhaft. Als der preußische Staat Jagow die Pension aberkannte, sprach das Oberste Reichsgericht sie ihm wieder zu. Der führende Kopf des Putsches, Dr. Kapp, starb vor Beginn des Verfahrens. Von den übrigen Anführern waren mehrere, wie der General von Lüttwitz und die Majore Papst und Bischoff, geflüchtet; General Ludendorff wurde nicht strafrechtlich verfolgt, weil das Gericht sich dafür entschied, seine Ausrede, er sei nur zufällig dabeigewesen, anzuerkennen; bei General von Lettow-Forbeck, der eine ganze Stadt für Kapp besetzt hatte, wurde erklärt, daß er kein Anführer, sondern lediglich ein Mitläufer gewesen sei.

Das dritte signifikante Beispiel ist die gerichtliche Behandlung des fehlgeschlagenen Hitler-Putsches von 1923 in München.35 Hitler, Pöhner, Kriebel und Weber wurden zu fünf Jahren, Röhm, Frick, Brückner, Pernet und Wagner zu einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Ludendorff war wieder einmal rein zufällig dabei gewesen und wurde freigesprochen. Obwohl Absatz 9 des Gesetzes zum Schutze der Republik klar und unmißverständlich die Ausweisung jedes des Hochverrats überführten Ausländers bestimmte, setzte der Münchener Volksgerichtshof Hitler mit dem Scheinargument auf freien Fuß, daß er sich trotz seiner österreichischen Staatsbürgerschaft als Deutscher fühle.

Es wäre müßig, die Geschichte der politischen Justiz der Weimarer Republik im Detail zu erzählen. Einige wenige weitere Beispiele mögen genügen. Das Strafgesetzbuch schuf das Verbrechen des »Landesverrats«, um damit den Verrat militärischer oder anderer Geheimnisse an ausländische Agenten zu ahnden. Die Gerichte fanden jedoch prompt eine spezielle politische Verwendung für diese Bestimmung. Nachdem der Versailler Vertrag Deutschland zur Entwaffnung gezwungen hatte, förderte die Reichswehr die Bildung geheimer und illegaler Wehrverbände, der sogenannten Schwarzen Reichswehr. Wenn Liberale, Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten diese Verletzung der internationalen Verpflichtungen wie des deutschen Rechtes (denn der Vertrag war Teil des deutschen Rechtssystems geworden) brandmarkten, wurden sie verhaftet und wegen durch die Presse begangenen Landesverrats angeklagt. Auf diese Weise schützten die Gerichte die illegale und reaktionäre Schwarze Reichswehr. Andererseits wurden von der Schwarzen Reichswehr an angeblichen Verrätern in ihren eigenen Reihen verübte Morde (die berüchtigten Fememorde) entweder überhaupt nicht gesühnt oder mit geringfügigen Strafen geahndet.36

 

In den Prozessen gegen Nationalsozialisten wurden die Gerichte ausnahmslos zum Resonanzboden für deren Propaganda. Als Hitler bei einem Prozeß gegen eine Gruppe wegen Hochverrats angeklagter nationalsozialistischer Offiziere als Zeuge auftrat, gestattete man ihm, eine zweistündige Brandrede zu halten, die mit Beschimpfungen hoher Regierungsbeamter und Drohungen gegen seine Feinde vollgepackt war, ohne daß er wegen Mißachtung des Gerichts verhaftet worden wäre. Die neuen Techniken der Rechtfertigung und Propagierung des Nationalsozialismus gegen die Weimarer Republik wurden als geeignete Schritte, die kommunistische Gefahr abzuwenden, verteidigt. Der Nationalsozialismus ist ein Hüter der Demokratie, so tönte es, und die Gerichte waren nur zu gern bereit, die oberste Maxime jeder Demokratie und jedes Staates zu vergessen, daß die Zwangsgewalt ein durch seine Armee und Polizei ausgeübtes Monopol des Staates sein muß, und daß eine Gruppe von Privatpersonen oder ein einzelner nicht einmal unter dem Vorwand, den Staat retten zu wollen, zu seiner Verteidigung zur Waffe greifen darf, es sei denn, die souveräne Macht hätte dazu aufgerufen oder ein wirklicher Bürgerkrieg wäre ausgebrochen.

