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Die Lage war verzweifelt und erforderte verzweifelte Maßnahmen. Die SPD hatte die Wahl, entweder über eine Einheitsfront mit den Kommunisten unter sozialistischer Führung den Weg der politischen Revolution zu beschreiten, oder mit den Semi-Diktaturen Brünings, Papens und Schleichers in dem Versuch zusammenzuarbeiten, der größeren Gefahr, Hitler, zu wehren. Es gab keine andere Wahl. Die Sozialdemokratische Partei stand vor der schwersten Entscheidung ihrer Geschichte. Gemeinsam mit den Gewerkschaften entschied sie sich dafür, die Brüning-Regierung zu tolerieren, als im September 1930 107 nationalsozialistische Abgeordnete in den Reichstag einzogen und das Zustandekommen einer parlamentarischen Mehrheit unmöglich machten. Tolerieren hieß weder offene Unterstützung noch offener Angriff. Die ideologische Rechtfertigung dieser Politik erfolgte in der programmatischen Rede von Fritz Tarnow, dem Delegierten und Vorsitzenden der Holzarbeitergewerkschaft, auf dem letzten Parteitag (1931):

»Nun stehen wir … am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch – ja, was soll ich sagen? – als Arzt, der heilen will? Oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? … Wir sind nämlich, wie mir scheint, dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will, und dennoch das Gefühl aufrechtzuerhalten, daß wir Erben sind, die lieber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen sollen.«44

Dies war die Politik eines Mannes, der von seinen Feinden gejagt wird, aber sich weigert, entweder seinen Untergang hinzunehmen oder zurückzuschlagen, und der Ausflüchte über Ausflüchte erfindet, um seine Untätigkeit zu rechtfertigen.

Der Politik des kleineren Übels weiter folgend, unterstützte die Partei die Wiederwahl Hindenburgs im April 1932.


Hindenburg zahlte seine Schuld prompt zurück, indem er den Staatsstreich vom 20. Juni 1932 über die Bühne gehen ließ und anstelle der rechtmäßig gewählten preußischen Landesregierung unter Otto Braun (SPD) seinen Günstling Papen einsetzte. Alles, was die Sozialdemokratische Partei dagegen unternahm, war ein Appell an den Verfassungsgerichtshof, der ein Kompromißurteil sprach, das die politische Situation nicht antastete; Papen blieb als Reichskommissar für Preußen. Die Sozialdemokratische Partei wurde völlig demoralisiert; die letzte Hoffnung eines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten schien geschwunden zu sein.

Die Kommunisten waren nicht weniger optimistisch gewesen als die Sozialisten, wenn auch aus anderen Gründen. »Wir … stellten nüchtern und ernst fest«, so sagte Thälmann, »daß der 14. September gewissermaßen Hitlers bester Tag« war, »dem keine besseren, aber eher schlechtere folgen werden«45. Sie erwarteten in unmittelbarer Zukunft eine soziale Revolution, die zur Diktatur des Proletariats führen werde. Bei den Novemberwahlen von 1932 verloren die Nationalsozialisten 34 Sitze. Die Sozialdemokraten, die nur in parlamentarischen Kategorien dachten, frohlockten: Der Nationalsozialismus ist geschlagen. Rudolf Hilferding, ihr führender Theoretiker und Herausgeber der Parteizeitschrift »Die Gesellschaft«, veröffentlichte in der Ausgabe vom Januar 1933 einen »Zwischen den Entscheidungen« überschriebenen Artikel. Er meinte, daß der Nationalsozialismus durch die parlamentarische Legalität blokkiert werde (Malapartes Vorstellung)46. Hilferding wurde kühn. Er verweigerte die Zusammenarbeit mit Schleicher, Hitlers unmittelbarem Vorgänger, und lehnte die Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei ab. Das Hauptziel der Sozialisten, so sagte er, ist der Kampf gegen den Kommunismus. Er verspottete Hitlers Versuch, diktatorische Machtbefugnisse von Hindenburg zu erhalten: »Ohne die Revolution die Resultate der Revolution zu fordern, diese politische Konstruktion konnte nur im Gehirn eines deutschen Politikers entstehen.«47 Hilferding vergaß dabei, daß der italienische Politiker Mussolini genau dieselbe Idee besessen und sie erfolgreich verwirklicht hatte.