1932 deckte die Polizei eine nationalsozialistische Verschwörung in Hessen auf. Ein gewisser Dr. Best, später ein hoher Beamter des Regimes, hatte einen sorgfältigen Plan für einen coup d’état ausgearbeitet, und schriftliche Beweise dafür lagen vor (die Boxheimer Dokumente).37 Nichts wurde unternommen. Man glaubte Dr. Best, als er erklärte, daß er nur im Falle einer kommunistischen Revolution von seinem Plan Gebrauch machen wollte.

Es ist unmöglich, die Schlußfolgerung zu umgehen, daß die politische Justiz das schwärzeste Kapitel im Leben der deutschen Republik darstellt. Die Reaktion machte mit stetig zunehmender Intensität von der Waffe der ›Rechtsprechung‹ Gebrauch. Darüber hinaus erstreckt sich diese Anklage auf die gesamte Tätigkeit der Justiz, und ganz besonders auf den Wandel im Rechtsdenken und der Position des Richters, der in dem neuen Grundsatz des richterlichen Prüfungsrechts der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen gipfelte, eines Mittels zur Sabotierung sozialer Reformen. Die Macht der Richter wuchs hierbei auf Kosten des Parlaments38.

Der Niedergang der Parlamente stellt eine allgemeine Tendenz im Europa der Nachkriegszeit dar. In Deutschland wurde sie aufgrund spezifisch deutscher Verhältnisse, vor allem der monarchistisch-nationalistischen Tradition der Bürokratie, verschärft. Jahre zuvor hatte Max Weber darauf hingewiesen, daß die Sabotage der Macht des Parlaments dann beginnt, wenn dieses Organ aufhört, ein bloßer Honoratioren-Klub zu sein.39 Wenn Abgeordnete einer progressiven Massenpartei gewählt werden und die Gefahr besteht, daß sie die Legislative zu einer Institution für tiefgreifende soziale Veränderungen verwandeln, dann entstehen unweigerlich antiparlamentarische Tendenzen in der einen oder anderen Form. Die Kabinettsbildung wird zu einer überaus schwierigen und heiklen Angelegenheit, denn nun repräsentiert jede Partei eine Klasse, deren Interessen und Anschauungen sich von den anderen stark unterscheiden. So zogen sich zum Beispiel die Verhandlungen zwischen der Sozialdemokratischen Partei, dem katholischen Zentrum, den Demokraten und der Deutschen Volkspartei über vier Wochen hin, ehe die letzte voll verfassungsmäßige Regierung, das Kabinett Müller, im Mai 1928 gebildet werden konnte. Die politischen Differenzen zwischen der Deutschen Volkspartei als Repräsentantin des Unternehmertums und der die Arbeiter repräsentierenden Sozialdemokratischen Partei waren so tiefgehend, daß nur ein sorgsam ausgehandelter Kompromiß sie überhaupt zusammenbringen konnte, während das katholische Zentrum wegen seiner Unzufriedenheit über die ungenügende Ämterpatronage stets im Streit mit den anderen lag.

Ein dermaßen brüchiges Gebilde konnte die Störung seines empfindlichen Gleichgewichts nicht allzu leicht gestatten, und wann immer parlamentarische Prinzipien die Gewichte verschieben mochten, mußte es modifiziert werden. Kritik der Regierungsparteien mußte heruntergespielt werden, und tatsächlich wurde auch nur zweimal vom Tadelsvotum Gebrauch gemacht. Wenn keine Übereinstimmung unter den Parteien erzielt werden konnte, wurden »Kabinette von Fachleuten« (wie das berühmte Kabinett Cuno im Jahre 1923) gebildet, die angeblich über den politischen Parteien und deren Streitigkeiten stehen. Dieses Zerrbild einer parlamentarischen Demokratie wurde zum Ideal der Reaktionäre, denn es erlaubt ihnen, ihre antidemokratische Politik unter dem Deckmantel des Experten zu verbergen. Die daraus folgende Unmöglichkeit, das Handeln des Kabinetts parlamentarischer Kontrolle zu unterstellen, war das erste Anzeichen für das Schwinden parlamentarischer Macht.

Die tatsächliche politische Macht des Reichstags entsprach zu keiner Zeit den weitgehenden Befugnissen, die ihm von der Verfassung zugedacht waren. Zum Teil läßt sich dies mit dem auffallenden sozialen und ökonomischen Wandel erklären, der in Deutschland stattgefunden und eine hohe Komplexität des wirtschaftlichen Lebens hervorgebracht hatte. Die zunehmende Reglementierung des ökonomischen Bereiches führte zur Schwerpunktverlagerung von der Legislative zur Bürokratie, und der zunehmende Interventionismus machte es dem Reichstag technisch unmöglich, die administrative Macht gänzlich zu kontrollieren oder auch nur seine eigenen Gesetzgebungsrechte voll wahrzunehmen. Das Parlament war genötigt, legislative Verfügungsmacht zu delegieren. Dennoch hätte die Demokratie wohl überleben können – aber nur, wenn das demokratische Wertsystem fest in der Gesellschaft verankert gewesen, die Delegation von Macht nicht dazu benutzt worden wäre, Minderheiten ihrer Rechte zu berauben, und wenn sie nicht als Schutzschild gedient hätte, hinter dem antidemokratische Kräfte das Geschäft weiter betrieben, eine bürokratische Diktatur zu errichten.

Es wäre falsch anzunehmen, daß der Verfall der parlamentarischen Gesetzgebungsmacht lediglich ein Resultat der letzten, der präfaschistischen Periode der Deutschen Republik, also etwa der Zeit von 1930 bis 1933, gewesen sei. Der Reichstag war nie sehr darauf bedacht, das alleinige Gesetzgebungsrecht zu bewahren; schon von den ersten Tagen der Republik an entwickelten sich nebeneinander drei konkurrierende Arten der Gesetzgebung. Bereits 1919 gab der Reichstag freiwillig seine höchste Gewalt im Bereich der Gesetzgebung auf, indem er ein Ermächtigungsgesetz verabschiedete, das dem Kabinett, d. h. der Ministerialbürokratie, weitreichende Machtbefugnisse übertrug. Ähnliche Bestimmungen wurden 1920, 1921, 1923 und 1926 eingeführt.

Das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923, um nur ein Beispiel zu nennen, autorisierte die Reichsregierung, »die Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Gebieten für erforderlich und dringend erachtet«, und mit dieser Vollmacht wurden folgende Maßnahmen verkündet: eine Verordnung über die Stillegung von Fabriken, die Gründung der Deutschen Rentenbank, über Währungsregelungen und die Änderungen des Einkommenssteuergesetzes, schließlich eine Verordnung, die eine Kontrolle von Kartellen und Monopolen einführte. In den fünf Jahren von 1920 bis 1924 ergingen 450 Regierungsverordnungen gegenüber 700 parlamentarischen Gesetzen. Die gesetzgebende Gewalt des Kabinetts nahm also faktisch gleichzeitig mit der Geburt des deutschen parlamentarischen Systems ihren Anfang.

Das zweite Kennzeichen parlamentarischen Niedergangs ist im Charakter des Gesetzes selbst zu finden. Die Komplexität des Gesetzgebungsverfahrens brachte den Reichstag dazu, lediglich unbestimmte allgemeine Grundsätze festzulegen und dem Kabinett die Verfügungsmacht über die Anwendung und den Vollzug zu überlassen.