Nur wenige Tage nach Erscheinen von Hilferdings Artikel übernahm Hitler die Macht. Am 4. Januar 1933 arrangierte der Kölner Bankier Kurt von Schröder, dessen Name in der Geschichte des Nationalsozialismus eine tiefe Bedeutung gewann, jene Unterredung zwischen Papen und Hitler, die eine Aussöhnung der alten reaktionären Gruppen mit der neuen konterrevolutionären Bewegung herbeiführte und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar den Weg ebnete. Es war die Tragik der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften, daß ihre führenden Männer zwar hohe intellektuelle Qualitäten besaßen, aber bar jeden Gefühls für die Verfassung der Massen und ohne jede Einsicht in die großen gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit waren.

Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei besaß keine Ideologie, war aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammengewürfelt und zögerte niemals, den Bodensatz aller Bevölkerungsteile aufzunehmen, wurde von der Armee, der Justiz und von Teilen der Beamtenschaft unterstützt, von der Industrie finanziert, machte sich die antikapitalistischen Gefühle der Massen zunutze und war doch vorsichtig genug, die einflußreichen Geldgeber nie zu verprellen. Terror und Propaganda bemächtigten sich der schwachen Stellen der Weimarer Demokratie, und von 1930 bis 1933 war sie nur noch eine einzige große schwache Stelle.

»Ein Mann, der die Macht besitzt«, sagte Woodrow Wilson in seiner Botschaft in Kansas am 6. Mai 1911, »der aber gewissenlos ist, könnte, wenn er eine beredte Zunge hat und sich um nichts anderes als seine eigene Macht kümmert, dieses ganze Land in Brand setzen, weil dieses ganze Land glaubt, daß etwas nicht stimmt, und weil es begierig ist, jenen zu folgen, die vorgeben, es aus seinen Schwierigkeiten herausführen zu können.«48

7. Versuch einer Zusammenfassung

Jedes Gesellschaftssystem muß die primären Bedürfnisse seiner Menschen auf die eine oder andere Weise befriedigen. Dem Kaiserreich gelang dies in dem Maße und so lange, wie es expandieren konnte. Eine erfolgreiche Kriegspolitik und imperialistische Expansion hatten große Teile der Bevölkerung mit dem Semi-Absolutismus ausgesöhnt. Angesichts der erzielten materiellen Vorteile hatte der anomale Charakter der politischen Struktur keine entscheidende Bedeutung. Die Armee, die Bürokratie, die Industrie und die agrarischen Großgrundbesitzer herrschten. Die Theorie des Gottesgnadentums – die offizielle politische Doktrin – verschleierte lediglich diese Herrschaft und wurde nicht ernstgenommen. Die kaiserliche Herrschaft war in Wirklichkeit nicht absolutistisch, denn sie war an das Gesetz gebunden und stolz auf ihre ›Rechtsstaat‹-Theorie. Als ihrer expansionistischen Politik Einhalt geboten wurde, hatte sie ausgespielt und dankte ab.

Die Weimarer Demokratie schlug eine andere Richtung ein. Sie mußte ein verarmtes und erschöpftes Land wiederaufbauen, in dem sich die Klassengegensätze schroff ausgeprägt hatten. Sie versuchte, drei Elemente miteinander zu verschmelzen: das Erbe der Vergangenheit (insbesondere das Beamtentum), die parlamentarische Demokratie nach westeuropäischem und amerikanischem Muster und einen pluralistischen Kollektivismus, die direkte Eingliederung der mächtigen Sozial- und Wirtschaftsverbände in das politische System. Was sie jedoch tatsächlich hervorbrachte waren verschärfte soziale Antagonismen, den Zusammenbruch der freiwilligen Kooperation, die Zerstörung parlamentarischer Institutionen, das Wachstum einer herrschenden Bürokratie und die Wiedergeburt der Armee als eines entscheidenden politischen Faktors.

Warum?