Der dritte und letzte Schritt war das auf Artikel 48 der Verfassung beruhende präsidiale Notverordnungsrecht. Zwar besaß der Reichstag das verfassungsmäßige Recht, solche Notstandsgesetze zu widerrufen, doch war dies nur ein geringer Trost, da dieses Recht eher ein scheinbares als ein reales war. Sind die Maßnahmen erst einmal in Kraft getreten, dann haben sie tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Leben, und obschon es dem Parlament als leicht vorgekommen sein mag, eine Notverordnung aufzuheben (z. B. die Senkung der Kartellpreise und Löhne), konnte es doch eine Ersatzregelung nicht so leicht verabschieden. Diese Erwägung spielte eine gewisse Rolle bei der Haltung des Reichstages gegenüber den Brüning-Verordnungen von 1930, die tiefe Veränderungen für die Wirtschafts- und Sozialstruktur der deutschen Nation brachten. Ein bloßer Widerruf hätte den Fluß des nationalen Lebens unterbrochen. Eine Ersatzregelung konnte aber aufgrund der Gegensätze zwischen den verschiedenen im Parlament vertretenen Gruppen nicht Zustandekommen. Tatsächlich waren die Parteien, so sehr sie die Delegierung der Gesetzgebungsgewalt an den Präsidenten und die Bürokratie auch verurteilen mochten, oft recht froh, der Verantwortung enthoben zu sein.

Der Angelpunkt jedes parlamentarischen Regierungssystems ist das Budgetkontrollrecht der Legislative, und eben dies brach in der Weimarer Republik zusammen. Die Verfassung hatte den Reichstag insofern etwas eingeschränkt, als sie ihm verbot, Ausgabenerhöhungen zu beschließen, nachdem das Kabinett seinen Haushaltsplan vorgelegt hatte – es sei denn, der Reichsrat stimmte ihnen zu. Abgesehen von dieser Einschränkung waren jedoch sichtlich alle notwendigen Garantien des parlamentarischen Budgetrechts in der »Reichshaushaltsordnung« vom 31. Dezember 1922 und in den Artikeln 85, 86 und 87 der Verfassung verankert worden. Dennoch blieben genügend Gesetzeslücken, die der Bürokratie ständige Übergriffe ermöglichten. Die Buch- und Rechnungsprüfung wurde dem Reichstag ganz entzogen und dem »Rechnungshof für das Deutsche Reich« übertragen, einem Verwaltungsgremium, das von Regierung und Parlament unabhängig war und dem kein Parlamentsmitglied angehören durfte. Schließlich war die Position des Finanzministers gegenüber seinen Kabinettskollegen so stark, daß er gegen jede kleinere Ausgabe allein und gegen andere Ausgaben zusammen mit dem Kanzler – selbst gegen die Mehrheitsentscheidung des ganzen Kabinetts – Einspruch erheben konnte. Zuletzt erließ der Reichspräsident das Budget gegen das Wort der Verfassungsrichter auf dem Notverordnungswege.

Wieder sehen wir in Deutschland lediglich die spezifische Ausprägung einer allgemeinen Tendenz. Wie das englische Beispiel zeigt, besteht im Interventionsstaat immer die Neigung zum Verfall der Budgetrechte des Parlaments. Die fixen Ausgabenposten steigen zu Lasten des parlamentarisch noch zu bewilligenden zusätzlichen Etats. Wo es einen riesigen bürokratischen Apparat als Dauereinrichtung und eine zunehmende staatliche Aktivität in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft gibt, werden die Ausgaben zu feststehenden und permanenten, die faktisch nicht mehr in die Rechtszuständigkeit des Parlaments fallen. In Deutschland wurden zudem nur die Einnahmen und Ausgaben des Reiches selbst im Etat aufgeführt. Die Finanzoperationen der unabhängigen reichseigenen Wirtschaftsunternehmen, ob öffentlich- oder privatrechtlich organisiert, lagen außerhalb der Budgetkontrolle. Post und Eisenbahn, Bergbauunternehmen und Fabriken, die Eigentum des Reiches waren, waren vom Budget unabhängig. Lediglich ihre Bilanzen wurden entweder als Einnahmen des Reiches oder als Subventionsforderungen an das Reich aufgeführt.

Diese ganze Entwicklung stand in völligem Einklang mit den Wünschen der deutschen Industrie. Ihre wichtigste Interessenorganisation, der Reichsverband der Deutschen Industrie, forderte sogar noch weitergehende Beschränkungen der Budgetrechte des Reichstags. Die Deutsche Volkspartei nahm seine Vorschläge in ihr Parteiprogramm auf. Sie bestand darauf, daß sämtliche Ausgaben von der Regierung gebilligt werden müßten, und daß dem Rechnungshof als Aufsichtsbehörde eine entscheidende Position bei der Annahme oder Ablehnung des Haushalts eingeräumt werden müsse. Dr. Popitz, der führende Experte für Staatsfinanzen im Reichsfinanzministerium, sprach den Grund für diesen Versuch, das Budgetrecht des Reichstages zu sabotieren, offen aus. Das allgemeine Wahlrecht, so sagte er, habe Gesellschaftsschichten in den Reichstag gebracht, die keine hohen Einkommensteuern und Sonderabgaben zahlten.40

Der Abbau der parlamentarischen Oberhoheit kam dem Reichspräsidenten und daher der Ministerialbürokratie zugute. In Anlehnung an das amerikanische Vorbild sah die Weimarer Verfassung die Volkswahl des Präsidenten vor. Aber hier endet auch schon die Ähnlichkeit der beiden Verfassungssysteme. In den USA ist der Präsident die unabhängige Spitze der Exekutive des Regierungssystems, während die Anordnungen des deutschen Reichspräsidenten vom zuständigen Minister oder vom Kanzler, der die politische Verantwortung für die Handlungen und Erklärungen des Präsidenten übernahm, gegengezeichnet werden mußten.

 

Dennoch hatte der deutsche Präsident relativ viel Freiheit. Zunächst verschaffte ihm die Volkswahl eine gewisse unabhängige Position gegenüber den verschiedenen Parteien. Er konnte den Kanzler und die Minister seiner Wahl ernennen; er war an keinerlei Verfassungsbrauch der englischen Tradition, den Führer der siegreichen Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen, gebunden. Die Präsidenten Ebert und von Hindenburg bestanden beide darauf, ihre Wahl frei und unabhängig zu treffen. Das Recht, den Reichstag aufzulösen, gab dem deutschen Präsidenten weitere politische Macht. Die Bestimmung, daß er dies nur einmal aus dem gleichen Grunde tun könne, war leicht zu umgehen.

Gleichwohl konnte der Reichspräsident nicht als »Hüter der Verfassung« bezeichnet werden, wie ihn die antidemokratischen Theoretiker hinzustellen pflegten. Er repräsentierte die Demokratie durchaus nicht und war weit davon entfernt, ein neutrales Staatsoberhaupt zu sein, das über Parteienhader und Sonderinteressen stehe. Während der gesamten Weimarer Republik und insbesondere bei Hindenburg war die Präsidentenschaft in hohem Maße parteilich. Politische Gruppen arrangierten und finanzierten die Wahl des Präsidenten; er blieb abhängig von den Gruppen der Parteigänger, die ihn umgaben und ihn berieten. Er hatte Präferenzen und eine politische Linie, die er weit über die ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen hinaus zu verfolgen suchte. Als Kommunisten und Sozialisten durch ein Volksbegehren die Fürstenhäuser enteignen wollten, verurteilte Reichspräsident von Hindenburg dieses Vorhaben in einem offenen Brief (vom 22. Mai 1926) und scherte sich nicht einmal darum, die Unterschrift des Reichskanzlers einzuholen, sondern insistierte darauf, daß ein solcher Brief seine Privatangelegenheit sei. Als er Brüning zum zweiten Mal zum Reichskanzler ernannte, verlangte Hindenburg die Aufnahme zweier seiner konservativen Freunde (Treviranus und Schiele) in das Kabinett. Dann verriet er sie. Eberts Autorität war beschränkt gewesen. Da er Sozialist war, konnte er nicht die Achtung erlangen, die dem ersten Mann der Republik eigentlich gebührte. Aber Hindenburg war der Feldmarschall, der große Soldat, der Vater. Das war etwas anderes, ganz besonders nachdem Brüning einen wahren Hindenburg-Mythos geschaffen hatte, um dessen Wiederwahl im Jahre 1932 sicherzustellen. Hindenburgs Stärke lag hauptsächlich in seinen engen Beziehungen zur Armee und zu den ostelbischen Großgrundbesitzern. Von 1930 an, als die Anwesenheit von 107 nationalsozialistischen Abgeordneten eine ordentliche parlamentarische Gesetzgebungsarbeit nahezu unmöglich machte, wurde er zum alleinigen Gesetzgeber, indem er die Notverordnungsbefugnisse des Artikels 48 der Verfassung ausnutzte.41