In einem verarmten, doch hochindustrialisierten Land konnte der Pluralismus nur unter den folgenden – unterschiedlichen – Bedingungen funktionieren: Erstens ließ sich Deutschland mit ausländischer Hilfe wiederaufbauen, indem es seine Märkte auf friedlichem Wege, dem hohen Stand seiner industriellen Kapazität entsprechend, ausdehnte. Die Außenpolitik der Weimarer Republik ging in diese Richtung. Mit ihrem Beitritt zum Konzert der westeuropäischen Mächte hoffte die Weimarer Regierung, Konzessionen zu erhalten. Der Versuch scheiterte. Er wurde weder von der deutschen Industrie und den Großgrundbesitzern, noch von den Westmächten unterstützt. Im Jahr 1932 befand sich Deutschland in einer katastrophalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise.

Zweitens konnte das System auch dann funktionieren, wenn die herrschenden Gruppen freiwillig oder unter staatlichem Zwang Zugeständnisse machten. Das hätte für die Masse der deutschen Arbeiter zu einem besseren Leben und den Mittelstand zur Sicherheit geführt – auf Kosten der Profite und der Macht des Großkapitals. Die deutsche Industrie stemmte sich jedoch mit Entschiedenheit dagegen, und der Staat stellte sich mehr und mehr auf ihre Seite.

Die dritte Möglichkeit war die Umwandlung in einen sozialistischen Staat, und das war 1932 vollkommen irreal geworden, da die Sozialdemokratische Partei nur noch dem Namen nach sozialistisch war.

Die Krise von 1932 zeigte, daß politische Demokratie allein, ohne eine stärkere Ausnutzung der dem deutschen Industriesystem innewohnenden Möglichkeiten, d. h. ohne die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und ohne eine Verbesserung des Lebensstandards, nur eine leere Hülse blieb.

Die vierte Möglichkeit war die Rückkehr zur imperialistischen Expansion. Imperialistische Wagnisse im Rahmen der traditionellen demokratischen Form konnten jedoch nicht organisiert werden, denn die Opposition dagegen wäre zu stark gewesen. Sie konnten auch nicht die Form einer Restauration der Monarchie annehmen. Eine Industriegesellschaft, die eine demokratische Phase durchschritten hat, kann die Massen nicht aus ihren Erwägungen ausklammern. Daher nahm der neue Expansionismus die Form des Nationalsozialismus an, einer totalitären Diktatur, der es gelungen ist, einen Teil ihrer Opfer in Anhänger und das ganze Land in ein unter eiserner Disziplin gehaltenes bewaffnetes Lager zu verwandeln.

 

Erster Teil

Die politische Struktur des Nationalsozialismus

Einführende Bemerkungen über den Wert der nationalsozialistischen Ideologie

Die Ideologie des Nationalsozialismus bietet den besten Schlüssel zu seinen Endzielen. Sie zu studieren, ist weder sehr erfreulich noch einfach. Bei der Lektüre von Plato und Aristoteles, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua, Hobbes und Rousseau, Kant und Hegel fasziniert uns die innere Schönheit ihres Denkens, ihre Konsistenz und Eleganz so sehr wie die Art und Weise, in der ihre Lehren mit den sozio-politischen Gegebenheiten in Einklang stehen. Philosophische und soziologische Analysen greifen bei ihnen ineinander. Die nationalsozialistische Ideologie ist bar jeglicher inneren Schönheit. Der Stil ihrer lebenden Autoren ist abscheulich, die Konstruktionen sind wirr, eine Konsistenz ist nicht vorhanden. Jede Äußerung entspringt einer unmittelbaren Situation und wird verworfen, sobald die Situation sich ändert.

Der unmittelbare und opportunistische Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Doktrin und der Realität macht ein detailliertes Studium der Ideologie zwingend notwendig. Normalerweise müssen wir die Vorstellung, die Soziologie könne die Richtigkeit oder Falschheit eines Denksystems bestimmen, indem sie seine soziale Herkunft untersucht oder es einer bestimmten Klasse der Gesellschaft zuordnet, ablehnen. Aber im Falle der nationalsozialistischen Ideologie müssen wir uns auf soziologische Methoden stützen. Es gibt keine andere Möglichkeit, die Wahrheit zu ermitteln; am allerwenigsten geht sie aus den expliziten Äußerungen der »NS-Führer« hervor.