Die durch den Versailler Vertrag auf 100 000 Mann reduzierte Reichswehr war nach wie vor die Hochburg des Konservativismus und Nationalismus. Da die Soldatenkarriere nun vielen verschlossen war, und man in der Armee nur langsam befördert wurde, überrascht es nicht, daß das Offizierskorps militant antidemokratisch wurde und den Parlamentarismus schmähte, weil er seine Nase zu tief in die Geheimnisse der Heeresausgaben steckte, und daß es die Sozialisten verabscheute, weil sie den Versailler Vertrag und die Zerstörung der Obergewalt des deutschen Militarismus hingenommen hatten. Wann immer es zu einer politischen Krise kam, stellte sich die Armee ausnahmslos auf die Seite der antidemokratischen Elemente. Hitler selbst war ein Produkt der Reichswehr, die sich seiner bereits 1918 und 1919 als Redner und Propagandafunktionär bedient hatte. Das alles kann nicht überraschen. Überraschend aber ist, daß der demokratische Apparat diese Situation tolerierte. Die Reichswehrminister, der unvermeidliche Gessler und der demokratisch loyalere General Groener, befanden sich in einer außerordentlich doppeldeutigen verfassungsmäßigen Lage. Als Kabinettsmitglieder unterlagen sie parlamentarischer Kontrolle und Verantwortlichkeit, aber als Untergebene des Präsidenten, des Oberbefehlshabers der Armee, waren sie der Kontrolle durch das Parlament entzogen. In der Praxis wurde dieser Widerspruch leicht aufgelöst: die Reichswehrminister sprachen für die Armee und gegen den Reichstag. In der Tat identifizierten sie sich so vollkommen mit der Militärbürokratie, daß die parlamentarische Kontrolle über das Militär eigentlich verschwand.

6. Der Zusammenbruch der Demokratie

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften waren gegenüber den von vielen Seiten kommenden Angriffen auf die Weimarer Demokratie vollständig hilflos. Vorsichtige Versuche wurden unternommen, den Gedanken einer Wirtschaftsdemokratie zu verbreiten, doch erwies sich diese neue Ideologie sogar als noch weniger attraktiv denn das alte sozialistische Programm. Die angestellten Gehaltsempfänger blieben uninteressiert; die Mitgliederzahl der den sozialistischen Gewerkschaften angeschlossenen Beamtenorganisation ging von 420 000 im Jahre 1922 auf 172 000 im Jahre 1930 zurück, während der sogenannte neutrale, faktisch aber nationalistische Beamtenbund im Jahre 1930 1 043 000 Mitglieder, vor allem aus den mittleren und unteren Rängen, zählte. Die Bedeutung dieser Zahlen liegt auf der Hand.