Die Weltherrschaft ist vielleicht nicht das bewußte Ziel des Nationalsozialismus, doch werden ökonomische und soziale Antagonismen ihn dazu treiben, seinen Machtbereich weit über die Grenzen Europas hinaus auszudehnen. Die doktrinären Elemente der Ideologie lassen keinen anderen Schluß zu, trotz allen Leugnens, ja sogar trotz der Tatsache, daß Hitler selbst eine weithin verbreitete Rede des Landwirtschaftsministers Darré, welche die Weltherrschaft als das Ziel des Nationalsozialismus verkündete, als eine »dumme und infame Lüge« denunzierte (siehe seine Neujahrsansprache an das deutsche Volk nach der Wiedergabe der Frankfurter Zeitung vom 1. Januar 1941). Um diese Behauptung zu beweisen, müssen wir jedes einzelne Element der Doktrin für sich analysieren.

Hinter einer Unmenge irrelevanten Kauderwelsches, von Banalitäten, Verdrehungen und Halbwahrheiten können wir das relevante und entscheidende zentrale Thema der Ideologie erkennen: daß alle traditionellen Lehren und Werte verworfen werden müssen, ob sie aus dem französischen Rationalismus oder dem deutschen Idealismus, dem englischen Empirismus oder dem amerikanischen Pragmatismus stammen, ob sie liberale oder absolutistische, demokratische oder sozialistische sind.1 Sie alle stehen dem fundamentalen Ziel des Nationalsozialismus feindlich gegenüber: die Diskrepanz zwischen den potentiellen und den bisherigen und gegenwärtig noch bestehenden Möglichkeiten des deutschen Industrieapparates durch einen imperialistischen Krieg zu lösen.

Bei den vom Nationalsozialismus negierten Werten und Begriffen handelt es sich um die philosophischen, juristischen, soziologischen und ökonomischen Kategorien, mit denen wir tagtäglich umgehen und die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Viele von ihnen, wie z. B. der Begriff der Staatssouveränität, der oft für reaktionär gehalten wird, enthüllen bei eingehender Analyse ihren progressiven Charakter und demonstrieren dadurch ihre Unvereinbarkeit mit dem Nationalsozialismus. Wir werden in unserer Untersuchung der nationalsozialistischen Ideologie jedes einzelne Element für sich aufgreifen und seine aktuelle Funktion innerhalb der politischen, soziologischen, juristischen und ökonomischen Struktur des Regimes aufzeigen. Die hierbei entwickelten Kategorien entsprechen nicht unbedingt den entscheidenden Wachstumsphasen der nationalsozialistischen Ideologie, wenngleich einige davon mit ihnen übereinstimmen.

In ihrer äußeren Form, als Propaganda, unterscheidet sich die totalitäre Ideologie von demokratischen Ideologien nicht nur, weil sie als einzige und ausschließliche auftritt, sondern weil sie mit Terror verschmolzen ist. Im demokratischen System tritt eine Ideologie als eine von vielen auf. Tatsächlich impliziert der Begriff »Ideologie« selbst ein Konkurrenzverhältnis zwischen verschiedenen Denkstrukturen innerhalb der Gesellschaft. Die nationalsozialistische Doktrin kann nur insofern als »Ideologie« bezeichnet werden, als sie auf dem Weltmarkt der Ideen gewissermaßen mit anderen Ideologien konkurriert, obwohl sie sich auf dem inneren Markt natürlich als einzig und souverän darstellt. Die demokratische Ideologie ist dann erfolgreich, wenn sie überzeugend oder anziehend ist; die NS-Ideologie überzeugt durch die Anwendung von Terror. Gewiß wachsen auch in Demokratien denjenigen materielle Vorteile zu, die die herrschende Ideologie akzeptieren und nicht bei Gelegenheit Gewalt erdulden müssen; doch gestattet das demokratische System zumindest die Kritik dieser Allianz und bietet konkurrierenden Elementen und Kräften eine Chance.

Der Nationalsozialismus hat keine Theorie der Gesellschaft in unserem Sinne, keine konsistente Vorstellung ihrer Funktionsweise, Struktur und Entwicklung. Er will bestimmte Ziele durchsetzen und paßt seine ideologischen Äußerungen einer Reihe von ständig wechselnden Schritten an. Dieses Fehlen einer grundlegenden Theorie ist ein Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus. Die nationalsozialistische Ideologie verändert sich ständig. Sie besitzt zwar gewisse magische Überzeugungen – Führerkult, Oberherrschaft der Herrenrasse – aber die Ideologie ist nicht in einer Reihe von begrifflich bestimmten Lehrsätzen festgelegt.

Darüber hinaus gestatten uns die Veränderungen seiner Ideologie, zu bestimmen, ob es dem Nationalsozialismus gelungen ist, die Sympathie des deutschen Volkes zu gewinnen. Denn wo ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erklärten Ideologie und der politischen Realität besteht, müssen Veränderungen der formulierten Doktrin aus der Tatsache hervorgehen, daß die frühere Doktrin auf bestimmte Schichten der deutschen Bevölkerung keine Anziehungskraft ausgeübt hat.

I. Der totalitäre Staat

1. Die Techniken antidemokratischer Verfassungstheorie

Das Scheitern des Kapp-Putsches im Jahr 1920 und des Hitler-Putsches 1923 lehrte die Nationalsozialisten, daß der coup d’état in unserer Welt keine geeignete Technik zur Ergreifung der politischen Macht darstellt. Curzio Malaparte schrieb ein in breiten Kreisen gelesenes Buch zur Rechtfertigung des Staatsstreiches.1 Er meinte, daß der Weg zu einer erfolgreichen Revolution im Griff einer kleinen Gruppe von Stoßtrupps und hochgeschulten Verschwörern nach den Schlüsselpositionen des Staatsapparates besteht. Zum Beweis führte er die Russische Revolution von 1917, den Kapp-Putsch, die Machtergreifung der Faschisten in Italien, den Streich von Pilsudski in Polen und Primo de Rivera in Spanien an. Die Wahl seiner Beispiele hätte kaum schlechter sein können. Der Erfolg der Bolschewistischen Revolution kann zum Teil Praktiken nach der Art Malapartes zugeschrieben werden, aber noch weit mehr der Tatsache, daß die Kerenskij-Regierung schwach war und sich die russische Gesellschaft in voller Desintegration befand. Der Kapp-Putsch war ein Fehlschlag, Mussolinis »Marsch auf Rom« ein Mythos. Ähnlich steht es mit der gleichermaßen untauglichen militärischen Theorie, eine hochtrainierte, mit den modernsten Waffen ausgerüstete Armee sei einer großen Massenarmee notwendig überlegen. Die Siege der Deutschen im gegenwärtigen Krieg waren das Ergebnis der gewaltigen militärischen Übermacht einer Massenarmee, vereint mit hochmechanisierten Stoßtrupp-Divisionen – und ebenso der moralischen Zerrüttung ihrer Gegner.

Leider irrte Malaparte, als er 1932 voraussagte, daß Hitler, den er als »Möchtegern-Führer« apostrophierte, als »bloße Mussolini-Karikatur«, niemals an die Macht käme, weil er sich ausschließlich auf opportunistische parlamentarische Methoden verlasse. Natürlich hatten die Nationalsozialisten recht und Malaparte unrecht. In seiner Gedenkrede vom 8. November 1935 gab Hitler selbst zu, daß sein früher Putsch ein Fehler war: »Das Schicksal aber hat es dann gut gemeint mit uns. Es hat eine Aktion nicht gelingen lassen, die, wenn sie gelungen wäre, am Ende an der inneren Unreife der Bewegung und ihrer damaligen mangelhaften organisatorischen und geistigen Grundlagen hätte scheitern müssen. Wir wissen das heute! Damals haben wir nur männlich und tapfer gehandelt. Die Vorsehung aber hat weise gehandelt.«

Nach dem Münchener Fiasko ist die Nationalsozialistische Partei eine »legale« geworden. Sie gelobte feierlich, nicht zum Hochverrat oder einem revolutionären Umsturz der Verfassung aufzurufen. Als Zeuge bei einem Prozeß gegen des Hochverrats angeklagte nationalsozialistische Reichswehroffiziere schwor Hitler am 25. September 1930 seinen berühmten »Reinheitseid«, den Legalitätseid. Die Sturmtruppen, die SA, wurden als harmlose Sport- und Parade-Verbände ausgegeben. Kaum eine politische Partei bestand lautstärker als die Nationalsozialisten auf der Wahrung der bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Gleichheit.