Die Sozialdemokratische Partei war in Widersprüchen befangen. Obwohl sie immer noch für sich in Anspruch nahm, eine marxistische Partei zu sein, war ihre Politik schon lange eine rein gradualistische. Sie brachte nie den Mut auf, sich für eines von beidem zu entscheiden, für die traditionelle Ideologie oder für die reformistische Politik. Ein radikaler Bruch mit der Tradition und die Aufgabe des Marxismus hätte Tausende ihrer Anhänger in das kommunistische Lager getrieben. Andererseits hätte der Verzicht auf den Gradualismus zugunsten einer revolutionären Politik bedeutet, daß die vielen die SPD an den bestehenden Staat kettenden Bande zerrissen worden wären. Daher verharrten die Sozialisten in dieser doppeldeutigen Position und waren außerstande, ein demokratisches Bewußtsein zu schaffen. Die Weimarer Verfassung, auf der Rechten von Deutschnationalen, Nationalsozialisten und reaktionären Liberalen, auf der Linken von den Kommunisten attackiert, blieb für die Sozialdemokraten lediglich eine Übergangserscheinung, ein erster Schritt zu einer größeren und besseren Zukunft. Und ein Übergangsgebilde kann nicht gerade große Begeisterung wecken.42

Deshalb war das ideologische, ökonomische, soziale und politische System schon vor Beginn der großen Krise nicht mehr richtig funktionsfähig. Welchen Anschein der Erfolgstüchtigkeit es auch immer erweckt haben mag – sie beruhte in erster Linie auf der Tolerierung durch die antidemokratischen Kräfte und der trügerischen, durch die Auslandsanleihen ermöglichten Prosperität. Die Krise legte die versteinerte traditionelle soziale und politische Struktur offen und verstärkte sie. Die Gesellschaftsverträge, auf denen diese Struktur beruhte, lösten sich auf. Die Demokratische Partei verschwand, das katholische Zentrum rückte nach rechts, während Sozialdemokraten und Kommunisten weit mehr Energie darauf verwandten, sich gegenseitig zu bekämpfen, als gegen die wachsende Bedrohung durch den Nationalsozialismus vorzugehen. Die Nationalsozialistische Partei ihrerseits häufte Schimpf und Schande auf die Sozialdemokraten. Sie prägte das Schmähwort von den Novemberverbrechern, einer Partei der Korruption und des Pazifismus, verantwortlich für die Niederlage von 1918, den Versailler Vertrag und die Inflation. Der Produktionsausstoß der deutschen Industrie war stark zurückgegangen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg43: im Januar 1932 wurden sechs Millionen registriert, und wahrscheinlich gab es noch weitere zwei Millionen sogenannter unsichtbarer Arbeitsloser. Nur ein kleiner Teil von ihnen erhielt Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung, und eine ständig größer werdende Zahl bekam keinerlei Hilfe. Die erwerbslosen Jugendlichen wurden ein Problem für sich. Hunderttausende hatten nie einen Arbeitsplatz besessen. Arbeitslosigkeit wurde zu einem Status und in einer Gesellschaft, in der Erfolg über allem steht, zu einem Schandmal. Im Norden revoltierten die Bauern, während die Großgrundbesitzer nach finanzieller Unterstützung riefen. Kleine Geschäftsinhaber und Handwerker standen vor dem Ruin. Hausbesitzer konnten ihre Mieten nicht kassieren. Banken brachen zusammen und gingen in den Besitz der Reichsregierung über. Sogar die Hochburg der industriellen Reaktion, die Vereinigten Stahlwerke, waren dem Zusammenbruch nahe, und ihre Aktien wurden von der Reichsregierung zu Preisen, die weit über den Marktwerten lagen, aufgekauft. Die Haushaltslage wurde prekär. Die Reaktionäre weigerten sich, ein großangelegtes Arbeitsbeschaffungsprogramm zu unterstützen, damit nicht die schwindende Macht der Gewerkschaften wieder zunähme, deren finanzielle Reserven versiegten und deren Mitgliederzahl zurückging.