Jedes Instrument der parlamentarischen Demokratie, jede liberale Institution, Gesetzesbestimmung, soziale und politische Regel wurde zur Waffe gegen Liberalismus und Demokratie; jede Gelegenheit wurde wahrgenommen, die Ineffizienz der Weimarer Republik mit Hohn zu überschütten. Die folgenden Äußerungen sind eine bescheidene Auswahl von Anklagen wider Liberalismus und Demokratie, die allein den Schriften nationalsozialistischer Professoren entnommen sind (die Schimpfkanonaden der Parteiredner können der Phantasie überlassen bleiben):

Der liberale Staat ist »neutral und negativ«, eine bloße Maschinerie; er ist, um es mit Lassalle zu sagen, ein »Nachtwächterstaat«. Daher ist er »ohne Substanz«, unfähig, eine Entscheidung zu fällen oder zu bestimmen, was gut oder böse, gerecht oder ungerecht ist. Die Idee der Freiheit ist zur Anarchie verkommen. Zersetzung und Materialismus greifen um sich. Und das marxistische Ideal, nur eine Spielart des Liberalismus, ist nicht besser.

Demokratie ist die Herrschaft der »unorganisierten Masse«, einer Summe von Robinson Crusoes, aber nicht von Menschen. Ihr Prinzip ist das »Nasenzählen«, und ihre Parlamente, von privaten Gruppen beherrscht, sind Arenen brutaler Machtkämpfe. Das Recht dient nur privaten Interessen, der Richter ist nichts anderes als eine Maschine. Liberalismus und Recht schließen in Wirklichkeit einander aus, wenngleich sie aus Gründen der Zweckmäßigkeit vorübergehend ein Bündnis eingegangen sind. Mit einem Wort, Liberalismus und Demokratie sind Ungeheuer, man könnte sagen: »negative« Leviathane, so stark, daß sie imstande waren, die Institution des germanischen Rassenerbes zu korrumpieren.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß der Nationalsozialismus während der 20er und frühen 30er Jahre einfach mit dem Ziel angetreten ist, die Wertlosigkeit der Demokratie zu beweisen oder einen Ersatz anzubieten: Monarchie oder Diktatur oder sonst irgend etwas. Ganz im Gegenteil brüstete er sich, der Retter der Demokratie zu sein. Carl Schmitt, der Ideologe dieses Schwindels, entwickelte dies folgendermaßen:

Die Weimarer Republik beruht auf zwei Prinzipien, dem demokratischen und dem liberalen, rechtsstaatlichen, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Demokratie bezieht sich auf den Grundsatz der Identität von Regierenden und Regierten. Gleichheit, nicht Freiheit ist ihre Substanz. Gleichheit kann es nur innerhalb einer vorhandenen Gemeinschaft geben, und die Basis für beide, Gemeinschaft und Gleichheit, kann unterschiedlich sein. Wir können Gleichheit von der physischen oder moralischen Homogenität der Gemeinschaft ableiten, wie die Tugend, die Montesquieu als das Prinzip einer Republik bezeichnete. Oder Gleichheit kann von einer religiösen Übereinstimmung herrühren, wie sie der demokratischen Ideologie der Levellers in der puritanischen Revolution zugrunde lag. Seit der Französischen Revolution ist nationale Homogenität die Basis. Rousseau, der diesen Begriff prägte und darauf das einzige wahrhaft demokratische System errichtete, hat unter nationaler Homogenität die Einstimmigkeit verstanden.2 Sein Begriff des allgemeinen Willens läßt daher keine politischen Parteien zu, da Parteien, wie schon ihr Name zeigt, nur den Willen eines Teils zum Ausdruck bringen. Ein wahrhaft demokratisches System wird also die völlige Identität von Regierenden und Regierten ausdrücken.3

 

Parlamentarismus ist nicht identisch mit Demokratie, sondern lediglich eine ihrer historischen Formen. Die Hauptprinzipien des Parlamentarismus sind öffentliche Diskussion, Teilung der Gewalten und Allgemeinheit des Gesetzes. Die öffentliche Debatte verlangt, daß die Instanzen politischer Macht sich der Diskussion als eines Mittels der Wahrheitsfindung aussetzen. Die öffentliche Debatte ermöglicht der Bürgerschaft die Überwachung und Kontrolle ihrer Vertreter. Aber, sagt Schmitt, die Praxis stimmt nicht mehr mit der Theorie überein. Die parlamentarische Debatte ist heute nichts weiter als ein Mittel, die zuvor außerhalb gefällten Entscheidungen zu registrieren. Jeder Abgeordnete ist durch starre Parteidisziplin gebunden. Er würde nicht wagen, sich von einem Gegner umstimmen zu lassen. Die parlamentarische Debatte ist ein Betrug. Die Reden werden nur für das Protokoll gehalten. Da die wichtigsten Entscheidungen in geheim tagenden Ausschüssen oder in informellen Verhandlungen zwischen den herrschenden Gruppen fallen, ist die Öffentlichkeit der Debatte selbst leerer Schein.

Der Grundsatz der Gewaltenteilung beschränkt das Parlament auf die Gesetzgebungsfunktion, mit anderen Worten, auf die Verabschiedung abstrakter, allgemeiner Regeln. Wieder hat sich die Praxis von der Theorie entfernt. Das Parlament ist nicht mehr ausschließlicher Gesetzgeber; es ist sogar eher eine Administration, und dazu noch eine untaugliche. Im Zeitalter des Monopolkapitalismus sind allgemeine Gesetze zu einem Mittel geworden, individuelle Entscheidungen zu verschleiern. Die Homogenität des Volkes ist so gut wie nicht vorhanden. Das pluralistische System hat an die Stelle der einen Grundbindung an die Nation eine Vielzahl von Bindungen gesetzt. Die Polykratie, d. h. die nebeneinander stehenden, unabhängigen öffentlichen Organe (Sozialversicherungsinstitutionen, Aufsichtsämter, staatseigene Wirtschaftsunternehmen usf.), die keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen, hat die Einheitlichkeit der politischen Entscheidungen zerstört. Sie hat viele der lebenswichtigen Glieder vom Staatskörper abgetrennt. Das föderative Prinzip, mit seinem Schutz partikularistischer Interessen, spricht dem Gedanken des einen Volkes Hohn.

Bürgerliche Freiheiten und unveräußerliche Rechte schließlich sind die Negation der Demokratie. Rousseau hätte bereits auf diesen Punkt, zumindest implizit, hingewiesen; denn die Theorie des Gesellschaftsvertrages besage, daß der Bürger mit Abschluß des Vertrages seine Rechte veräußert. Die traditionellen persönlichen und politischen Freiheiten waren ein Produkt des Konkurrenzkapitalismus. Dieses Zeitalter ist nun vorbei, und der Kapitalismus ist in die Phase des Interventionismus, des Monopolkapitalismus und Kollektivismus eingetreten. Da Gewerbe- und Vertragsfreiheit verschwunden sind, verloren auch ihre Folgegarantien, Rede- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Freiheit gewerkschaftlicher Organisation, ihre Bedeutung.4

Es ist ein interessantes Paradox, daß diese antidemokratische Analyse, darauf abgestellt, die Bedeutung der Grundrechte auf ein Minimum zu beschränken, sie zugleich gewaltig hervorhob, indem sie diese in Bollwerke der Verteidigung des Privateigentums gegen staatliche Eingriffe verwandelte und ihnen eine verfassungsmäßige Funktion zuschrieb, die der deutschen Tradition völlig fremd war.5 Zahllose Bücher, Pamphlete und Reden denunzierten die parlamentarischen Institutionen als ineffizient, undemokratisch und korrupt. Die bürokratische Ideologie war der unmittelbare Nutznießer. Die Rechtsprechung wurde zur obersten politischen Funktion erhoben, und trotz all der Angriffe auf die pluralistischen, polykratischen und föderativen Ursachen der Zerrüttung wurde jede Kritik am unabhängigen politischen Status der Armee peinlich vermieden. Die Grundrechte wurden als mit der demokratischen Weltanschauung unvereinbar erklärt, während zugleich den Grundrechten auf Eigentum und Gleichheit eine so umfassende und tiefe Bedeutung zugemessen wurde, wie diese sie nie zuvor besessen hatten.

Das logische Resultat dieses vorsätzlichen Manövers war der Ruf nach einem starken Staat, der in dem Wahlspruch gipfelte: »Alle Macht dem Präsidenten«. Der Präsident, so wurde unterstellt, ist eine wahrhaft demokratische Institution: Er ist vom Volk gewählt. In seinen Händen, als dem einzig wahren pouvoir neutre et intermédiaire, sollten legislative und exekutive Gewalt konzentriert sein. Die Neutralität des Präsidenten sei nicht bloß Farblosigkeit, sondern eine wahrhaft objektive Stellung über den kleinlichen Streitigkeiten der zahlreichen Interessen, öffentlichen Organe und Länder.6

So sah die Grundhaltung aus, die sich hier offenbarte, der Dezisionismus Carl Schmitts7, die Forderung zu handeln statt abzuwägen, zu entscheiden statt zu berechnen. Der Dezisionismus basiert auf einer eigentümlichen, doch überaus attraktiven Lehre vom Wesen der Politik, die große Ähnlichkeit mit dem revolutionären Syndikalismus von Georges Sorel hat. Das Politische, so erklärte Schmitt, ist ein Freund-Feind-Verhältnis. Der Feind ist letzten Endes jener, der physisch vernichtet werden muß. In diesem Sinne kann jede menschliche Beziehung eine politische werden, denn jeder Gegner kann zu einem physisch zu vernichtenden Feind werden. Das Gebot des Neuen Testaments, daß man sogar seine Feinde lieben soll, bezieht sich nur auf den privaten Feind, inimicus, nicht auf den öffentlichen Feind, hostis.8 Dies ist eine Doktrin, die sich gegen jeden Aspekt und jeden Akt liberaler Demokratie und gegen unseren gesamten traditionellen Begriff der Herrschaft des Gesetzes wendet.

Dagegen gerichtete Theorien waren entweder ohne Einfluß oder aber spielten der antidemokratischen These in die Hände. Die Kommunisten zum Beispiel brandmarkten die Verfassung als Verschleierung der kapitalistischen Ausbeutung und als politischen Überbau einer monopolkapitalistischen Wirtschaft. In Wirklichkeit verschleierte die Weimarer Verfassung gar nichts. Ihr Kompromißcharakter, die Abreden der Interessen, der unabhängige Status der Reichswehrbürokratie, die offen politische Rolle der Justiz waren sämtlich klar erkennbar. Verfassungstheorie und -praxis enthüllten die Schwäche der demokratischen Kräfte und die Stärke ihrer Gegner. Ganz ebenso offenbarten sie, daß die Weimarer Verfassung ihre Existenz weit mehr der Duldung ihrer Feinde als der Stärke ihrer Anhänger verdankte. Das Fehlen jeglicher allgemein anerkannter Verfassungslehre, selbst wenn sie bloßer Schein und eine reine Fiktion gewesen wäre, sowie der konsequent öffentliche Charakter der fundamentalen Antagonismen waren gerade die Faktoren, die den Übergangsstatus der Verfassung bestätigten und die Bildung einer dauerhaften Loyalität verhinderten.

Der sozialistischen Verfassungstheorie mißlang es, eine spezifisch sozialistische Lehre zu entwickeln. Genau wie Carl Schmitt verurteilte sie die Weimarer Verfassung wegen des Fehlens einer Entscheidung.9 Sie gestand der Verfassung nicht einmal eine Kompromißqualität zu, sondern meinte, daß die unvereinbaren Interessen und Positionen ohne jede Integration nebeneinander stünden. Jede Verfassung, an geschichtlichen Wendepunkten erlassen, so urteilten die Sozialisten, muß ein bestimmtes Aktionsprogramm verkünden und eine neue Gesellschaftsordnung organisieren. Da die Weimarer Verfassung keine eigenen Ziele hatte, ließ sie die verschiedensten Wertsysteme zu.